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Coronavirus in DeutschlandLeben retten ja, aber …

Tobias Schulze
Kommentar von Tobias Schulze

Wie viel wert ist ein Menschenleben? Kommt drauf an. Die Abwägung ist nicht nur in der Gesundheitspolitik üblich.

Jedes Leben gleich viel wert? Bestatter mit Särgen Foto: Jean-Christophe Bott/Keystone/dpa

W ie wichtig ist uns ein Menschenleben? Und ist uns jedes Leben gleich viel wert? Zwei Männer aus dem Südwesten haben in dieser Woche diese Fragen aufgeworfen. Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble sagte dem Tagesspiegel in einem sehr klugen Interview zur Debatte über die Coronaschutzmaßnahmen: „Wenn ich höre, alles andere habe vor dem Schutz von Leben zurückzutreten, dann muss ich sagen: Das ist in dieser Absolutheit nicht richtig.“

Der grüne Kommunalpolitiker Boris Palmer sagte in einem sehr kühlen Interview auf Sat.1: „Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären – aufgrund ihres Alters und ihrer Vorerkrankungen.“ Ein Satz, der allein schon wegen seiner Empathielosigkeit schmerzt. Einerseits verwundert es also nicht, dass sich gerade gegen Palmer eine breite Allianz der Entrüsteten bildete: Der CSU-Chef nennt die Debatte „gefährlich“.

Grünen-Vorstände aller Ebenen distanzierten sich binnen Stunden von ihrem Tübinger Parteifreund. Und schon vor Palmer, aber nach Schäuble kommentierte Margarete Stokowsi in ihrer Spiegel-Kolumne: „Unangenehm ist, wie explizit davon ausgegangen wird, dass ein paar Leute jetzt wohl geopfert werden müssen.“ Ja, das ist unangenehm. Unangenehm ist allerdings auch, dass in der Kritik ein sehr selektiver Moralismus mitschwingt.

Dass neben dem Coronavirus auch die Coronarestriktionen Menschen töten – in einer Menge, die sich nicht beziffern lässt –, blendet sie aus. Vor allem aber: Dass Politik und Gesellschaft vor Entscheidungen verschiedene Güter miteinander abwägen und der Schutz von Menschenleben nicht automatisch alle andere aussticht, ist kein Phänomen der Coronakrise. Es ist Normalität – und manchmal unvermeidbar.

Die Pflicht zur Organspende würde auch Menschen retten

„Abwägungen sind Teil jeder Gesundheitspolitik“, schrieb Anna Holzscheiter, Politikprofessorin mit Schwerpunkt auf Internationale Gesundheitspolitik, schon Anfang April in einem Essay. Der plötzlichen Entrüstung über diesen Fakt hafte etwas „Scheinheiliges“ an. Ein Beispiel: Auch eine Pflicht zur Organspende würde ohne Frage Menschenleben retten. Eine solche Pflicht steht aber nicht zur Debatte. Der Bundestag konnte sich im Januar noch nicht mal zur weniger weit gehenden Widerspruchslösung durchringen.

Das Recht auf Selbstbestimmung stand über dem Schutz von Leben. Wir könnten Menschenleben retten, wenn wir den motorisierten Verkehr abschaffen. Machen wir aber nicht, weil es sowohl Reisefreiheit als auch Wirtschaft ruinieren würde. Wir könnten Menschenleben retten, indem wir Alkohol verbieten. Machen wir aber nicht, weil Alkohol so schön lustig macht. Wir könnten Menschenleben retten, wenn wir auch während Grippewellen Mundschutz tragen und die Hände waschen.

Hat uns bisher aber schlicht nicht interessiert. Warum der Schutz von Menschenleben jetzt plötzlich einen viel höheren Stellenwert erhält? Wahrscheinlich liegt es an der Wucht der Coronapandemie, die ohne Schutzmaßnahmen wohl mehr Opfer fordern würde als Straßenverkehr und Influenza zusammen. Zu Recht dominiert sie seit Wochen Politik, Alltag und Medien. Sie hat uns damit Fragen von Leben und Tod aufgezwungen, die wir im Normalbetrieb gerne verdrängen.

Die Chance, die sich daraus für den Humanismus ergibt: Vielleicht bleibt etwas hängen. Vielleicht wird das Menschenleben auch in künftigen Abwägungen einen höheren Stellenwert erhalten als in der Vergangenheit. Denn tatsächlich ist eine Gesellschaft erstrebenswerter, die es erst nach einer mühsamen Abwägung erträgt, nicht jedes Leben schützen zu können, als eine Gesellschaft, die wie Boris Palmer eine kalte Kosten-Nutzen-Rechnung über das Sterben anstellt.

Aber eines kann auch in Zukunft nicht passieren: dass wir jedes politische Handeln nur danach ausrichten, dass jeder Mensch so lange lebt wie möglich.

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Tobias Schulze
Parlamentskorrespondent
Geboren 1988, arbeitet seit 2013 für die taz. Schreibt als Parlamentskorrespondent unter anderem über die Grünen, deutsche Außenpolitik und militärische Themen. Leitete zuvor das Inlandsressort.
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40 Kommentare

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  • Ich finde dass Wolfgang Schäuble schon recht hat mit seiner Aussage.

    Und warum Boris Palmer immer unvollständig zitiert wird ist für mich unverständlich.



    Er hat nur darauf hingewiesen dass wir mit den Maßnahmen gegen Corona bei uns vergleichsweise wenigen Menschen das Leben retten, dafür aber gleichzeitig durch diese Maßnahmen millionen ärmste Menschen in anderen Ländern verhungern müssen.

    Aber die verhungern halt nicht bei uns und die deutsche Bevölkerung muss es nicht direkt mit ansehen.



    Darum geht es der Politik und auch in vielen Medien.

    Menschenleben in armen Ländern interessieren unsere Politiker/innen nicht.

    Diese geheuchelte Moral ist einfach nur erbärmlich.

  • Mit der Pflicht zur Organspende wird ein dramatischer Schritt vorgeschlagen. Damit die Organe verwendet werden können, darf der Patient noch nicht vollkommen tot sein. Er ist hirntot, der Begriff wird definiert von Ärzten, die ein Interesse an Spenderorganen haben. Wieviel spürt ein hirntoter Mensch noch? Merkt er, dass man ihm das Herz herausschneidet? Ich kann mir nichts Grauenhafteres vorstellen. Nach meinem Tod vermache ich meinen Körper der Wissenschaft, und ich hätte kein Problem damit, einem geliebten Menschen eine Niere zu spenden, solange ich noch lebe. Aber wenn ich hilflos, aber vielleicht noch empfindungsfähig bin, will ich nicht ausgenommen werden. Dazu kommt noch, dass die Organe nach einer Liste verteilt werden, die Betuchte bevorzugt, weil sie von ihren Ärzten kränker dargestellt werden, als sie sind, und damit auf die vorderen Plätze rutschen.



    Die Organe von Coronapatienten sind bestimmt nicht zur Spende geeignet, deshalb verstehe ich nicht, wieso der Autor in diesem Artikel diese Brücke schlägt.

  • Es werden aufwändig Leitplanken an kurvenreichen Straßen mit umweltschädlich hergestelltem Schaumstoff umwickelt, die Leitplanken sogar verdoppelt, damit all die viel zu schnell fahrenden Freizeit-Motorradfahrer nicht etwa in der Kurve drunter durch rutschen und möglichst weich fallen. Die wissen doch selber was sie tun, wieso leistet sich der "Staat" so einen Aufwand? Könnte man anführen, in der gesamten Debatte. Obendrein, dass die meisten, nehmen sie erst mal ihren Helm ab, zur Gruppe der Ü65jährigen gehören.... könnte man alles anführen.



    Bin froh, dass die Leitplanken umwickelt werden, auch wenn die Motorradfahrer mich ungeheuer nerven.

  • Es werden aufwändig Leitplanken an kurvenreichen Straßen mit umweltschädlich hergestelltem Schaumstoff umwickelt, die Leitplanken sogar verdoppelt, damit all die viel zu schnell fahrenden Freizeit-Motorradfahrer nicht etwa in der Kurve drunter durch rutschen und möglichst weich fallen. Die wissen doch selber was sie tun, wieso leistet sich der "Staat" so einen Aufwand? Könnte man anführen, in der gesamten Debatte. Obendrein, dass die meisten, nehmen sie erst mal ihren Helm ab, zur Gruppe der Ü65jährigen gehören.... könnte man alles anführen.



    Bin froh, dass die Leitplanken umwickelt werden, auch wenn die Motorradfahrer mich ungeheuer nerven.

  • 8G
    82286 (Profil gelöscht)

    “Wir sind in der richtigen Spur”, wenn ich die Kommentare so im Durchschnitt beurteilen sollte. Es wird munter diskutiert, was das einzelne Leben wert ist, ab wann man es daß Ableben als Kollateralschäden einzuplanen hat, auf was wir alles verzichten müßten, würde dem Leben absoluter Vorrang eingeräumt usw.



    Viel zu kurz kommt mir die Frage: Was können wir tun, um uns diese Frage garnicht erst stellen zu müssen. Was können wir tun, als Gesellschaft, um nach einer Krise wie der jetzigen, sagen zu dürfen: Wir bedauern den Tod jedes Einzelnen. Wir haben alles getan um jedem gerecht zu werden.



    Ich verweise gern auf meinen Post von gestern:



    taz.de/Individuali...bb_message_3952334



    Ich gehöre nach Alter zur Hochrisikogruppe (72). Und da denkt man schon öfter mal nach, wie sich das eigene Ableben anfühlen könnte. Ganz besch … wäre es bestimmt, wenn vor mir in meinem Altersheim grad mal 15 Leutchen den Löffel abgegeben hätten. Ich bin in keinem Altersheim oder Senioren-Residenz, wie es so schön heißt.



    Also nicht: wieviel Überlebende können wir uns leisten?



    Sondern: Was können wir tun, daß erstens so wenig wie möglich erkranken und zweitens, die Erkrankten möglichst gesunden.



    Noch was persönliches. Ich habe vor Monaten eine Patienten-Verfügung mit professioneller Beratung verfaßt. Darin war sehr oft vom “Therapieziel” die Rede. So als Beispiel: als austherapierter Krebspatient habe ich alle lebensverlängerten Maßnahmen ausgeschlossen und meine Vertreter müßten dies im Ernstfall auch durchsetzen (bisher alles Theorie).



    Aber als oberste Maxime bleibt: “Ich will leben, auch mit Einschränkungen!”. Und wenn ich richtig wähle, kann ich auch noch was fürs Klima tun :-))



    “Wir sind in der richtigen Spur” war Ironie.

  • "Das Virus stoppen ist der einzig realistische Ausweg 'Die Lockerungslobby erweckt ein falschen Eindruck.'

    Was uns die Lockerungslobby als Exitstrategie verkauft, führt nur in eine zweite Infektionswelle. Der Preis wird hoch sein. Ein Gastbeitrag. Katja Kipping "

    www.tagesspiegel.d...ruck/25797174.html

  • "Berechnungen von Harvard-Forschern 20- bis 24-Jährige treiben die Corona-Pandemie in Deutschland an

    Junge Erwachsene und Jugendliche halten sich seltener an das Kontaktverbot. So werden sie zu Treibern der Virus-Verbreitung in Deutschland, schreiben Forscher. "



    www.tagesspiegel.d...d-an/25796364.html

    • @Weber:

      Das ist immer so und Viren lassen sich nunmal auch nicht gänzlich aufhalten.

      Wenn diese Altersgruppe sich aber z.B. konsequent von Menschen ab 65 fernhalten würde bzw. wenn Risikopatienten sich so weit möglich von diesen distanzieren mögen, dann wäre sehr vielen geholfen. Denn einerseits würde die gesellschaftliche Durchseuchung voranschreiten und damit mittelfristig vulnerablere schützen und andererseits wäre klar, wer sich vor wem zu "schützen" hat.



      Im Moment heißt es jede/r vor jeder/m und das ist wenig plausibel und macht das ganze Geschehen unsicherer und unübersichtlicher.

      • 0G
        01349 (Profil gelöscht)
        @Hanne:

        Wunschdenken, so lange es nicht mal klappt, das Virus aus Pflegeheimen rauszuhalten.

        • @01349 (Profil gelöscht):

          Es wird immer Wunschdenken bleiben, das Virus aus allem raus halten zu KÖNNEN.

          • 0G
            01349 (Profil gelöscht)
            @Hanne:

            Um so wichtiger, die Fallzahlen niedrig zu halten, so lange die Testmöglichkeiten knapp und und eine Impfung gar nicht verfügbar sind.

  • "Altbundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) hat vor schädlichen Kosten-Nutzen-Debatten und zu schnellen Lockerungen in der Corona-Krise gewarnt. 'Die Nationalsozialisten haben Millionen von Menschen als lebensunwert bezeichnet und ermordet. Wir sind aus historischer Erfahrung und aus guten Gründen beim Lebensschutz und Abwägen von Einschränkungen vorsichtig', sagte Schröder dem Tagesspiegel. 'Das sollte auch so bleiben'.

    Die von Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) angestoßene Debatte, dass der Schutz von Leben steht nicht über allem stehe, bezeichnete Schröder als eine primär philosophische Debatte. Aber alle sollten bedenken: 'Wenn man jetzt zu schnell lockert und dann einen zweiten Lockdown braucht, dann ist diese Abwägung kein philosophisches, sondern ein ganz reales, praktisches Problem.'"



    www.tagesspiegel.d...down/25795890.html

    • @Weber:

      Ich hätte nie gedacht, dass Schröder etwas sagt, dass ich gut finde.

    • 8G
      82286 (Profil gelöscht)
      @Weber:

      Altersweisheit !

      • 8G
        82286 (Profil gelöscht)
        @82286 (Profil gelöscht):

        Aber er hat recht.

  • Menschenleben oder Freiheit?



    Eine Frage die sich nicht stellt.

    Wer sich dafür ausspricht Menschenleben für eine Lockerung zu riskieren, der hat einfach nicht verstanden, dass ein R-Wert über 1 unweigerlich zu einer deutlichen Verschlimmerung führen würde, die Einschnitte in die Grundrechte zur Folge hätte, wie sie in Italien und Spanien praktiziert werden mussten.

    • @kamera mann:

      Na, dann schauen Sie mal nach Schweden:

      taz.de/Corona-am-M...n-Berlin/!5681071/

      "Reproduktionszahl in Schweden unter 1

      Die Zahl neuer Corona-Ansteckungen geht nach Angaben der nationalen Gesundheitsbehörde in Schweden zurück. Der schwedische Staatsepidemiologe Anders Tegnell bestätigte im Gespräch mit dem Sender SVT, dass die sogenannte Reproduktionszahl seit einigen Tagen unter 1,0 liege. Dies besagt, dass ein mit dem neuartigen Coronavirus infizierter Schwede durchschnittlich weniger als einen weiteren Schweden ansteckt. „Das bedeutet, dass die Pandemie allmählich abebben wird“, erklärte Tegnell am späten Freitagabend in dem Sender.

      Schweden geht im Kampf gegen die Corona-Krise einen international beachteten Sonderweg. Im Vergleich zu den meisten anderen Ländern hat das skandinavische Land mit lockereren Maßnahmen auf die Pandemie reagiert, Kindergärten, Schulen und andere Einrichtungen wurden zum Beispiel niemals geschlossen. Vielmehr appelliert es an die Vernunft der Bürger, damit diese Abstand halten und die Corona-Verbreitung somit abgebremst werden kann. Verglichen mit dem Rest Skandinaviens haben die Schweden jedoch relativ viele Infektions- und Todesfälle: Bis Samstagvormittag wurden mehr als 22.000 Infektionen und mehr als 2.650 Tote mit Covid-19-Erkrankung erfasst. (dpa)"

      • @Hanne:

        In Schweden geht's rauf und runter. Der Wert bezieht sich auf den 25. April. Da gab es 474 gemeldete Neuinfektionen. Am 29. April waren es 778 und am 30.April waren es 547.



        www.google.de/sear...CD4Q4dUDCAg&uact=5

        Man könnte in Deutschland mit den derzeit für Corona reservierten 15.000 Intensivbetten ca. 225.000 akut Erkrankte versorgen, müsste dann aber den R-Wert bei 1 halten und das ist mit vielen Infektiösen nicht nur sicher schwerer als mit wenigen, viele Infektiöse bedeutet auch viele Tote.

