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Coronabeschlüsse von Bund und LändernVolles Risiko

Bei Inzidenzwerten bis 100 sollen die Coronaregeln gelockert werden. Begründet wird das mit Tests und Impfungen – doch genau da stockt es.

Müde von der Arbeit als Bremserin: Angela Merkel nach dem Bund-Länder-Gipfel am 4.3.2021 Foto: Michael Kappeler/dpa

Es war eine veränderte Angela Merkel, die am Mittwoch eine halbe Stunde vor Mitternacht vor die Kameras trat. Nach den neunstündigen Beratungen mit den Mi­nis­ter­prä­si­den­t*in­nen wirkte die sonst stets hoch konzentrierte Kanzlerin etwas fahrig und blickte mehr als üblich auf ihre Sprechzettel. Auch was sie sagte, klang anders als bei den vorherigen Treffen. Hatte Merkel dort stets die Mahnerin gegeben, die die Gefahren betonte und vor zu schnellen Lockerungen warnte, machte sie diesmal vor allem Mut. „Wir können heute von Hoffnung und dem Übergang in eine neue Phase sprechen“, leitete sie ihr Statement ein.

Grundlage für diese Hoffnung seien, so die Kanzlerin, erstens die gesunkenen Infektionszahlen, zweitens die verbesserten Testmöglichkeiten und drittens die voranschreitenden Impfungen. Dass die Realität nicht ganz so gut aussieht – die Infektionszahlen steigen seit knapp zwei Wochen wieder, Selbsttests und kostenlose Schnelltests sind noch immer nicht erhältlich und beim Impfen kommen die Länder langsamer voran als möglich – spielte dabei offenbar keine Rolle. Die Coronabeschränkungen sollen trotzdem gelockert werden.

Entscheidendes Kriterium bleibt dabei die 7-Tage-Inzidenz, also die Zahl der Neuinfektionen pro 100.000 Ein­woh­ne­r*in­nen innerhalb einer Woche. Als Grenzwert gilt ab jetzt wieder eine Inzidenz von 50. Der Wert von 35, der beim letzten Bund-Länder-Gipfel auf Druck von Merkel wegen der zusätzlichen Gefahr durch die Mutation festgelegt worden war, ist damit hinfällig. Auch bei Inzidenzen, die zwischen 50 und 100 liegen und nicht steigen, sollen Lockerungen möglich sein, aber mit mehr Auflagen. Ob einzelne Kreise als Maßstab gelten, größere Regionen oder ganze Bundesländer, lässt der Beschluss offen.

Unabhängig von den Inzidenzen dürfen nächste Woche Buchhandlungen und Gartenmärkte wieder öffnen; sonstige Geschäfte sowie Museen dürfen ab dann bei einer Inzidenz unter 50 generell öffnen und bei Werten zwischen 50 und 100 mit vorheriger Terminbuchung. Auch Sport im Freien soll von nächster Woche an wieder begrenzt möglich sein.

Schule ist auf einmal kein Thema mehr

Danach sehen die Pläne zwei weitere Öffnungsschritte vor, doch ob diese Realität werden, ist offen. Denn sie sind an sinkende oder stabile Inzidenzen gekoppelt, und die scheinen angesichts der Verbindung aus dem wachsenden Anteil der Mutationen und den vorherigen Öffnungen wenig wahrscheinlich. Sollten die Zahlen aber tatsächlich nicht steigen, dürfen dann ab 22. März Gastronomie im Freien sowie Theater, Konzerthäuser, Kinos und Sporthallen wieder öffnen – in Regionen mit Inzidenz unter 50 generell, bei stabiler Inzidenz zwischen 50 und 100 mit tagesaktuellem Test. Ab Ostern könnte dann der Einzelhandel auch bei Inzidenzen zwischen 50 und 100 wieder ohne Terminpflicht öffnen.

Unabhängig von den Inzidenzen dürfen sich zudem ab sofort wieder bis zu fünf Personen aus zwei Haushalten privat treffen. Und anders als bisher zählen Kinder unter 14 dabei nicht mit. In Regionen mit einer Inzidenz unter 35 sollen sich bis zu zehn Personen aus drei Haushalten treffen dürfen.

Keinerlei Angaben finden sich im Abschlusspapier zur weiteren Öffnung der Schulen, die eigentlich Vorrang vor allen sonstigen Öffnungen haben sollte. Hier können die Länder demnach selbst entscheiden, für welche weiteren Klassenstufen, wann und in welcher Form der Präsenzunterricht wieder aufgenommen wird. Auch von der Ankündigung, dass weitere Öffnungen mit einem umfassenden Testangebot verknüpft werden, bleibt nur wenig übrig: Angekündigt wird gerade mal ein kostenloser Schnelltest pro Woche.

Während es bei den Öffnungen offenbar wenig Konflikte gab, soll es beim Thema Geld zu einem heftigen Wortgefecht zwischen Finanzminister Olaf Scholz (SPD) und Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) gekommen sein. Der Streit drehte sich um die Frage, inwieweit sich die Länder finanziell am Härtefallfonds für die Wirtschaft beteiligen müssen. Die Details wurden schließlich vertagt.

Etwas von Merkels bisheriger Vorsicht findet sich übrigens doch noch im Abschusspapier: Sie hat eine sogenannte Notbremse durchgesetzt. Wann immer die regionale Inzidenz für drei Tage über den Wert von 100 steigt, werden alle Öffnungen wieder zurückgenommen und die derzeitigen Regeln gelten wieder. Zumindest sofern nicht auch dann wieder anders entschieden wird, als zuvor angekündigt.

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6 Kommentare

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  • Es ist doch relativ klar, was als Nächstes passiert:

    Man muss die "alte" Virusvariante und die neue getrennt betrachten, als wären es zwei verschiedene Viren, sie haben unterschiedliche Inzidenzzahlen, unterschiedliche R-Werte, etwas unterschiedliche Gefährlichkeit und so weiter. Die eine, alte, Variante nimmt bei den bestehenden Maßnahmen mit etwa 10% pro Woche ab. Die andere Variante B.1.1.7 verdoppelt sich momentan alle zwei Wochen. Deswegen steigt der Anteil der zweiten Variante, während die Gesamt-Inzidenzzahl im Februar gefallen hat. Man hat rechnerisch eine Überlagerung von zwei Exponentialfunktionen, einer abnehmenden, und einer zunehmenden, die sich summieren.

    Bei so einer Überlagerung wird ein Minimum erreicht und dann geht es wieder hoch - erst langsam, dann schnell, wie das bei Exponentialfunktionen so ist.

    Sobald man "lockert", dürften sich diese Verdopplungen erheblich beschleunigen.

    Statt dessen hätte man verhandeln sollen, welche weiteren Eindämmungsmaßnahmen effektiv sind und wo man sozial sehr teure Maßnahmen wie Schulschließungen möglicherweise durch ANDERE, ebenfalls effektive Maßnahmen ersetzen kann.

    Letztendlich sehe ich die Politik der Bundesländer inzwischen so, dass sie mehr oder weniger unverhüllt das "britische Modell" nachahmen: Es wird lauthals versprochen, auf die Empfehlungen der Wissenschaftler und Fachleute zu hören, und anschließend werden sie ignoriert oder gar sabotiert.

  • Sieg der Streeckisten über die Drostianer?

    Für „Die Zeit“ von gestern habe sich



    „Fast unmerklich ... auf der Ministerpräsidentenkonferenz ein zentraler Kurswechsel vollzogen: Wir diskutieren, wie wir mit dem Virus leben wollen.“

    Sollte diese Beschreibung wirklich zutreffen, man kann sich da aller jüngster Erfahrung nach allerdings nie sicher sein, käme dies einem Paradigmenwechsel in der Anti-Corona-Strategie gleich, wie er die Professoren Streeck, Schrappe, Raoult, Ioannidis et al. schon seit dem Frühjahr anraten. Es wäre, grob gesprochen, ein kleiner Sieg der Streeckisten über die Drostianer. Die bizarre, weil illusionäre Zero-Covid-Politik wäre dann wohl vernünftigerweise begraben. Und das wäre gut so.

