Coronavirus in Frankreich: Totgesparte Krankenhäuser
Monatelang haben Streikende gewarnt: Frankreichs Gesundheitssystem ist schlecht ausgestattet. Das rächt sich in Zeiten von Corona.
Sie zählen ihre Arbeitsstunden nicht mehr, sehen ihre Familien kaum noch, und viele von ihnen sind selbst bereits mit dem Coronavirus infiziert. Trotz der Gesten der Dankbarkeit verspüren die gefeierten „Helden und Heldinnen der Nation in Weiß“ eine gewisse Bitterkeit. Sie hatten seit Monaten mit Streiks und Demonstrationen auf die Mängel und verschlechterten Arbeitsbedingungen vor allem in den Notfallstationen der Krankenhäuser aufmerksam gemacht und bei der Regierung nur wenig Verständnis oder Bereitschaft zu Abhilfe vorgefunden.
„Vor ein, zwei Monaten wollte uns niemand zuhören. Heute lieben uns alle“, sagt Simon Audibert. Er ist Arzt in der Notaufnahme des Hôpital Georges Pompidou am südlichen Stadtrand von Paris. Kleine Gesten der Anerkennung beweisen, wie der Einsatz in Corona-Zeiten geschätzt wird: „Wir bekommen Schokolade und Pizzen geliefert, Leute bringen uns Crêpes.“ Seltener kommen Firmen oder auch Privatpersonen mit dringend benötigten Schutzmasken.
Sein Krankenhaus und seine Abteilung seien relativ gut ausgerüstet und derzeit nicht mit Engpässen konfrontiert. Die ganze Organisation dreht sich um die Aufnahme von Corona-PatientInnen, für die zwei separate Etagen eingerichtet wurden, die schon jetzt weitgehend belegt sind.
Der Ansturm kommt erst noch
Wie alle GesprächspartnerInnen erwartet Audibert den großen Ansturm erst in ein paar Tagen. Besonders wichtig ist ihm jetzt die Kollegialität: „Die traditionelle Hierarchie ist locker geworden. Unter uns Notfallärzten ist jeder und jede im Turnus Chef des Teams.“ Er selbst fühlt sich nicht allzu gestresst. „Wir haben trotz allem noch ein intaktes Gesundheitssystem. Wenn ich daran denke, was jetzt auf die Amerikaner zukommt...“
Der Vorsitzende der französischen Vereinigung der Notfallärzte (AMUF), Christophe Prudhomme, ist dagegen sehr aufgebracht: „Hätten wir zu Beginn dieses ‚Kriegs‘, wie der Präsident der Republik das genannt hat, dieselbe Anzahl von Betten in Intensivstationen pro Bevölkerung wie Deutschland gehabt, würde das viel ändern. Statt nur 5.000 Betten zu Beginn der Krise hätten wir 10.000. Weil dem nicht so ist, müssen wir organisatorisch mit einer Knappheit auskommen.“
Obwohl in den Krankenhäusern noch in aller Eile zusätzliche Covid-Plätze geschaffen werden, stößt nach dem Elsass auch die Region Paris demnächst an die Grenzen der Aufnahmekapazitäten in den Intensivstationen mit Beatmungsgeräten. Die Gesundheitsbehörden haben begonnen, mit Sonderflügen oder in einem speziell ausgestatteten TGV-Zug aus den total überforderten Abteilungen im Elsass PatientInnen in den von der Epidemie weniger betroffenen Südwesten zu transportieren. Der Aufwand ist beeindruckend.
Eine Frage des Menschenverstands
„Anstatt 150 medizinisch qualifizierte Personen während 24 Stunden aufzubieten, um 20 Patienten mit der Bahn zu transportieren – was an sich bereits große Risiken birgt –, wäre es einfacher und sinnvoller, Beatmungsgeräte an die Orte zu bringen, wo sie benötigt werden und wo, wie in Paris, dafür Plätze geschaffen werden können. Das ist eine Frage des gesunden Menschenverstands!“, kritisiert Prudhomme vor seinem Arbeitsort im Pariser Vorort Bobigny.