  • Es sollten in der Tat immer beide Seiten der Medaille betrachtet werden: wo bleibt Schäubles Menschenwürde, wenn Civid-19 - Patienten dürftig bedeckt mit Schäuchen an Maschinen und Infusionsbeuteln angeschossen allein oder mit "Vollschutzgestalten" sterben müssen? Welcher Aufwand würde getrieben, um Palmers später Sterbende doch am Leben zu halten? Welchen ungeheuren Aufwand treiben wir bereits, um die Unfalltoten und -verletzten in Beruf und Verkehr zu reduzieren?



    Die Frage ist doch nicht abwägen oder nicht, sondern, wo liegt mein Schwergewicht? Man führe sich vor Augen, was für Mittel in den verschiedenen Bereichen aufgewendet werden, um Menschenleben zu retten: Krankenhäuser, Krankenpflege (einschließlich Medikamenten und -forschung), Altenpflege, Arztausbildung, Notarztsystem (einschließlich Hubschrauber), Arbeitsschutz, Verkehrstschutz (Flugverkehr!) und einiges mehr. Welchen Aufwand treiben wir um die Menschenwürde zu schützen? Z. B. für ein humanes Sterben, Schutz von Kindern und Frauen vor sexueller Gewalt?



    Schäuble hat eine schlimme und falsche Diskussion eröffnet: m. E. Ist jeder Versuch der Hierarchisierung von Grundrechten grundfalsch und kann nur schief gehen, die Diskussion führt in einen Sumpf, der sehr braun ist und aus dem kein sauberer Weg mehr heraus führt.

    • 8G
      82286 (Profil gelöscht)
      @Rainer Konietzka:

      Sie sprechen mir, sehr fein formuliert, aus der Seele.

  • Meines Erachtens geht es weniger darum, das eine gegen das andere Gut abzuwägen, sondern vielmehr um eine Grundeinstellung zum Leben - und damit zum Sterben. Das Leben ist immer lebensgefährlich und dem können wir ruhig einmal in die Augen sehen. Das Leben ist daher immer auch abgründig, gefährlich und lebensfeindlich. Es hilft mehr, diesen Abgründen entgegenzutreten und sich mit ihnen auseinanderzusetzen, als immer auf das ewige, unbefleckte Leben zu warten. Das Leben ist die Interaktion mit dem Sterben, das Aufbäumen dagegen und das Bejahen des Lebendigen, es stirbt jedoch in sich, wenn es den Kontrast nicht mehr kennt. Ein Leben ohne Tod ist somit auch nicht mehr lebenswert. Was bliebe denn noch übrig? Ich habe keine Angst vor dem Tod, er wird schon kommen. Und das ist auch gut so. Da sollten wir Älteren und Gefährdeteren schon auch bereit sein, den Kindern das Leben zu überlassen. Unsere Generatio jedoch ist die, die sowohl von den Alten profitiert hat, als auch von den Jungen profitieren will (Schnöde: Wohlstand ererben, satte Renten bezahlen lassen. Differenzierter: Luxus ererbt, Klima auf Kosten der Jungen ruiniert). Vlt ist Corona auch einfach nur die Watsche deswegen. Dass wir auch mal abtreten lernen.



    Game over.

    • @MaR:

      "Es hilft mehr, diesen Abgründen entgegenzutreten und sich mit ihnen auseinanderzusetzen, als immer auf das ewige, unbefleckte Leben zu warten."

      Stimme Ihnen voll zu!

      "Da sollten wir Älteren und Gefährdeteren schon auch bereit sein, den Kindern das Leben zu überlassen."

      Bin zwar selbst erst mittelalt und habe bisher auch weder finanziell noch gesundheitlich von Vorfahren profitiert, aber sehe es genauso.

