Bürgergeld und Armut: Löchriger Rettungsschirm
Der Streit ums Bürgergeld hat gezeigt, wie Arme politisch instrumentalisiert werden. Dabei muss der Staat gerade ihnen unter die Arme greifen.
D er Vermittlungsausschuss hat am Mittwochabend das Bürgergeld beschlossen, die Sozialleistung kommt voraussichtlich zum 1. Januar. Es gibt monatlich 53 Euro mehr im bisherigen Hartz-IV-Regelsatz und Verbesserungen etwa in den Weiterbildungschancen für Langzeitarbeitslose. Das ist zu begrüßen, aber erwartungsgemäß zu wenig. Wer, wie Hubertus Heil, das Bürgergeld als eine der größten Sozialreformen der vergangenen 20 Jahre bezeichnet, räumt damit ein, dass sozialreformerisch nicht viel passiert ist und die Messlatte für „große Sozialreformen“ sehr, sehr niedrig lag.
Dabei zeigt die unschöne Debatte um die vermeintliche Privilegierung von Langzeitarbeitslosen und deren mögliche Sanktionierung bei Pflichtverletzungen, wie diese Empfängergruppe immer wieder politisch instrumentalisiert wird, ohne dass man sich wirklich um deren Lebensrealität schert.
Das heißt nicht, dass es in Einzelfällen keinen Sozialmissbrauch gibt. Missbrauch gehört zu den Nebenwirkungen von Steuer- und Sozialsystemen. Für die Mehrheit aber gelten ein paar Fakten, die eher nicht so bekannt sind: Nur 42 Prozent der erwachsenen Bezieher:innen von Hartz-IV-Leistungen sind überhaupt als Arbeitslose gemeldet. Die anderen Leistungsempfänger:innen sind in Jobcenter-Maßnahmen, arbeiten mit Hartz-Aufstockung, betreuen kleine Kinder, pflegen Angehörige, machen gerade eine Ausbildung, sind aktuell erkrankt und anderes.
Von den 42 Prozent arbeitslos gemeldeten Leistungsempfänger:innen wiederum hat die Mehrzahl sogenannte „Vermittlungshemmnisse“, das heißt zum Beispiel, sie haben gesundheitliche Probleme, psychische Schwierigkeiten, sind älter, sprechen zu wenig Deutsch, können wegen der Kinder keine Schichtarbeit machen. Es ist vielen von ihnen eben nicht mal so eben möglich, einen Vollzeitjob als Paketzusteller:in oder Hilfspfleger:in anzufangen und durchzuhalten, auch wenn es diese Jobs gibt.
Der Name muss zum Auftrag werden
Der fehlende Berufsausbildungsabschluss ist dabei nur einer von vielen Hindernissen. Daher dürften die von der SPD propagierten Weiterbildungsmaßnahmen, so gut sie sind, für viele Betroffene oftmals gar nicht ausreichen, um sie in den Arbeitsmarkt zu bringen. Das Bürgergeld ist ein löchriger Rettungsschirm für Schicksale.
Deswegen darf die Debatte um das Geld, das man braucht, um Armut zu lindern, nicht abreißen, sondern muss im Gegenteil weitergehen. Dabei geht es etwa um die realen Wohnkosten in Städten, den Aufwand für den Lebensunterhalt und die Haushaltsenergie, die Menschen ohne eigenes Arbeitseinkommen nun mal nicht aus eigenen Mitteln finanzieren können. Der Name „Bürgergeld“ muss zum Auftrag werden. Wenn sich mit dem „Bürgergeld“ hingegen Armutslagen verfestigen, wird der Begriff zur Satire. Diese Gefahr besteht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Schwedens Energiepolitik
Blind für die Gefahren
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag