Bootsunglück im Mittelmeer: Vom Nildelta in den Tod
Viele der auf dem letzte Woche verunglückten Boot kamen aus Ägypten. Im Nildelta beginnt eine der Routen eines perfiden Schmugglersystems.
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Inwieweit die neun verhafteten Ägypter als Schlepper gearbeitet haben, ist jetzt eine Frage für die griechische Justiz. Vor dem Haftrichter erklärten die Männer ihre Unschuld. „Mein Mandant sagt, er sei auch nur ein Opfer und habe eine erhebliche Summe für eine Reise von Ägypten nach Italien gezahlt“, erklärte Dimitris Drakopoulos, ein Pflichtverteidiger eines Angeklagten. Er sei von sich aus ins Meer gesprungen, um Wasserflaschen zu holen, die ein Frachter zuvor abgeworfen hatte, nachdem auf dem Migrantenschiff das Wasser ausgegangen sei.
Wenn es sich bei den Verhafteten tatsächlich um Schlepper handelt, dann wohl nur um die ganz kleinen Fische. Es ist üblich, dass die Organisatoren der Schiffe günstigere Preise machen, wenn man an Bord Handlangerdienste leistet. Laut der unabhängigen ägyptischen Nachrichtenplattform Mada Masr berichteten Angehörige zweier der Festgenommenen, dass diese erst vor wenigen Wochen Ägypten verlassen hätten, um nach Europa zu reisen.
Die Hinterleute sitzen woanders. Einer der Namen, die im Zusammenhang mit der Tragödie genannt werden, ist der des Libyers Muhammad Abu Sultan, genannt „Kaiser des Meeres“, der auch der Besitzer des gesunkenen Boots sein soll. Mit seinen Brüdern Salem Abu Sultan, auch genannt „der Führer“, und Ali Abu Sultan unterhält er einen Schmugglerring in Tobruk, schreibt die ägyptische Nachrichtenseite Veto. In der ostlibyschen Stadt war das Boot gestartet.
Tausende Euro für eine Überfahrt
Doch das gesamte System der Schmuggler lässt sich nicht an einigen Namen festmachen, die auf lokaler Ebene zu Schmugglergrößen geworden sind. Es ist ein riesiger Schmugglerring, der sich aus dem Inneren Afrikas über Ägypten, Libyen und Tunesien bis nach Europa zieht. Von einem „gigantischen Spinnennetz“ spricht Gamal Gohar, der für die überregionale arabische Tageszeitung Asharq al-Awsat als Investigativreporter in Sachen Migration und Libyen arbeitet. „Das ist wie ein Markt mit Angebot und Nachfrage, und die Nachfrage wächst immer mehr.“
Die Menschen würden von einer Schlepperbande an die nächste übergeben, bis sie ihr Ziel erreicht haben. „Das ist wie ein Bewässerungssystem im Nildelta. Eine Pumpe transportiert das Wasser in einen Kanal und von dort wird es über andere Pumpen in weiter entfernte Kanäle geleitet“, beschreibt Gohar das System gegenüber der taz.
Im Nildelta in Ägypten befindet sich auch einer der Anfangspunkte des Systems. In den ärmlichen Dörfern sprechen sich die Namen der Ansprechpartner der Schlepper herum, auch über sozialen Medien. Sie fungieren unter falschem Namen, meist als „Hagg soundso“. Hagg ist im Arabischen die Anrede für einen ehemaligen Pilger nach Mekka, eine perfekte anonyme Anrede.
Auf den Weg machen sich vor allem junge Männer, aber auch Kinder und Minderjährige. Er kenne viele 13- oder 14-Jährige, die die Reise angetreten haben, oftmals mit einem älteren Bruder, sagt der ägyptische Investigativjournalist. Armut sei fast immer das Hauptmotiv.
Laut Weltbank leben zwei von drei Ägyptern unter der Armutsgrenze oder drohen in diese abzustürzen. Im ländlichen Nildelta sind die Zahlen noch höher. Die Inflationsrate im Vergleich zum Vorjahr liegt offiziell bei 33 Prozent, bei Nahrungsmitteln ist die Preissteigerung zum Teil noch höher. Das ägyptische Pfund hat seit März letzten Jahres die Hälfte seines Wertes verloren. Viele Familien stehen mit dem Rücken zur Wand. Oft erscheint die Fahrt übers Mittelmeer trotz aller Risiken als einzige Perspektive.
Der Preis für die Überfahrt nach Europa ist Verhandlungssache. Bis zu umgerechnet 4.500 Euro werden bezahlt. Viele Familien können sich das nur leisten, wenn sie ihr Vieh verkaufen oder sich massiv verschulden. „Sie versuchen, alles, was sie besitzen, zu Geld zu machen, um eines ihrer Kinder nach Europa zu schicken“, sagt Gohar.