    • @MaR:

      Das Sein bestimmt möglicherweise auch in diesem Fall das Bewusstsein:



      Dass Sie nach eigener Aussage "Luxus ererbt, das Klima auf Kosten der Jungen ruiniert haben und sich dann auch noch eine satte Rente bezahlen lassen.." lässt auf Ihre persönliche Situation und Haltung schließen, ist allerdings nicht auf eine ganze Generation zu übertragen. Pauschal auf das Luxusleben der Rentner*innen auf Mallorka hinzuweisen ist sonst eigentlich Sache der Bildzeitung.



      Ich selbst bin z.B. als 2. Kind einer Arbeiterfamilie in einer anderthalb- Zimmerwohnung in Berlin aufgewachsen, da hielt sich der ererbte Luxus in Grenzen.



      Wie viele andere meiner Generation habe ich mir das was meinen bescheidene Lebensstandard ausmacht, durch eigene, zum Teil sehr unangenehme Arbeit selbst erworben. Ich fahre kein SUV, mache weder viele Flugreisen noch bin ich permanent mit dem Kreuzfahtschiff unterwegs.

      Aber selbst das könnte doch wohl kein Kriterium dafür sein, wann wer abzutreten hat.



      Übrigens, anders als Sie offenbar, habe ich schon lange vor Corona nicht an ein "ewiges unbeflecktes Leben" geglaubt.

    • @MaR:

      Was Du über Deine Lebenseinstellung schreibst, liest sich, als wärst Du ein österreichischer Landsmann von mir.



      Um unsere Lebenseinstellung mit den Worten von Christoph Waltz zu beschreiben: "Der Österreicher kommt zur Welt, um über den Tod nachzudenken. Das macht das Leben wunderbar sorglos. Das ist ja der Spaß am Katholizismus."

  • Ich kann als alter Mann der gerne lebt versichern, dass sich diese Debatte ganz anders anfühlt, wenn man zu der Personengruppe gehört, die möglicherweise als Kollateralschaden abgeschrieben wird.



    Das Ansatzweise nachzuvollziehen setzt voraus, mal von der distanziert-theoretischen auf eine persönlich-emotionale Ebene zu wechseln.

    Ein Vorschlag wäre, dass jede*r jüngere bis mittelalterliche Kommentator*in einfach mal versucht den eigenen Eltern im persönlichen Gespräch zu erklären, dass der Aufwand sie am Leben zu erhalten, in bestimmten Situationen für unsere Gesellschaft zu aufwändig ist.

    • @Bürger L.:

      Ich möchte Sie bitten, dass Sie selbst Ihre Meinung und Interpretation der Situation nicht als - aufgrund ihres Alters- allgemeingültig empfinden. Für sie fühlt es sich so an, für viele andere Senioren aber eben nicht.

      Meine Oma, 79, mein Schwiegervater, Herzinfarktpatient, meine Mutter, schwer Nierenkrank, meine andere Oma, 84. Alle vier von ihnen empfinden sich nicht als Kollateralschäden, wollen nicht zuhause sitzen und alleine sein, sondern Besuch und Freunde und Familie um sich haben und alle vier sagten unabhängig voneinander, wenn es sie trifft, dann soll es so sein, immerhin hatten sie dann noch Zeit mit ihrer Familie.

      Es geht nicht um den Aufwand, sie am Leben zu halten. Es geht um die Lebensqualität derer, die am Leben gehalten werden und die sie jetzt nicht selbst gestalten dürfen, sondern, die ihnen entrissen wird.

      Keine der genannten Personen, allesamt Risikopatienten, findet es gut oder gerechtfertigt, dass sie sozial isoliert sein müssen und sich von Kassierern und Nachbarn beleidigen lassen müssen, weil sie immer noch selbst einkaufen, anstatt sich brav zu verstecken und die "solidarische Nachbarschaftshilfe" in Anspruch zu nehmen.

      Auch ich habe meinen Nachbarn, ca 80, angeboten, vom Einkauf etwas mitzubringen. Ihre Antwort war ein entschiedenes Nein. Sie wollen nicht isoliert sein.

