Darnell Summers im Visier der US-Justiz: Lebenslang verdächtig
Die Klage gegen Darnell Summers ist zweimal abgewiesen worden. Doch US-Behörden ermitteln immer weiter gegen ihn – wegen Mordes an einem Polizisten vor 52 Jahren.
I m Oktober 2020 fliegt Darnell Summers nach Detroit, um einen Film über die US-Wahl zu drehen. Kaum aus dem Flugzeug ausgestiegen, fangen die Probleme an. „Hatten Sie je Ärger mit der Polizei?“, hätten die Grenzbeamten ihn gefragt. Summers Antwort: „Natürlich.“ Als er darauf in einen kleinen Raum geführt und befragt wird: „Was haben Sie im Iran gemacht? Wie sind Ihre Beziehungen zur kurdischen Separatistenbewegung?“, sagt er nichts mehr. Nach einer Dreiviertelstunde hätten die Grenzer ihn gehen lassen: „Aber ich wusste, etwas ist faul.“
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Summers wohnt in Berlin. Auf einer Bank in einem Kreuzberger Hinterhof erzählt der US-amerikanische Vietnamveteran, Antikriegsaktivist, Musiker und Dokumentarfilmer, wie die Polizei einen Tag später vor dem Haus eines Freundes in Detroit stand, bei dem er untergekommen war. „Zwei weiße Polizisten von der Michigan State Police“ wollten ihm Fragen zum Mord an dem Polizisten Robert Gonser im Jahr 1968 stellen. Seine Antwort: „Ich weiß nichts über den Mord.“ Da sei endgültig klar gewesen, dass es Ärger gibt.
Schon zweimal wurde die Klage gegen Summers wegen dieses Mordes abgewiesen. 1969 und 1984 war das. Es gebe, beschied ein Richter 1984, keinen „faktischen, juristischen oder ethischen Grund, an der Anklage festzuhalten“. Trotzdem ermittelt die Polizei nun erneut gegen Summers. Und kann es. Nach US-amerikanischem Recht kann er so oft angeklagt werden, bis ein Gericht entscheidet, den Fall für immer einzustellen. „Seit 52 Jahren geht das so.“
Robert Gonser, der erschossene Polizist, war Mitglied des Red Squad, einer Spezialeinheit, die Protestbewegungen wie die schwarze Bürgerrechtsbewegung unterwanderte. Er war 1968 bei einem Einsatz in Inkster, Detroit, im Bundesstaat Michigan, erschossen worden. In der Nähe des Malcolm-X-Centers, einem von schwarzen Bürgerrechtlern übernommenen Kulturzentrums.
Augenzeugen sagten, die Schüsse seien von vier schwarzen Männern aus einem Auto abgefeuert worden. Auto und Tatwaffe wurden nie gefunden, die Täter nie ermittelt. Von den vier Verdächtigen, die die Polizei zuletzt im Visier hatte, lebt nur noch Darnell Summers.
DNA-Probe nach 52 Jahren genommen
Wenige Tage, nachdem die Polizisten zum Haus seines Freundes in Inkster gekommen waren, wird Summers an einer Tankstelle von anderen Beamten angesprochen. Sie konfiszieren sein Handy und nehmen eine Speichelprobe ab. Auf Nachfrage der taz bestätigt Michael A. Shaw, Sprecher der Michigan State Police, den Vorgang, meint aber, die Ermittlungen seien ordnungsgemäß abgelaufen: „Es lag ein richterlicher Beschluss vor“, sagt Shaw. „Der Mörder von Gonser wurde nie inhaftiert. Ehe das der Fall ist, ermitteln wir mit der nun vorliegenden DNA weiter.“
So eine DNA-Probe macht nur Sinn, wenn es Beweisgegenstände gibt, die für einen DNA-Abgleich taugen. Laut der alten Akten aber, meint der US-amerikanische Anwalt Eric Seitz, der Darnell Summers in den 1980er Jahren vertrat, sei so ein Gegenstand nie gesichert worden. Die Anklagen in den 1960er und 1980er Jahren fußten allein auf später zurückgezogenen Aussagen Mitbeschuldigter.
Summers Stimme, sonst ruhig, überschlägt sich, als er von der DNA-Entnahme erzählt. „Die DNA-Entnahme hat sich wie eine Vergewaltigung angefühlt. Und mein Handy wegzunehmen war eine Verletzung meiner Persönlichkeitsrechte.“ Sein Anwalt sieht das genauso. Um ein Handy konfiszieren zu können, so Jeffrey Edison, müsse die Polizei den Verdacht begründen, dass sich darauf Informationen befinden, die in direktem Zusammenhang mit der Tat stehen: „Zum Tatzeitpunkt aber gab es keine Mobiltelefone. Ich würde gerne die eidesstattliche Begründung sehen.“
Darnell Summers und seine Unterstützer*innen, darunter Anwälte und Aktivisten von „Detroit will Breathe“, einer Bewegung gegen Polizeigewalt gegen Schwarze, machten die Ermittlungen im November 2020 publik. Sie meinen: Die Art, wie seit Ende der 1960er Jahre gegen Darnell Summers ermittelt wird, ist Polizeiterror. Jeffrey Edison von der Vereinigung schwarzer Anwälte erklärte: „Polizeibrutalität hat viele Facetten. Die Überwachung von Summers ist eine Manifestation des Terrors.“
Zeugen ziehen ihre Aussagen zurück
Die zwei Prozesse gegen Darnell Summers liegen Jahrzehnte zurück. Beim ersten im Jahr 1969 beschuldigen zwei der vier Verdächtigten, Milford Scott und Gail Simmons, die anderen beiden, Darnell Summers und Carl Leroy James. Scott gilt als Kronzeuge und bekommt für die Aussage Straffreiheit in einer weiteren Mordanklage. Beide Mitbeschuldigten ziehen ihre Aussagen letztlich wieder zurück und sagen, sie wüssten von nichts.
14 Jahre später wird erneut gegen Summers ermittelt, weil nun Gail Simmons, die in der Zeit wegen eines Drogendelikts im Gefängnis sitzt, als Kronzeugin gegen ihn aussagt. Summers wird von Deutschland in die USA ausgeliefert. Danach macht Belastungszeugin Simmons öffentlich, dass sie ein von der Polizei verfasstes Statement unterschrieben habe, um aus dem Gefängnis zu kommen. Daraufhin bestellt die Anklage erneut Milford Scott als Kronzeugen ein, der zu diesem Zeitpunkt wegen eines dritten Mordes im Gefängnis sitzt und sich bei seiner Aussage erneut in so viele offensichtliche Lügen verstrickt, dass es gar nicht erst zum Prozess kommt.
Die Tat Fast ein Jahr nach der Tötung von George Floyd bei einem Polizeieinsatz in den USA begann am Montagnachmittag das Hauptverfahren gegen den Ex-Polizisten Derek Chauvin. Ihm drohen bis zu 40 Jahre Haft. Die Beamten hatten Floyd wegen des Verdachts festgenommen, mit einem falschen 20-Dollar-Schein bezahlt zu haben.
Die Anklage Chauvin muss sich wegen Mordes zweiten Grades ohne Vorsatz verantworten. Nach deutschem Recht entspräche dies eher Totschlag. Zudem wird Chauvin Mord dritten Grades vorgeworfen, worauf bis zu 25 Jahre Haft stehen. Auch muss er sich wegen Totschlags zweiten Grades verantworten, worauf zehn Jahre Haft stehen. Der Ex-Polizist ist derzeit auf Kaution frei.
Die Verteidigung Chauvin hat auf „nicht schuldig“ plädiert. Seine Verteidiger erklären, der Einsatz sei gerechtfertigt gewesen, weil Floyd Widerstand geleistet habe.
Weitere Verfahren Neben Chauvin sind drei weitere am Einsatz gegen Floyd beteiligte Ex-Polizisten angeklagt, die in einem separaten Verfahren ab August vor Gericht stehen werden. (dpa, taz)
Dass Deutschland bei dieser juristischen Scharade mitspielte und ihn auslieferte, verletzt Summers bis heute. „Meine Rechte wurden auch hier mit Füßen getreten.“
Darnell Summers: Vom Bürgerechtler zum Soldaten
Darnell Summers Biografie ist alles anders als glatt. Er war 21 Jahre alt, als er 1968 ins Fadenkreuz der Ermittlungen geriet. Das Jahr war geprägt von Protesten gegen den Vietnamkrieg und einem Aufbegehren der schwarzen Bürgerrechtsbewegung. Die Rassentrennung war erst 1964, also vier Jahre zuvor, abgeschafft worden. 1965 war Malcolm X erschossen worden, im April 1968 Martin Luther King.