Diese Alternative illustriert er mit einem Beispiel: „Wenige Kilometer von uns entfernt steht ein Krankenhaus, das geschlossen wird. Zum Glück waren dort die Beatmungsgeräte noch nicht verkauft worden. Wir konnten sie in die zusätzlichen Plätze der Intensivstation bringen. In mehreren Krankenhäusern konnten so zusätzliche Behandlungskapazitäten geschaffen werden.“
Zwischen zwei sehr ermüdenden Nachtdiensten schildert der Krankenpfleger Pierre Schwob die Situation in seiner Notfallabteilung im Hôpital Beaujon im Norden von Paris. Er war im letzten Jahr ein Wortführer des Komitees „Inter-Urgences“, das die landesweite Streikbewegung im öffentlichen Gesundheitswesen koordiniert hat.
Obwohl die Forderungen des protestierenden Pflegepersonals längst nicht erfüllt wurden, sagt Schwob angesichts der aktuellen Lage, diese Streiks seien „eine nützliche Warnung“ gewesen. „Was wäre, wenn wir nicht Alarm geschlagen hätten? Zumindest wurde der Öffentlichkeit und den Behörden bewusst, wie schlimm die Situation bereits im Normalfall war.“
Bis an den Rand der Erschöpfung
Durch neoliberale Sparmaßnahmen habe Frankreich in zwanzig Jahren die Aufnahmekapazitäten um 100.000 Betten verringert, während sich der Bedarf praktisch verdoppelt habe. Die Arbeit im Krankenhaus wurde so immer weniger attraktiv, das erklärt den permanenten Personalmangel. Jetzt wächst die Zahl von Covid-PatientInnen und die Lücken werden mit Auszubildenden und MedizinstudentInnen ohne Abschluss gefüllt, MedizinerInnen müssen aus anderen Fachbereichen „angelernt“ werden.
Dass Präsident Emmanuel Macron bei einem Abstecher nach Mülhausen zur Einweihung eines Militärlazaretts dem Krankenhauspersonal eine Geldprämie versprochen hat, findet er wie Audibert eher nebensächlich: „Urlaubs- und Erholungstage sind gestrichen. Wir arbeiten bis an den Rand der Erschöpfung. Aber wir machen das doch nicht fürs Geld!“
Christophe Prudhomme (AMUF)
Aufgrund seiner Erfahrung als Pfleger in einer Abteilung, in der Todesfälle nicht selten sind, befürchtet er aber eine Demoralisierung. „Nach der Hitzewelle im Sommer 2003 (die in Frankreich rund 15.000 vorzeitige Todesfälle bewirkt hatte, Anm. der Redaktion), haben viele Kollegen aufgrund ihrer traumatischen Erlebnisse den Dienst im Krankenhaus verlassen.“
Schon jetzt mehren sich Ausfälle wegen Sars-CoV-2-Infektionen. In den 39 Krankenhäusern des öffentlichen Gesundheitswesens der Region Paris waren am 27. März insgesamt 1.332 Personen von insgesamt rund 100.000 Beschäftigten aus allen Aufgabenbereichen (technisches Personal und Labors, Logistik und Reinigung, Pflegepersonal und Medizin) wegen positiver Sars-CoV-2-Tests als Infizierte registriert. Die Kurve der Statistik belegt, dass ihre Zahl nach dem 15. März parallel zur generellen Zunahme der Covid-Erkrankten stark gestiegen ist.
Der Höhepunkt der Kurve, ab dem eine Verlangsamung und ein Abflauen erhofft wird, dürfte in Paris erst in einer Woche erreicht werden. „Bis dann müssen wir durchhalten, und dazu muss die Bevölkerung unbedingt so weit nur möglich daheim bleiben“, sagt Pierre Schwob.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland