Corona und soziale Ungleichheit: Das Quadratmeter-Privileg
Die Krise macht uns nicht gleicher, im Gegenteil. Eine repräsentative Studie zeigt, wie sich Lebensverhältnisse aufs Infektionsrisiko auswirken.
D ie meisten Menschen in meinem Umfeld haben Coronawinter und -frühjahr gut überstanden. Mit emotionalen Kratzern und Wunden, mit viel Stress, Sorgen, auch Leid. Aber fast alle sind gesund geblieben, Arbeitsplatz oder Aufträge blieben erhalten. Viele meiner Freund:innen, wie ich, sind mit großen Privilegien durch die zweite und dritte Coronawelle gekommen: genügend Wohnraum, Zugang zu allen wichtigen Informationen, Jobs, die wir von zu Hause aus erledigen konnten, emotionale Unterstützung, wenn wir sie brauchten.
Dass es vielen Menschen anders erging, belegt eine gerade veröffentlichte repräsentative Studie der Universität Mainz. Sie untersucht den Verlauf der Pandemie im Zeitraum zwischen Oktober 2020 und April 2021.
Ein Ergebnis aus dem Bereich Arbeiten und Wohnen: Das Risiko, sich mit dem Coronavirus zu infizieren, lag bei Menschen, die nicht im Homeoffice arbeiteten, bei 4,2 Prozent. Für Angestellte, die ihre Arbeit von zu Hause aus erledigen konnten, lag die Ansteckungswahrscheinlichkeit bei nur 2,9 Prozent.
Für erwerbslose Menschen (die in der Regel über weniger Geld verfügen) lag das Risiko auch höher, bei 4,3 Prozent, was auf einen weiteren Punkt hindeutet, den die Studie untersucht hat: prekäre Wohnverhältnisse. Darunter verstehen die Wissenschaftler:innen einen Wohnraum von weniger als 9 Quadratmetern pro Person – oder wenn die Wohnkosten mehr als 50 Prozent des Einkommens ausmachen. Für Menschen, bei denen einer oder beide Punkte zutreffen, war das Risiko, sich mit dem Virus anzustecken, um 60 Prozent höher als bei Menschen, die nicht in prekären Verhältnissen leben.
Wer wenig hatte, hat nun noch weniger
Diese höhere Ansteckungsquote hat übrigens nichts mit dem Verhalten dieser Menschen zu tun – auch das hat die Studie untersucht: Menschen in prekären Wohnverhältnissen halten sich genauso an die Hygiene- und Präventionsmaßnahmen wie alle anderen. Aber müssen eben mit schwierigen Lebensumständen zurechtkommen. Die Studie hat auch untersucht, wer in der Krise finanziell am meisten verloren hat. Es sind die unteren Einkommensschichten. Wer schon vor der Pandemie wenig hatte, hat nun noch weniger.
Schließlich Impfen: Impfbereitschaft und -quote sind bei Menschen mit niedrigem sozioökonomischem Status laut Studie niedriger als bei wohlhabenderen. Logisch: Der Zugang zu Informationen ist oft beschränkt, durch Sprachbarriere oder weil Zeit und Ressourcen fehlen. Die Impfkampagne war aber von Anfang an nicht auf diese Menschen ausgerichtet.
Das mag alles keine Überraschung sein, aber es ernüchtert doch, die Zahlen in dieser Studie zu sehen. Egal welche Krise – es sind immer wieder die gleichen Gruppen der Gesellschaft, die am meisten leiden müssen. Und die Politik richtet sich weiter an denen aus, denen es gut geht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Sport in Zeiten des Nahost-Kriegs
Die unheimliche Reise eines Basketballklubs