Summers stammt aus einer schwarzen Mittelschichtsfamilie. Seine Eltern hatten ihm und seinem Bruder eine gute Bildung ermöglicht. Wie Millionen anderer Schwarzer wollten sie ihren Kindern ein besseres Leben bieten. „Sie glaubten“, so Summers, „an den amerikanischen Traum: Man muss nur hart arbeiten, die Ausbildungsmöglichkeiten nutzen und ein musterhafter Bürger sein.“
Angeregt von seiner Großmutter, die ihn zu einer Rede von Martin Luther King mitnahm, engagierte sich Summers schon als Jugendlicher in der Antikriegsbewegung und der schwarzen Bürgerrechtsbewegung. Trotzdem ging er mit 19, nach der Trennung von seiner Jugendliebe, zur Armee. So wie andere aus Verzweiflung in die französische Fremdenlegion gegangen seien, habe er in der Armee die einzige Chance gesehen, seiner Ex-Freundin, der kleinen Stadt, der Schichtarbeit in einer Fabrik und seinem strengen Vater zu entkommen: „Und irgendwie war da auch eine Neugierde, wie es in der Armee wirklich zugeht.“ Doch in der Personalabteilung fühlt er sich diskriminiert: „Ich sollte nur Kaffee kochen.“ Nach kurzer Zeit in Washington wurde er nach Heidelberg versetzt: „Da waren vor allem Karrieresoldaten. Mit meiner Antikriegshaltung passte ich da nicht rein.“
Nach wenigen Monaten – er hatte gerade seine spätere erste Ehefrau kennengelernt – wurde er nach Vietnam versetzt. Vor dem Einsatz bekam er Heimaturlaub. Er nutzte die Zeit in seiner Heimatstadt Inkster, um gemeinsam mit seinem Bruder, dem Jazz-Musiker Bill Summers, sowie Freunden das Malcolm-X-Zentrum aufzubauen. „Das Center war den Behörden ein Dorn im Auge“, sagt Summers. Die Gründer, dies belegen Überwachungsprotokolle, wurden als subversiv eingestuft und observiert. Kurz vor der Ermordung Gonsers gaben die Behörden den Aktivisten 24 Stunden Zeit, ein Schild mit dem Bild von Malcolm X von der Fassade des Kulturzentrums zu entfernen: „Darüber waren wir alle sehr aufgebracht.“
Im Visier der Polizei
Schon in den Wochen davor, sagt Summers, habe es ständig Ärger mit der Polizei gegeben. Mal brannte ein Laden und Freunde des Zentrums wurden der Brandstiftung beschuldigt. Mal waren es Überfalle, die den Leuten vom Zentrum angehängt werden sollten. „Alle waren sauer auf die Polizei.“ Ein Jahr nach dem sogenannten „long, hot summer of 1967“, bei dem es in den USA zu einer Reihe von Unruhen wegen rassistischer Polizeigewalt gekommen war, wollten sie die Schikanen nicht länger hinnehmen. Ihre Frustration war einer unbändigen Wut gewichen.
Ungefähr zwanzig Leute hätten sich im Zentrum versammelt, um zu diskutieren, wie man auf den Brief zur Abnahme des Schildes reagieren solle. Gegen 19 Uhr, acht Stunden vor den Schüssen auf Robert Gonser, hätte er gemeinsam mit dem später für den Gonser-Mord mitbeschuldigten Milford Scott und einem weiteren Mitglied des Malcolm X-Zentrums namens Terhan Luis beschlossen, der Polizei aufzulauern, um sie durch einen Warnschuss zu erschrecken.
Die drei, so Summers, legten sich im benachbarten Brookside Park bewaffnet hinter einen Busch. Als eine Polizeistreife vorbeikam, habe Milford Scott sein Gewehr genommen und geschossen. Summers stellt die Situation im Berliner Hinterhof mit Teetasse und Untersetzer nach: „Er hat einen Polizisten erwischt und leicht verletzt.“ Terhan Luis sei verhaftet worden, Milford Scott und er seien entkommen. Erst ein knappes Jahr später wurde Anklage gegen ihn erhoben: Im November 1968 wurde Darnell Summers in Vietnam inhaftiert: Dass er auch wegen des Polizistenmordes an Gonser angeklagt werde, „habe ich erst in den USA erfahren.“
Für den Anschlag im Park wurde er 1969 zu 408 Tagen Gefängnis verurteilt. Auf die Frage, ob er heute noch genauso handeln würde, denkt Summers kurz nach: „Eher nicht. Wobei: Ich bin dafür, sich zu wehren, wenn man angegriffen wird.“