      • @Sabrina K.:

        Ich verstehe "Bürger L." so, dass er jeden, der der Meinung ist, dass Menschenleben gegen Wirtschafts abwiegen möchte, dies zuerst seinen eigenen Eltern und Angehörigen erklären soll. Er sagt nicht, dass es keine Abwegung geben soll oder darf. Hinter jedem Gestorbenen steht ein Mensch, trauernde Angehörige, eventuell von den Einnahmen abhängige Kinder, ...



        Dies sollte in der Diskussion nicht untergehen. So kann sich der Ton der Debatte tatsächlich zum positiven Verändern und ein Weg gesucht werden, der alle Bedürfnisse deckt.

    • @Bürger L.:

      Dann können Sie mir das bei Gelegenheit auch erklären. Ich bin zwar nicht steinalt, aber doch mit der einen oder anderen Vorerkrankung belastet.

      Wie wollen Sie das also machen? Ohne, dass wir morgen früh in der Inhumanität aufwachen.

      Es sei denn, humanity is over.

      • @Jim Hawkins:

        "Wie wollen Sie das also machen? Ohne, dass wir morgen früh in der Inhumanität aufwachen."

        Eben gerade das ist es. Anstatt gestiegene Lebenserwartung als Erfolg zu sehen, wird die sogenannte "Überalterung der Gesellschaft" in erster Linie als Poblem beschrieben.

        Die traurige Folge davon sind theoretische Debatten über die Frage, ob sozialverträgliches Frühableben der teuren Alten oder Schwerstkranken unter bestimmten Umständen nicht Teil der Problemlösung sein könnte...

        • @Bürger L.:

          Danke, es bewegt mich. Ohne es je selber gesagt oder gedacht zu haben, habe ich auch nie überlegt, wie sich "Überalterung der Gesellschaft" anfühlen muss. Ich freue mich für alle alten Leute die ihr Leben genießen und es tut mir leid dass sie so abgewertet werden.

        • @Bürger L.:

          Sorry, dann habe ich Sie wohl falsch verstanden, nichts für ungut.

          Ich finde diese Tendenz auch sehr beunruhigend. Und sie wirft ein Schlaglicht auf eine mögliche Zukunft, in der wirklich die Hütte brennt.

          Dann wird der Wert des Lebens wohl noch einmal rabiater bemessen werden.

          Hoffen wir mal, dass wir dann bereits auf einer Wolke sitzen wie in "Nachher" von Tucholsky:

          de.wikisource.org/...achher_(Tucholsky)

  • Freut mich mal wieder nen differenzierten Artikel zum Thema zu lesen. Und er wirft, im Gegensatz zu Typen wie Palmer, auch die richtigen Fragen auf und zieht nicht im Vorraus bereits zynische Schlüsse.

    Abwägungen zwischen verschiedensten sozialen, ethischen und ökonomischen Argumenten einer Gesellschaft sind enorm diffizil und komplex. Sowas kann man nicht mit Scheuklappen und plumpen Basta Parolen beantworten.

    Und auch wenn die Pandemie ein sehr spezielles Vorgehen erfordert und die Prioritäten verschiebt, kann und darf zumindest der Maßstab kein grundlegend anderer sein, als der, den wir für das gesellschaftliche Zusammenleben in "Normalzeiten" anlegen.

  • Wie kann man sich das Ganze eigentlich praktisch vorstellen?

    Akzeptieren wir die Prämisse, dass man nicht jedes Leben retten oder schützen kann und dass es kein Recht auf ein Leben gibt, dass so lange wie möglich dauert.

    Werden dann alle Einschränkungen aufgehoben, die Jungen und Gesunden leben wieder ihr Leben und der Rest verschimmelt in der Wohnung oder im Pflegeheim.

    Ganz im Ernst kann mir das mal jemand erklären?

    • @Jim Hawkins:

      Andersherum, wie wollen wir uns das ganze praktisch vorstellen, wenn wir tatsächlich den Erhalt des Lebens immer als oberste Prämisse behandeln?

      Denn moralisch wäre es absolut verwerflich dies jetzt zu tun, jedoch in 2 Monaten wieder andere Grundsätze zu haben. Jetzt, wo wir uns bewusst gemacht haben, dass der Schutz des Lebens über allem zu stehen hat, können wir da nicht mehr weg davon und müssen all unser Handeln und all unsere Gesetze daran orientieren.



