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Das Ergebnis einer langen Geschichte

Wie der Hamas-Überfall und Israels Krieg gegen Palästina gesehen werden, hängt vom jeweiligen Standpunkt ab. Ein Plädoyer für das Erkennen historischer Zusammenhänge

Illustration: Katja Gendikova

Von Karim El-Gawhary

Jede Betrachtung hat einen Anfangspunkt. Manchmal ist der nicht ganz eindeutig. Dann kommen das Huhn und das Ei ins Spiel. Wofür wir uns auch immer entscheiden: Der Anfangspunkt formt unsere Sichtweise und bestimmt, welche Schlussfolgerungen wir ziehen. Nehmen wir den 7. Oktober 2023, den Tag des Hamas-Massakers im Süden Israels. Die damalige deutsche Außenministerin Annalena Baerbock bezeichnete diesen blutigen Tag als „eine Zäsur für Israel, für unser Land, für die Welt“. Und bei der Bundeszentrale für Politische Bildung heißt es: „Der Tag wird von jüdischen Communitys als ,Einschnitt‘ beschrieben, der das Leben grundlegend verändert hat. Viele beginnen ihre Erzählungen genau mit der Erinnerung an diesen Tag, der für sie einen historischen Beginn oder Bruch in ihrer Geschichte darstellt. Eine Zäsur, ein Bruch, sogar der Beginn der Geschichte – eben ein Punkt, von dem aus man alles bewerten sollte, das anschließend geschieht.

Aus palästinensischer Perspektive ist der 7. Oktober dagegen kein isolierter Anfang, sondern das Ergebnis einer langen Serie von Ungerechtigkeiten, die ihnen widerfahren sind. Sie setzen ihn in den Kontext einer brutalen israelischen Besetzung und der 16-jährigen völligen Isolierung des Gazastreifens vom Rest der Welt. Auch nach dem Abzug der Siedler und der israelischen Armee 2005 gilt der Gazastreifen als besetztes Gebiet, da Israel seitdem die Land- und Seegrenzen sowie den Luftraum kontrolliert – so urteilte im vergangenen Jahr der Internationale Gerichtshof in Den Haag. Die palästinensische Akademikerin Yara Hawari sieht es so: „Um den 7. Oktober zu verstehen, muss man zuerst Jahrzehnte israelischer Besatzung, den Siedler-Kolonialismus und die 16-jährige brutale Blockade Gazas verstehen, der den Streifen in ein Freiluftgefängnis verwandelt hat.“ Und Noura Erakat, eine der eloquentesten Stimmen einer jüngeren palästinensischen Generation, die in den USA lebt, meint: „Die Ereignisse des 7. Oktober können nicht isoliert betrachtet werden. Die Palästinenser kämpfen unter einem Regime des Siedlerkolonialismus, das ihnen grundlegende Rechte verweigert und sie ungestraft bombardiert. Am 7. Oktober wurde kein Frieden gestört, stattdessen hat sich der Kreis kolonialer Gewalt geschlossen.“

Zweifellos gibt es heute zwei traumatisierte Seiten – eine israelische und eine palästinensische. Und durch welches Traumaprisma geblickt wird, das bestimmt auch, wo jeweils der Anfangspunkt gesetzt wird. Im Trauma gibt es keinen richtigen oder falschen Anfangspunkt. Bei der Analyse aber schon. Denn er bestimmt, welche Schlussfolgerungen daraus gezogen und – noch wichtiger – welche Lösungen gesucht werden. Wird der falsche Anfangspunkt gesetzt, zieht man nicht die richtigen Schlussfolgerungen – und die angestrebte Lösung ist keine.

Wird der 7. Oktober als Bruch oder gar als Anfang der Geschichte gesehen, wird alles von diesem Punkt aus gedacht und bewertet, der brutale Überfall der Hamas wird in keinen Kontext gesetzt. Die Schlussfolgerung kann also nur sein: Man muss nur die Hamas zerstören, dann ist die Welt wieder in Ordnung. Genau das propagiert der israelische Premier Benjamin Netanjahu und hat es als sein Kriegsziel formuliert. Unter diesem Diktum rechtfertigt er jetzt den Gaza-Deal, den er mit dem US-Präsidenten Donald Trump ausgehandelt hat. Dabei stellen sich zwei Fragen: Ist das ein realistisches Ziel? Sollte der Deal tatsächlich gelingen, ist das Problem dann gelöst?

Beide Fragen kann man mit Nein beantworten. Zwei Jahre lang hat die israelische Armee weite Teile des Gazastreifens dem Erdboden gleichgemacht, Hunderttausende vertrieben, Hunger als Waffe eingesetzt. Trotz ihrer militärischen Überlegenheit ist es nicht gelungen, die Hamas auszuschalten. Im Gegenteil: Was im Gazastreifen geschieht, kann man nur als ein gigantisches Radikalisierungsprogramm der Palästinenser verstehen. Wie wird sich ein Kind, das heute nach einem israelischen Angriff aus den Trümmern eines Hauses geborgen wird und dessen Eltern tot unter den Trümmer liegen, später politisch positionieren? Die vermeintliche militärische Lösung ist keine.

Das gilt ebenso, wenn durch einen Deal wie dem aktuellen die Hoffnung besteht, dadurch die Hamas auszuschalten. Solange die Bedingungen der Besetzung weiter bestehen, so lange wird sich dagegen Widerstand formieren. Selbst wenn es die Hamas nicht mehr gibt, wird eine andere Organisation, deren Namen wir heute noch nicht kennen, das Hamas-Erbe weiterführen.

Foto: privat

Karim El-Gawhary

ist Nahostkorrespondent der taz mit Sitz in Kairo. Als Buch von ihm erschien zuletzt „Repression und Rebellion“ (Wien, 2020).

Wenn man hingegen – von einem anderen Ausgangspunkt – die Geschichte als fortlaufenden Prozess betrachtet, als einem, in dem jede Entscheidung, jede Aktion und selbst jeder vermeintliche Bruch aus dem vorherigen Kontext entstanden ist, dann zieht man aus dem 7. Oktober völlig andere Schlüsse. Die wiederum zu anderen Lösungen führen. Dann nämlich stellt nicht der 7. Oktober, sondern die israelische Besetzungspolitik den Kern des Problems dar. Dabei ist die Vorstellung einer friedlichen Besetzung, gegen die sich die Besetzten nicht wehren, ein Widerspruch in sich. Sie können das mit zivilem Ungehorsam tun, nur ist es die palästinensische Erfahrung, dass niemand zuhört, wenn sich ein palästinensischer Bauer im Westjordanland an seinen Olivenbaum kettet, um zu verhindern, dass ihm sein Land genommen wird. Es gibt im Deutschen einen Unterschied zwischen Verständnis und Verstehen. Die Palästinenser haben in ihrer Geschichte vor allem dann Aufmerksamkeit bekommen, wenn sie sich militanter und terroristischer Mittel bedient haben – vom Olympia-Attentat und den Flugzeugentführungen in den 1970er Jahren bis zu den Hamas-Anschlägen auf Busse in Israel in den 1990er Jahren. Es darf kein Verständnis für solche brutalen Anschläge auf Zivilisten geben, aber man sollte sich die Mühe machen zu verstehen, welcher Logik diese entspringen. Nur wenn diese Logik verstanden wird, kann man den richtigen Ansatz finden, um diese Situation nachhaltig zu verändern.

Auch die Hamas-Angriffe des 7. Oktober entsprangen dieser Logik. Sie wurden in einer Zeit geplant, als das Schicksal der Palästinenser vergessen wurde. Der Status quo ihrer täglich erlebten Besetzung war in Medien weltweit und selbst in Israel kein großes Thema mehr. Selbst einige arabische Staaten, darunter die Vereinigten Arabischen Emirate, nahmen unter Anleitung des US-Präsidenten vor fünf Jahren sogar diplomatische Beziehungen zu Israel auf, einschließlich einer Freihandelszone und Visafreiheit. Die Besetzung und die Palästinenser waren dabei nicht einmal eine Fußnote wert – bis sie am 7. Oktober ganz oben auf die internationale Tagesordnung rutschten. Der Überfall verdient keinerlei Verständnis, verstehen sollte man diesen Mechanismus trotzdem.

Zurück zur Kernfrage des Anfangspunkts. Wenn man die israelische Besetzung als Kontext des 7. Oktober sieht, begreift man die Hamas als ein direktes Produkt dieser Besetzungspolitik. Sie wurde nicht im luftleeren Raum geboren, sie ist ein Teil der palästinensischen Militanz, die wiederum in dieser Besetzungslage entstand. Eine Militanz, deren Logik viele Palästinenser aus Mangel an politischen Perspektiven folgen. „Die Gewalt ist ein Produkt jahrelanger kolonialer Unterdrückung und nicht angeborener Wildheit und Grausamkeit. Die Menschen explodieren. Sie werden zur Explosion gebracht, von einem System, das ihr Leben entwertet hat“, schrieb der prominente palästinensische Intellektuelle Edward Said – lange vor dem 7. Oktober.

Zweifellos gibt es heute zwei traumatisierte Seiten. Durch welches Trauma­prisma geblickt wird, bestimmt, welche Lösungen gefunden werden

Es wird immer militante Antworten auf diese Besetzungspolitik geben, wenn es für die Palästinenser keine politischen Perspektiven gibt, wenn sie keine Rechte erhalten. Daran wird sich am Ende auch der Trump-Gaza-Deal messen lassen müssen. Der Kern der Lösung ist also ein Ende der Besetzung. Nur damit kann der Hamas und allen anderen militanten Antworten darauf der politische Teppich unter den Füßen weggezogen werden.

Das Trauma aber bleibt auf beiden Seiten. Es zerstört die Köpfe der Besetzten und der Besatzer. Und es kann den Blick zu einem Anfangspunkt versperren, aus dem trügerische Schlussfolgerungen gezogen werden, die zu viel Leid und unrealistischen Kriegszielen, aber nie zu einer Lösung führen. Es sind nicht die vermeintlichen Brüche, sondern die Zusammenhänge, die es zu verstehen gilt. Es ist der Kontext, der den Schlüssel zur Lösung darstellt. Vielleicht ist es Gideon Levi, Journalist der israelischen Tageszeitung Haaretz, dem es gelingt, alles in einem einzigen Satz zusammenzufassen: „Es gibt keinen israelisch-palästinensischen Nahostkonflikt“, sagt er: „Es gibt nur eine brutale israelische Besetzung und die muss beendet werden.“

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