Chefankläger von Nürnberger Prozessen: „Putin soll einen Prozess bekommen“
Der Jurist Benjamin Ferencz war nach dem Zweiten Weltkrieg Ankläger bei den Nürnberger Prozessen. Er will Putin vor Gericht sehen.
taz: Herr Ferencz, was halten Sie von dem großen Krieg, der jetzt auf europäischem Boden stattfindet?
Benjamin Ferencz: Es ist ein Skandal, was jetzt geschieht. Die wichtigsten Länder, der UN-Sicherheitsrat, aber auch der Papst und alle Meinungsführer müssen einen sofortigen Waffenstillstand zwischen Russland und der Ukraine fordern. Niemand sollte mehr schießen, die Waffen sollten niedergelegt werden, bis wir diesen Fall vor Gericht bringen.
Und wie soll das gehen?
Es ist an der Zeit, die Waffen niederzulegen. Man kann einen Konflikt nicht dadurch lösen, dass man viele unschuldige Menschen tötet, denn genau das passiert gerade. Das ist beschämend und ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Die verantwortlichen Führungskräfte müssen sich daher vor Gericht verantworten.
Welches Gericht sollte das tun?
Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag ist bereits seit Jahren tätig und kann sich mit dieser Angelegenheit befassen. Auch Streitigkeiten zwischen Ländern können dort beigelegt werden. Allerdings gibt es Probleme bei der Frage, wer dieses Gericht anerkennt. (Anm. d. Red.: Russland und USA tun das nicht)
wurde 1920 im heutigen Rumänien geboren. Seine jüdischen Eltern wanderten in die USA aus. Er wuchs in Manhattan auf, studierte Jura an der renommierten Harvard Law School und spezialisierte sich auf Kriegsverbrechen. 1944 war er als US-Soldat an der Befreiung der Normandie beteiligt. Im Jahr 1947 war Ferencz bei den Nürnberger Prozessen Chefankläger gegen die „Einsatz-Gruppen“, paramilitärische Todesschwadronen der Nazis.
Wir haben das Jahr 2022. Erinnert Sie das alles an Ihr eigenes Leben und die europäische Geschichte?
Ja, die Geschichte wiederholt sich, wenn die Menschen nicht aus ihr lernen. Es scheint, dass sie den Krieg dem Frieden vorziehen.
Sie haben für das Kriegsverbrecher-Tribunal in Nürnberg als Chefankläger und davor als US-amerikanischer Soldat am Omaha Beach in der Normandie gewirkt.
Ich hatte mit den deutschen Einsatzgruppen in Nürnberg zu tun. Es waren „Mordkommandos“, die in die Ukraine und in Länder wie Russland gegangen waren. Sie ermordeten kaltblütig jeden jüdischen Mann, jede jüdische Frau und jedes jüdische Kind, das sie in die Finger bekamen, sowie andere vermeintliche Feinde der extremen Rechten. Ich habe 22 hochrangige Nazis dafür angeklagt, und sie wurden alle innerhalb von zwei Tagen verurteilt.
Haben Sie jetzt Angst vor einem großen Krieg in Europa?
Es ist entsetzlich, dass dies im Jahr 2022 geschieht. Es hat den Anschein, dass wir in die Zeit der Gesetzlosigkeit zurückkehren, als es noch keine Gerichte oder Regeln gab. Jetzt werden die Grundrechte verletzt und Menschen getötet.
Der US-amerikanische Präsident Biden nannte Putin einen Kriegsverbrecher und forderte die Russen auf, ihn loszuwerden. Eine gute Idee?
Es wäre gut, wenn die Menschen ihre Differenzen nicht mit Gewalt austragen würden. Sie töten Unschuldige. Und es geht noch viel weiter mit ihrem Cyberkrieg und der Drohung eines Atomkriegs. Die Welt wird also zu einem gefährlichen Ort. Und wir hängen zu sehr an ein paar ehrgeizigen Politikern, die Politik machen und junge Menschen schicken, damit sie andere junge Menschen töten, die sie nicht einmal kennen.
Furchtbar, oder?