      Denn wie moralisch verwerflich ist es, wenn wir die Toten auf deutschen Straßen als Kollateralschäden hinnehmen, diejenigen durch Covid aber nicht? Haben wir doch gerade gelernt, dass ein Abwägen bei der Frage des Lebens nicht moralisch und gesellschaftlich vertretbar ist.

      Stellen wir also den Schutz des Lebens fortan über alles, auch über das Selbstbestimmungsrecht dessen, den es zu schützen gilt, wo bleibt der Mensch dann am Ende?

      Wie könnte eine Normalität und eine Gesellschaft unter solch einer Prämisse gestaltet sein und aussehen?

      Welche Rechte, welche Möglichkeiten und welche Handlungsfreiheit bliebe uns dann noch?



      Und zu welchem Preis?

      • @Sabrina K.:

        Gut und schön, ich wiederhole gern meine Frage:

        "Wie kann man sich das Ganze eigentlich praktisch vorstellen?"

        Selbst wenn man die Risikogruppe extrem konservativ definiert, ein paar Millionen sind es auf jeden Fall.

        Was passiert dann mit denen?

  • Palmer macht es sich einfach. Leute besucht mal Krankenhäuser und schaut euch an, wer alles mit Covid19 auf intensiv liegt. Das sind keineswegs nur alte und vorerkrankte. Das sollte eigentlich doch schon bekannt sein. Und ich weiß direkt von jungen Leuten, die nur einen Tag Schnupfen hatten ebenso wie solchen, die ohne Krankenhaus mit dickem Husten bis am den Rand des Erbrechens im Bett lagen und auch nach 6 Wochen noch nicht wieder voll arbeitsfähig sind. Da man nicht vorher ankreuzeln kann, wie man den Dreck bekommt, ist das eine zu einfache Aussage. Typisch übrigens dass die von männlichen Personen ab 50 kommt. Das sind auch die, die ihren Mundschutz beim Einkaufen nicht richtig tragen und keinen Abstand halten. Die, wegen auch denen ich Mundschutz trage und Abstand halte, denn die Erfahrung sagt mir, dass sie deutlich verwundbarer sind als es ihr männliches Ego wahrhaben möchte. Das ist kein bashing jetzt von mir. Es ist Beobachtung. Und ich bin selbst xy Träger.

  • "Dass neben dem Coronavirus auch die Coronarestriktionen Menschen töten – in einer Menge, die sich nicht beziffern lässt –, blendet sie aus"

    Ho-hum. Die CREA [1] schätzt, dass die lockdown-bedingte Minderbelastung der Luft uns 11000 Tote in Europa erspart hat [2]. Also doch Lockdown beibehalten?

    [1] energyandcleanair.org/

    [2] Le Monde, 2020-05-02, Seite 2

    • @tomás zerolo:

      Spielverderber!

  • Boris Palmer hat sicherlich nicht die glücklichste Formulierung gewählt. Aber seine Äußerungen auf eine Kosten-Nutzen-Rechnung zu reduzieren wird der Sache auch nicht gerecht.



    Ich würde mich freuen, wenn wir eine Debatte führen würden, in der Meinungen grunssätzlich erlaubt sind und Argumente gegeneinander abgewogen werden, statt immer nur alles in zwei Lager aufzuteilen und jede Äußerung dann in eine der Lager künstlich zu pressen.



    Es geht nicht darum ob wir uns für Schwarz oder Weis entscheiden. Am Ende kann es wahrscheinlich nur ein Grau geben. Um das passende Grau zu finden muss man sich aber auch mit den Argumenten des "Gegenlagers" beschäftigen, statt alle Aussagen zu difamieren.

  • 0G
    01349 (Profil gelöscht)

    Solche Abwägungen sind zunächst ein Symptom der Phantasielosigkeit. In diesem Fall der doppelten Phantasielosigkeit, sich eine andere Problemlösung als die Wiedereinsetzung des bekannten Zustands genauso wenig vorstellen zu können wie die Folgen irgendwelcher "Lockerungen".