Coronapandemie in China: Grausames Kalkül

Durchseuchen, Zigtausende sterben lassen, die Bevölkerung für dumm verkaufen: Darauf setzt Chinas Staatschef Xi. Und sein Plan könnte aufgehen.

Eine Person in Schutzanzug reinigt ein Krankenhausbett

Die Kliniken in China kommen an ihre Kapazitätsgrenze: Szene aus der Provinz Hebei am 22. Dezember Foto: ap

Was für eine abrupte Kehrtwende. Es ist keine drei Wochen her, da pflegte die chinesische Führung mit ihrer Zero-Covid-Politik die mit Abstand drakonischsten Coronaregeln überhaupt. Fast drei Jahre lang riegelte sie das Land von der Außenwelt ab, sperrte Hunderte Millionen Menschen regelrecht weg und überspannte ihre Bürger mit einem umfassenden Überwachungssystem – alles mit der Begründung, wie gefährlich das Virus sei.

Nun also das absolute Gegenteil: Hunderttausende Teststationen sind seit dem 7. Dezember abgebaut, die Leute sollen wieder in die Büros und Fabriken gehen – selbst, wenn sie infiziert sind. Dieselbe Staatspropaganda wird nun nicht müde zu behaupten, wie harmlos Omikron sei, vergleichbar mit einer Erkältung. Dass dies nur zutrifft, wenn Menschen mindestens dreimal umfassend mit wirksamen Vakzinen geimpft sind, verschweigt sie. Die meisten Chinesen haben nur einen lückenhaften Impfschutz.

Während die Propaganda die Menschen in Sicherheit wiegt, beginnt das Sterben. Drei Jahre nachdem die Pandemie in der ostchinesischen Metropole Wuhan ihren Anfang nahm, sind die sozialen Medien in China wieder voll mit schrecklichen Bildern von überfüllten Krankenhausfluren, auf denen Patienten um ihr Leben ringen, übermüdeten Ärzten, die hektisch durch die Gänge laufen und Krematorien, vor denen sich die Leichenwagen stauen. Nur, dass sie sich dieses Mal die Dramen nicht nur in einer Zehnmillionen-Metropole abspielen, sondern im ganzen Land.

Die Behörden vermelden offiziell zwar, dass es in diesen Tagen keine weiteren Coronatoten gab. Die Gesamtzahl seit Pandemiebeginn verharrt damit nach offizieller Darstellung bei 5.241. Angaben zur Anzahl der täglichen Neuinfektionen gibt es aber erst gar nicht mehr. Das ist auch nur konsequent. Denn auch als die Behörden noch Zahlen veröffentlichten, haben sie kaum noch testen lassen. Die niedrigen Zahlen wirkten immer absurder. Aus geleakten Protokollnotizen von einem Treffen der Gesundheitskommission geht hervor, dass sich allein in den ersten drei Dezemberwochen 248 Millionen Menschen oder 18 Prozent der Bevölkerung mit Corona infiziert haben; dies entspricht in etwa den Beobachtungen vieler Menschen vor Ort.

Bald 5.000 Tote am Tag?

Das in London ansässige Forschungsinstitut Airfinity geht mit Modellrechnungen von 5.000 Toten am Tag schon in den kommenden Wochen aus. Und es dürfte noch sehr viel schlimmer kommen. Denn längst hat das Virus auch die abgelegenen Gegenden erreicht, in denen das Gesundheitssystem nur schlecht entwickelt ist. Die Modellierer in London rechnen mit 3,7 bis 4,2 Millionen Infizierten am Tag rund um das chinesische Neujahrsfest Mitte Januar, wenn viele zu ihren Familien in die Provinzen reisen. Die Zahl der Toten werde bis dahin bei mehreren Millionen liegen. Damit würden die schlimmsten Befürchtungen wahr.

Wie konnte es zu diesem radikalen Wechsel kommen? Es scheint, dass angesichts der Verwerfungen in der Wirtschaft aufgrund der rigorosen Zero-Covid-Politik völlig ohne Plan geöffnet würde. Doch vielleicht trügt dieser Eindruck und es steckt doch Kalkül dahinter. Und zwar ein grausames. Es könnte lauten: Die Regierung betreibt eine konsequente, sehr schnelle Durchseuchung und vertuscht das Leid der Menschen. Ein brutales Vorgehen, wie es sich kein anderes Land in dieser Pandemie zugetraut hat. Proteste muss die Regierung weniger fürchten als vor der Öffnung: Es traut sich keiner mehr auf die Straße, und viele Menschen fühlen sich schlapp.

Flucht nach vorn

Xi wählt die Flucht nach vorn. Er hat beim Pandemiemanagement versagt und geht nun einen radikalen Weg, um wieder handlungsfähig zu werden. Drei große Versäumnisse sind ihm vorzuwerfen: Er hat nicht konsequent impfen lassen. Er hat viel zu lange an vollständigem Null-Covid festgehalten. Und er hat keine Diskussion über den Umgang mit dem Virus zugelassen. Daher trifft die große Omikronwelle das Land unvorbereitet. Während es in Europa seit Zulassung hochwirksamer Impfstoffe gut gelungen ist, die Infektionskurven flach zu halten, trifft nun eine hohe, steile Wand die chinesische Bevölkerung. Während Xi China noch vor einem Jahr als leuchtendes Vorbild mit einer gesunden, glücklichen Bevölkerung und einer starken Wirtschaft dargestellt hat, hat sich die Lage nun ins Gegenteil verkehrt. Der Krankenstand ist enorm und das Wachstum ist abgestürzt.

Es ist dabei typisch für ihn, jede Hilfe aus dem Ausland abzulehnen. China stellte sich mit seinen Impfstofflieferungen als Retter des Globalen Südens dar. Dazu würde nach nationalistischem Kalkül kein Import von mRNA-Impfstoffen internationaler Hersteller passen. Das ist Ostblock-Verhalten: Dem Ausland gegenüber keine Schwächen zugeben und stattdessen lieber die eigene Bevölkerung sterben lassen.

Ansturm auf Auslandsreisen

Schon fürchten Virologen, dass in China die nächste schlimme Variante entstehen könnte. Dies hätte potenziell gravierende negative Folgen für den Rest der Welt. Angesichts des nun übers ganze Land hinwegrasenden Coronatsunamis ergibt es noch weniger Sinn, an der schon vorher völlig irren Quarantäneregel für Einreisende aus dem Ausland festzuhalten. Ab 8. Januar fällt folgerichtig die Isolationspflicht für aus dem Ausland einreisende Chinesen weg, es genügt ein negativer Test. Visa für ausländische Touristen und Studierende bleiben weitgehend ausgesetzt.

Doch wer will in nächster Zeit überhaupt noch in ein Land reisen, das vor dem gesundheitlichen Desaster steht? Fast drei Jahre lang hatte sich China vor dem Rest der Welt abgeriegelt. Nun gibt es angesichts dieser explodierenden Infektionszahlen und des Ansturms auf Auslandsreisen gute Gründe, sich für die nächste Zeit wieder vor China abzuriegeln. Die USA erwägen bereits Einreisebeschränkungen für Reisende aus China. Wer kann, sollte China derzeit meiden.

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war von 2012 bis 2019 China-Korrespondent der taz in Peking. Nun ist er in der taz-Zentrale für Weltwirtschaft zuständig. 2011 ist sein erstes Buch erschienen: „Der Gewinner der Krise – was der Westen von China lernen kann“, 2014 sein zweites: "Macht und Moderne. Chinas großer Reformer Deng Xiao-ping. Eine Biographie" - beide erschienen im Rotbuch Verlag.

Die Coronapandemie geht um die Welt. Welche Regionen sind besonders betroffen? Wie ist die Lage in den Kliniken? Den Überblick mit Zahlen und Grafiken finden Sie hier.

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