Das ist es, was jetzt geschieht. Man sollte meinen, dass sie aus dem Zweiten Weltkrieg und den Erfahrungen mit dem Nürnberger Tribunal und den Kriegsverbrechen gelernt hätten. Dass Menschen für ihr Verhalten verantwortlich gemacht werden können, wenn sie für ihre Ideologie unschuldige Menschen töten. Das ist eine unmenschliche Art, Geschäfte zu machen. Wir können nicht auf diese altmodische Art und Weise weitermachen.
Die westlichen Regierungen meiden eine direkte Intervention in der Ukraine. Sollten sie sich einmischen?
Sie sollten das tun, was notwendig ist, um das Töten zu stoppen. Das heißt aber nicht, dass sie mehr Menschen töten sollten. Dies ist eher ein Appell an das russische Volk. Die wollen doch auch keinen Krieg. Und die Ukrainer sowieso nicht.
Was ist die Lösung?
Werft eure Waffen weg! Waffenstillstand! Das war früher eine normale Sache im Krieg. Ich war Soldat im Zweiten Weltkrieg. Ich habe vom Pentagon fünf Sterne erhalten, weil ich nicht in den großen Schlachten des Krieges gefallen bin.
Sie wurden vielfach geehrt.
Die Königin der Niederlande hat mir vor einigen Jahren eine Auszeichnung verliehen und ich habe alle möglichen Medaillen für mein Leben erhalten. Das war für den Frieden. Für mein Motto „Law, not war“ („Recht, nicht Krieg“). Und für meinen Slogan: „Niemals aufgeben“. Die Dinge sind besser geworden, aber wir dürfen uns nicht einschüchtern lassen. Wir müssen uns den Gefahren stellen, denen wir ausgesetzt sind.
Wie lassen sich Recht und Krieg vereinbaren?
Junge Menschen sind im Krieg am meisten gefährdet. Denn sie werden ausgesandt, um andere zu töten, die sie nicht einmal kennen. Das ist das derzeitige System. Das ist grausam. Sie sollten zivilisierte Menschen sein. Wenn Sie eine Straftat begehen, sind Sie verantwortlich. Man kann jemandem nicht in den Rücken schießen. Es gibt gute Ratschläge von Dwight D. Eisenhower, dem alliierten Befehlshaber im Zweiten Weltkrieg und Präsidenten der USA. In seiner Abschiedsrede sagte er: „Die Welt kann nicht länger auf Macht basieren. Wenn die Menschheit überleben will, muss sie die Rechtsstaatlichkeit akzeptieren“. Das ist mein Leitprinzip.
In Den Haag wurden die Serben-Führer Milošević, Karadžić und auch Mladić angeklagt. Glauben Sie, dass Herr Putin in ein paar Jahren nach Den Haag gebracht werden wird?
Das kann ich nicht beantworten. Aber ich hoffe es. Es geht in diese Richtung. Es dauert eine Weile. Wir haben den Krieg jahrhundertelang verherrlicht. Du warst ein Held, wenn du so viele Menschen wie möglich getötet hast. Aber diese Gedanken müssen wir loswerden. Diese Zeiten sind vorbei. Heutzutage ist es zu gefährlich. Es gibt die Cyber-Kriegsführung. Viele Länder sind bereits in der Lage, die Stromzufuhr auf dem Planeten abzuschalten oder alle Menschen zu töten. Das ist die heutige Situation. Aber manche verhalten sich, als ob sie noch im Mittelalter leben würden. Wir müssen also in der Realität aufwachen. In den Krieg zu ziehen, ist jetzt zu gefährlich.
Es scheint nicht so, dass Russland einlenkt. Sollte der Westen militärisch intervenieren?
Nein. Denn in den Krieg zu ziehen und das Töten zu verstärken, hilft auf lange Sicht nicht. Es gibt andere, friedliche Mittel, um dieses Ziel zu erreichen.
Wenn Putin nicht aufgibt, sollte ihn jemand aufhalten, um den Krieg zu beenden?
Ich weiß nicht, wer das tun sollte. Ich bin nicht für eine Neutralisierung. Ich möchte, dass er einen Prozess bekommt und sich verteidigen kann. Lassen Sie ihn reden. Ob er nur Befehle ausführen lassen wollte oder andere Ausreden bringt. Aber man sollte ihn nicht auf dem Plüsch sitzen lassen. Es ist nicht schlimm, zu sagen, dass man froh ist, wenn er weg ist.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Schwedens Energiepolitik
Blind für die Gefahren