Caroline Schmitt „Liebewesen“: Welten krachen gegeneinander
Caroline Schmitt beschreibt in ihrem Debütroman ein Paar mit allzu verschiedenen Prägungen. Eines, das gar nicht zueinander finden kann.
Lio und Max lernen sich über eine Datingapp kennen, eher unfreiwillig durch Freunde initiiert, die genug haben vom traurigen Singledasein des Gegenübers. Lieben lernen sie sich sehr unverbindlich, langsam, sich gegenseitig abwechselnd mit dem Wunsch nach mehr Bindung oder mehr Freiheit, wie zwei Autos, die alternierend beschleunigen und bremsen und so nie gleichzeitig ankommen.
So weit, so zeitgenössisch ist dieses Paar, um das sich Caroline Schmitts Debütroman „Liebewesen“ aufbaut. Die Schreibweise, die Lios Perspektive einnimmt, seziert präzise das Innenleben einer jungen Frau, die sich selbst fremd ist: Lio fühlt sich „abwechselnd wie ein Roboter und wie ein Tier, das gerade geboren wurde und sich sofort verteidigen musste, aber nicht wusste, wie“, wenn sie versucht, mit Max körperliche Nähe herzustellen.
Sie konnte weder die Gewaltausbrüche ihrer Mutter aufarbeiten, denen sie ohnmächtig ausgeliefert war, noch Worte für die Vergewaltigung finden, die sie auf einem Dorffest in ihrem Heimatort erlitten hat. Lio erträgt Körperlichkeit, anstatt sie genießen zu können. Mit Max ist es für sie nicht am schönsten, sondern am wenigsten schlimm.
Mädchen aus der Provinz
Schmitt schildert unaufdringlich und nie plakativ, was es bedeutet, wenn innerhalb einer Beziehung soziale Milieus aufeinanderprallen. Sie ist das fleißige, hochintelligente Mädchen aus der Provinz mit Eltern, die zu wenig hatten, aber nie nach mehr fragen würden, und empfindet ihr Studium als „schwer zu fassendes, oft unerträglich großes Glück“.
Caroline Schmitt: „Liebewesen“. Eichborn, Köln 2023. 221 Seiten, 20 Euro
Er ist faul und unorganisiert, aber charmant und, nun ja, männlich: „Weil Männer nicht mit ansehen können, dass andere Männer ihr Potential nicht voll ausschöpfen, ist die Welt so, wie sie ist.“
Max geht mit einer Leichtigkeit und Eloquenz durchs Leben, die Menschen seines Milieus gemeinsam mit dem schwarzen Cabrio zur Volljährigkeit geschenkt bekommen. Lio dagegen ist die erste Akademikerin ihrer Familie. Sie hat eine einzige Chance, er unendlich viele Freiversuche. Als „obszön“ empfindet Lio die „schnoddrige Selbstverständlichkeit, mit der Max Luxus aufaß oder wegtrank“.
In Lios Verhältnis zu ihrem Vater skizziert Schmitt die wortlose Liebe, die zwischen Eltern und Kind herrscht, wenn beide zu verschieden sind, um in derselben Sprache miteinander sprechen zu können („Die Liebe steckte in meinem ‚Wie geht es den Himbeeren?‘ und dem ‚Oh nein‘, wenn er schrieb, dass das Ungeziefer in diesem Jahr besonders aggressiv sei“), und eine Elternfigur, die eigentlich nie da war und zu dem verklärt wird, was sie hätte sein können.
Schamgefühle
Die Verwirrung darüber, einen ganz anderen Partner gewählt und sich damit offensiv gegen die eigene Herkunft gewendet zu haben, schmerzt Lio: „Vor meinem Vater schämte ich mich für Max, vor Max schämte ich mich für meinen Vater.“ So wird der menschenunwürdige Tod des Vaters, der „reichen Leuten nicht passiert wäre“, zum weiteren Beweis für die unüberwindbare Kluft, die zwischen Lios und Max’ Herkunft herrscht: Max bezahlt das Hotel, als das Paar den Verstorbenen besucht, in ihrer Trauer aber bleibt Lio völlig isoliert.
Dass Lios Abtreibung schließlich mit sehr ähnlichen Worten beschrieben wird wie Jahrzehnte zuvor in Annie Ernaux’ „Das Ereignis“, lässt den verstörenden Eindruck zurück, dass die inzwischen einfacheren Umstände nicht immer weniger Leid bedeuten. Lio kann zum ersten Mal echte Ruhe empfinden, als sie über das ungeborene Leben in ihrem Bauch streicht, und sieht sich dennoch nicht in der Lage, das Verhalten ihrer Eltern nicht zu wiederholen: „Wie konnte irgendjemand, der dort aufgewachsen war, wo ich herkam, guten Gewissens Kinder bekommen?“
Mit ihrem Debütroman malt Schmitt beide Parteien einer Liebe mit langem Ende so, dass die Schuldfrage ungeklärt und irrelevant bleibt. Lio und Max sind Resultate ihrer Biografien. Als Paar allerdings, und das ist wohl das tragischste Fazit einer Liebesgeschichte, sind sie nicht lebensfähig.
„Vielleicht krachen nicht wir gegeneinander, sondern die Welten, aus denen wir kommen“, lässt Schmitt Max sagen. „Liebewesen“ behandelt eine Lebensphase, in der entschieden werden muss, wie sehr Kindheitsprägungen das selbstgewählte Leben einfärben sollen, und endet mit der Vermutung, dass man auch Erwachsensein üben muss, bevor es gelingt.
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