Aber ermorden, stellt er klar, wollte und würde er niemanden: „Ich habe es durch den Vietnamkrieg geschafft, ohne jemanden umzubringen.“ Zumindest, so räumt er ein, nicht direkt: „Natürlich war ich Teil einer tödlichen Maschine. Aber ich habe mich geweigert, zu kämpfen, und war damit nicht alleine. Einige Soldaten waren gegen den Krieg.“ Andere hätten wahllos und sinnlos gemordet. Auch Vergewaltigungen seien Standard gewesen: „Aber nicht vor mir. Ich hätte das nicht zugelassen. Da hätte ich meiner Großmutter nie mehr in die Augen sehen können.“
Was er nach dem Anschlag im Park gemacht hat und wo er sich zum Zeitpunkt des Mordes an Gonser aufhielt, weiß nur er: Es existieren keine Zeugen. Er sei, erzählt er, vom Park aus nach Hause zu Eltern und Bruder gegangen. Mitten in der Nacht habe ihn Gail Simmons angerufen. Also sei er noch einmal losgezogen, um sie zu besuchen: „‚Bleib bloß da!‘, meinte meine Mutter noch. Hätte ich nur auf sie gehört.“
Zum Mordzeitpunkt habe er sich alleine auf einer Straße befunden „und die Schüsse gehört“. Bei seiner Ankunft in Simmons’ Haus seien dort viele Leute gewesen: „Und irgendwann stand die Polizei vor der Tür und meinte, sie hätten einen Tipp bekommen, dass sich der Mörder von Gonser hier aufhalte.“
Beinahe zeitgleich, das belegt ein Zeitungsartikel aus der damaligen Zeit, erschossen Polizisten unweit des Tatorts James Matthews, einen 14-jährigen schwarzen Jungen, der fortrannte, als sie ihn zu dem Mord befragen wollten. In seinem Bericht erklärt einer der verantwortlichen Beamten: „Ich hatte Angst. Mein Eindruck war, wir hätten den Mann, der den Polizisten erschossen hat, auf einem Feld in die Enge getrieben.“ Obwohl Befragungen später ergaben, dass der Junge mit dem Mord nichts zu tun hatte, wurde der Fall eingestellt. Der Polizeisprecher ließ verlautbaren, an der Erschießung des Jugendlichen sei nichts Rechtswidriges gewesen.
Die Ermittlungen
Die Ermittlungen im Mordfall Robert Gonsers hingegen liefen auf Hochtouren: An Darnell Summers bei seinem letzten Prozess ausgehändigte und der taz vorliegende Akten zeigen, dass die Polizei mindestens drei verschiedene Szenarien mit unterschiedlichen Verdächtigen durchspielte, allesamt Akteure der schwarzen Bürgerrechtsbewegung. Darnell Summers holt zwei dicke Aktenordner aus seiner Wohnung und zeigt nach und nach immer mehr Ermittlungs- und Überwachungsakten. Das meiste ist geschwärzt. Was lesbar ist, ergibt keine Anhaltspunkte auf Straftaten. Er sei ein „Schwarzer mit leninistisch-marxistischem Gedankengut“, heißt es in einem CIA-Bericht nur. Geheime Abhörunterlagen, die es geben müsse, wurden laut Summers ehemaligem Anwalt Eric Seitz in den 1980er Jahren trotz Gerichtsanordnung nie ausgehändigt. Bei dem Gespräch in seinem Berliner Hinterhof meint Summers: „Ich bin sicher, dass die Abhörunterlagen meine Unschuld beweisen.“
Darnell Summers
Mehr noch als um seine Unschuld, meint Summers, gehe es ihm darum, die Schuld der Behörden deutlich zu machen. „Sie haben mir 52 Jahre meines Lebens geklaut! Mein Sohn ist damit aufgewachsen, dass jederzeit die Polizei kommen und seinen Vater verhaften könnte.“ Er habe, das bestätigt auch sein ehemaliger Anwalt Eric Seitz, in den letzten Jahrzehnten immer wieder gebeten, seinen Fall neu aufzurollen: „Mir geht es nicht nur um mich, sondern um die Millionen von Menschen, die in amerikanischen Gefängnissen schmachten, und um die Taktik, die dieser Staat, diese Regierung anwendet, um diese Menschen einzusperren, diese Menschen zu verfolgen, diese Menschen zu unterdrücken.“
Einschüchtern lässt sich Darnell Summers nicht: Er ist im Januar erneut in die USA geflogen, um seinen Film über die Wahl zu Ende zu bringen. Dieses Mal kommt es bei seinem Aufenthalt zu keinen Zwischenfällen. Doch eine Nachfrage seiner Anwälte zum Stand der Ermittlungen bleibt unbeantwortet. Summers muss jederzeit damit rechnen, dass noch etwas kommen kann. Sein Film soll „No end in sight“ heißen. Summers hofft sehr, dass dies nicht auch auf seine Situation zutrifft.
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