Bundesweiter Bildungsprotest: Die Bildungskrise des Kanzlers
Am Samstag demonstrieren in 29 Städten Menschen für ein besseres Bildungssystem. Sie fordern 100 Milliarden – und einen aktiveren Kanzler.
Die Bildungsgewerkschaft gehört zu dem breiten Bündnis, das zu dem Protest in Hessen aufgerufen hat. Gut zwei Wochen vor der Landtagswahl wollen die Initiator:innen ein Signal an die Politik senden. In der nächsten Legislaturperiode müsse die Politik die Bildungskrise stärker in den Fokus rücken. „In allen Bildungsbereichen ist es normal geworden, den Mangel zu verwalten“, kritisierte Hartmann. Das müsse sich endlich ändern.
In den übrigen 15 Bundesländern findet der Protest am Samstag statt. In 29 Städten sind Kundgebungen angemeldet. Die Ziele sind die gleichen wie in Hessen. Das bundesweite Bündnis „Bildungswende jetzt!“ fordert die Bundesregierung und die Landesregierungen auf, die Weichen für ein „gerechtes und inklusives“ Bildungssystem zu stellen. Mehr als 150 Bildungsorganisationen, Gewerkschaften, Kitaverbände, Eltern- und Schüler:innenvertretungen unterstützen den Protest.
„Das Ausmaß der Bildungskrise ist mittlerweile so groß, dass die politischen Entscheidungsträger:innen es jetzt endlich mit Priorität anpacken müssen“, sagt der Mitinitiator des Bildungsprotestes Philipp Dehne zur taz. Wenn nicht, würde die Gesellschaft immer mehr Kinder verlieren, um die sich Erzieher:innen und Lehrkräfte wegen der schlechten Arbeitsbedingungen nicht mehr ausreichend kümmern könnten.
Vier Forderungen gegen Bildungskrise
Im Kern stellt das Bündnis vier Forderungen auf. Erstens ein Sondervermögen für Bildung über mindestens 100 Milliarden Euro für die notwendigen Investitionen in Kitas und Schulen sowie eine Anhebung der Bildungsausgaben auf 10 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Zweitens ein Staatsvertrag, der alle Bundesländer dazu verpflichtet, genügend Lehrkräfte auszubilden sowie mehr Praxisbezug im Lehramtsstudium.
Drittens eine Neuorientierung von Lehrplänen hin zu einer Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE), die Schüler:innen mehr auf die Herausforderungen der Zukunft vorbereitet. Und viertens einen Bildungsgipfel mit Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), bei dem Lehrkräfte und Schüler:innen auf Augenhöhe über die Lösungen für die Bildungskrise sprechen können.
Tatsächlich sind die Probleme im Bildungssystem gewaltig. Aktuell fehlen bundesweit fast 400.000 Kitaplätze. Jedes vierte Grundschulkind kann am Ende der vierten Klasse nicht richtig lesen. Rund 50.000 Jugendliche verlassen jedes Jahr die Schule ohne Abschluss. Die Chancen für Kinder aus sozial benachteiligten Familien, es aufs Gymnasium zu schaffen, sind immer noch sehr gering. Und von denen, die ein Studium beginnen, ist ein Drittel von Armut gefährdet. Dazu ist der Personmangel an Kitas und Schulen gewaltig.
Erst in dieser Woche haben zwei Studien gezeigt, wie vielschichtig die Krise ist. Eine Umfrage der Robert Bosch-Stiftung unter Lehrkräften hat ergeben, dass die Kinderarmut an Schulen deutlich zugenommen hat und Kinder von der sozialen Teilhabe ausschließt. Und dann warnt eine Hochrechnung der GEW, dass im Jahr 2035 sogar mehr als 500.000 Lehrkräfte fehlen werden.
„Die subjektiven Erfahrungen von uns Fachkräften, dass es nicht mehr geht, wird gefühlt alle paar Wochen von einer Studie bestätigt“, sagt Dehne vom Bündnis „Bildungswende Jetzt!“ Das Eklatante sei, dass die Politik nicht radikal umsteuert, um dieser Krise zu begegnen. Aus diesem Grund fordern Dehne und seine Mitstreiter:innen, dass Kanzler Scholz die Bildungskrise zur Chefsache mache.
Bereits im Juni hat das Bündnis den Ministerpräsident:innen der Länder ihre Forderungen überreicht. Niedersachsens Stephan Weil und Hendrik Wüst aus Nordrhein-Westfalen nahmen damals den Brief im Namen der SPD- und der unionsgeführten Länder entgegen. Eine Übergabe des Appells an den Kanzler hat damals nicht geklappt.
Am Mittwoch gab sich Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) durchaus selbstkritisch. Die Menschen und Familien warteten darauf, dass auch die Politik Signale setze, dass Bildung wirklich ernst genommen wird und Priorität hat, sagte sie im RBB-Inforadio. Sie äußerte aber die Hoffnung, dass ärmere Schulkinder ab dem Schuljahr 2024/25 durch das geplante Startchancen-Programm stärker unterstützt würden. Am Donnerstag gab Stark-Watzinger bekannt, dass sich Bund und Länder auf die Eckpunkte des Programms verständigt haben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind