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Chemikalien in LebensmittelverpackungenDer Kampf um das Vorsorgeprinzip

Giftige Chemikalien raus aus Lebensmittelverpackungen, fordern Verbraucherschützer – kurz bevor die EU ihre neue Chemikalienpolitik vorstellt.

Gut verpackt aber nicht unbedenklich Foto: Karsten Thielker

Berlin taz | Neue Regeln für Lebensmittelverpackungen fordert der Verbraucherzentrale Bundesverband (vzbv). Verbraucher müssten sich darauf verlassen können, dass Geschirr und Lebensmittelverpackungen unbedenklich seien.

„Es braucht dringend wirksamere Gesetze und bessere Kontrollen, um diese Belastungen durch Schadstoffe zu verringern und die Gesundheit von Verbrauchern besser zu schützen“, sagt Klaus Müller, Vorstand des vzbv. „Phthalate, die als Weichmacher in Kunststoffen eingesetzt werden, sind in Textilien verboten, in Trinkflaschen jedoch weiterhin erlaubt. Scheinbar nachhaltige Produktalternativen, wie Coffee-to-go-Becher mit Bambus setzen bei dem Kontakt mit warmen Flüssigkeiten Formaldehyd frei. Das muss sich ändern“, so Müller.

Den Zeitpunkt seiner Forderungen hat der vzbv geschickt und wohl mit Absicht gewählt: Am nächsten Mittwoch will die EU-Kommission ihre neue Chemikalienstrategie vorstellen. Diese Strategie ist Teil des Großprojektes Green Deal und soll die Chemikalienpolitik der EU sowohl effizienter als auch effektiver machen.

Seit Monaten laufen die Lobbyaktivitäten der Industrie auf Hochtouren, um neue Vorschriften zu verhindern – mit den alten fährt die Industrie nämlich ganz gut. Regulierungen von schwer greifbaren Schadstoffen wie hormonell wirksamen Chemikalien, den „Endokrinen Disruptoren“, konnte sie verzögern, zudem dauert es aus Industriesicht erfreulich lange, bis ein Stoff durch die EU-Behörden bewertet und reguliert wird.

Wenn jede Chemikalie einzeln bewertet wird, dauert das viel zu lange

Ninja Reineke, Chemtrust Europe

Eigentlich wollte die EU-Kommission ihre neue Chemikalienpolitik schon im Frühjahr vorstellen, intern wird heftig über ihre Ausrichtung gestritten. Erst kürzlich kritisierte das Europäische Umweltbüro (eeb) aus Brüssel die Haltung der Generaldirektion Gesundheit, die keine Notwendigkeit für strengere Vorschriften sieht.

„Die EU muss endlich dazu übergehen, Chemikalien in Gruppen zu bewerten“, fordert hingegen Ninja Reineke von der Organisation Chemtrust Europe. „Wenn jede Chemikalie einzeln bewertet wird, dauert das viel zu lange.“ Das würde bedeuten, dass Substanzen mit sehr ähnlicher Struktur und ähnlichen Eigenschaften gemeinsam bewertet und gegebenenfalls in der Verwertung beschränkt oder verboten würden – bei rund 23.000 Chemikalien, die bislang bei der EU-Chemikalienagentur Echa von Unternehmen angemeldet wurden, wäre das für die Behörde eine echte Erleichterung.

Die Europäische Chemikalienpolitik basiere eigentlich auf dem Vorsorgeprinzip, sagt Reineke. Problematische Chemikalien müssen schon identifiziert und bewertet werden, bevor Arbeiter oder Verbraucher mit ihnen in Berührung kommen. Doch dieses Prinzip funktioniere bislang nicht ausreichend, weil die Prozesse zu lange dauerten, sagt die Chemikalienexpertin.

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1 Kommentar

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  • Eine „echte Erleichterung“ stelle ich mir irgendwie anders vor.

    Welche Substanzen „sehr [...] ähnliche[] Eigenschaften“ haben, lässt sich schließlich nur durch direkte Vergleiche feststellen. Um aber vergleichen zu können, muss jede Substanz für sich untersucht werden. Es sei denn, das wissenschaftliche Arbeiten würde durch ein Glaubenssystem ersetzt.

    Wie wäre es also mit einem Moratorium an Stelle der üblichen Beschränkungen oder Verbote? Wer auf dieser Welt (Abgesehen von den Herstellern und Vermarktern), braucht denn schon 23.000 zusätzliche, potentiell giftige Chemikalien?

    Würde das Vorsorgeprinzip ernst genommen, würden zunächst erst einmal alle bereits zugelassenen Verpackungsmittel einer erneuten, kritischen Prüfung unterzogen. Steht dann irgendwann fest, dass sie auch nach aktuellem Wissensstand ungefährlich sind, kann ja nach und nach die Warteliste abgearbeitet werden. Wobei womöglich ein Gesetz hilfreich wäre, das Neuzulassungen nur noch im Zusammenhang mit dem Ersatz eines Altproduktes zulässt.

    Aber klar: Das wäre extrem anstrengend. Vor allem für die Zuständigen. Man(n) kann nicht nur Gutes tun in so einem Szenario, sondern braucht so etwas wie ein eigenes Rückgrat. Und das hat ja schon bei den übrigen Gesetzen immer gefehlt bislang.

    Der Gesetzes-Dschungel in unserem Rechtsstaat wird auch immer noch dichter. Schon derzeit kann gar niemand mehr den ganzen Salat überblicken. Eventuelle toxische Wirkungen der einen auf die anderen Gesetze bzw. aller zusammen auf die Gesamtgesellschaft bleiben also zwangsläufig auch hier unerkannt. Vorsorge? Wer wird denn gleich...?