    • @Reinhardt Gutsche:

      "Die bizarre, weil illusionäre Zero-Covid-Politik..."

      Was genau ist so bizarr daran, dass Länder wie Neuseeland, Australien etc. nur noch in Ausnahmefällen Lockdown-Maßnahmen verhängen müssen, um mit wesentlich weniger Einbußen als wir durch die Krise zu kommen?

      "Leben mit dem Virus" bedeutet mit höchster Wahrscheinlichkeit, dass es sich weiter exponentiell verbreitet (das ist nunmal seine Natur). Und wieder ist das fiese: das sieht am Anfang ganz langsam und ungefährlich aus, bis es zu spät ist.

      In einem stimme ich allerdings zu: es wird viel zu viel über Details diskutiert, und viel zu wenig über die Strategie.

      Ich vermute, die aktuelle "Strategie" ist nicht das Ergebnis einer bewussten Entscheidung, sondern das Ergebnis von Rumwurschteln, und es möglichst vielen recht machen wollen.

  • Markus Söder hat vor allem mittlerweile ein großes Problem, weil er bald nicht mehr weiß in welchen Wind er seine Fahne hängen soll.

    Söder vertritt weder die Interessen der deutschen, noch der bayerischen Bevölkerung.



    Sein einziges Interesse sind seine eigenen, persönlichen Ambitionen.

  • Ich bin sehr enttäuscht. Oder.. eigentlich doch nicht, zeigt das Bsp. doch mal wieder, wer hier das Sagen hat. Monatelange inszenierten sich einige Politiker als Krieger gegen Covid. Und nun - schlapp gemacht. Schlapp gemacht vor den Lockerungsfanatikern aus der Wirschaft, denen alles außer Geld relativ egal ist. Auch dafür werden sie wohl noch um Entschuldigung bitten - fragt sich, ob man ihnen nochmal verzeiht. Ich täte es nicht.

    • @Bunte Kuh:

      > Schlapp gemacht vor den Lockerungsfanatikern aus der Wirschaft, denen alles außer Geld relativ egal ist.

      Das ist etwas zu einfach, die ständigen halbherzigen Maßnahmen mit der völlig absehbaren Folge einer ewigen Verlängerung der Lockdowns tun "der Wirtschaft" als solches ganz gewiss nicht gut - weder dem Biergarten hinter meinem Haus noch der Masse der kleinen und mittleren Unternehmen in Deutschland, die vom Geld der Konsumenten leben.

      Wir wissen von Australien, dass es anders geht (die EU blockiert übrigens gerade die Exporte von AZ nach Australien, weil da ja keine Gefährdungslage bestehe).

      Die Frage ist sehr berechtigt, wessen Interessen das eigentlich dient. Im noch günstigsten Fall ist das einfach in ideologisch durchgebranntes extrem kurzfristiges Denken bis zum nächsten Quartalsbericht. Die Untätigkeit angesichts der auf uns zu rollenden Klimakatastrophe, für die solch kurzfristiges Denken ebenfalls ein großer, vielleicht entscheidender Faktor ist, macht das durchaus plausibel.

      Vielleicht sind unsere Institutionen aber auch einfach zu sehr erstarrt und verbarrikadiert in Einzelinteressen der verschiedenen wirtschaftlich mächtigen Lobbygruppen, um noch angemessen auf eine Krise reagieren zu können. Denn das Problem des überbordenden Lobbismus ist, er kann Interessen nicht offen verhandeln, wie das in einer wirklichen Demokratie notwendig ist.

      Wie in anderen Fällen auch, gibt es aber hier auch Krisengewinner, wie z.B. die großen Onlinehandels-Unternehmen. Firmen wie Amazon dürften sich insgeheim nur wünschen, dass diese Krise noch ein paar Jahre weiter geht. Disaster Capitalism halt.