Drogen für die Kinder
Kommt man ins Geschäft, liegt das erste Ziel hinter der libyschen Grenze. Dort werden die Menschen an eine andere Bande übergeben und in entlegenen Häusern „zwischengelagert“, wie es im Schmugglerjargon heiße, erzählt Gohar. Jetzt kommt es darauf an, in wessen Hände sie geraten sind. Handelt es sich um einen „ehrlichen Schlepper“, werden die Menschen nachts auf zehn- bis zwölfstündige Fußmärsche durch die Wüste geschickt.
Die nächtlichen Wanderungen wiederholen sich, bis die Gruppe ihr Ziel erreicht hat. Kindern wird dabei oft Tramadol verabreicht, ein Opioid, das eigentlich ein starkes Schmerzmittel ist. In Ägypten ist Tramadol zu einem Suchtproblem geworden, weil es oft bei schweren Arbeiten eingesetzt wird, etwa in Marmor-Steinbrüchen. Manchmal haben die Wanderungen durch die Wüste Westlibyen zum Ziel. In letzter Zeit geht es oft aber nur bis ins ostlibysche Tobruk, von wo die Gruppen dann nach Europa ablegen. Bei der Ankunft in Europa wird die zweite Hälfte des vereinbarten Geldes bezahlt.
Handelt es sich jedoch um eine Schlepperbande, die auf anderem Wege zu schnellem Geld kommen möchte, dann endet die Reise in Libyen in einem der Zwischenlager. Besonders verwundbar sind die Kinder. Die werden an andere Banden verkauft und enden als Feldarbeiter, Bettler oder in der Prostitution in Libyen. „Die Liste der in Libyen vermissten Kinder und Minderjährigen im ägyptischen Außenministerium ist lang“, sagt Gohar. Von so manchen hörten die Angehörigen nie wieder etwas, entweder weil sie in Libyen als Zwangsarbeiter eingesetzt würden oder weil sie im Mittelmeer ertrunken seien.
In anderen Fällen, erzählt Gohar, würden die Menschen gefoltert. Die Banden schicken dann Videos von den Folterungen an die Angehörigen und drohen, die Kinder umzubringen, wenn sie kein Lösegeld bezahlen. Wird nicht gezahlt, verkaufen sie die Kinder wie im ersten Fall weiter.
Was mit den Kindern im Anschluss passiere, sei Schicksal, sagt Gohar. Wenn sie Glück haben, werden sie in einer Razzia der libyschen Behörden entdeckt und nach Ägypten zurückgeschickt – wobei in Libyen ein schwer durchschaubares Netz von Behörden, Milizen und Schleppern herrscht, die teils unter einer Decke stecken. Solche Razzien, sagt Gohar, fänden in Libyen inzwischen fast täglich statt.
Doch auch wenn die Kinder aus ihrer miserablen Lage befreit werden, ist es selten eine glückliche Rückkehr nach Ägypten. „Man würde erwarten, dass man glückliche Gesichter sieht, da das Kind lebend zurückgekehrt ist, aber das Projekt und damit die ganze Familie ist gescheitert“, erläutert Gohar. „Dieses Kind war ein Projekt, um das Leben einer ganzen Familie zu verändern. Doch jetzt ist diese Familie tief verschuldet.“
Das ist übrigens auch einer der Gründe, warum man in den Dörfern im Nildelta nur die Erfolgsgeschichten hört. Um jene, die es nicht über das Mittelmeer geschafft oder in Europa keinen Fuß auf den Boden bekommen haben, ist es still. Als gescheitert zurückzukehren gilt als die ultimative Scham, wenn die Familie dann aufgrund der Reise in der Schuldenfalle steckt.
Drohung per Anruf aus Libyen
Einige der Familien, die Angehörige auf dem vor der griechischen Küste gesunkenen Schiff verloren haben, haben mit Mada Masr gesprochen. Demnach sind unter den Opfern viele Minderjährige und Kinder. Die Geschichten, die die Angehörigen berichten, sind immer die gleichen und decken sich mit der Beschreibung des Investigativjournalisten Gohar.
Der Vater des 14-jährigen Muhammad Dessouki etwa bekam einen Anruf aus Libyen mit der Drohung, sein Sohn werde umgebracht, wenn er nicht weitere umgerechnet 4.000 Euro bezahle. Der Vater stimmte zu. „Ich konnte das nicht verweigern, die haben gedroht, meinen Sohn zu erschießen“, zitiert ihn Mada Masr.
Er habe sich das Geld von vielen Menschen im Dorf zusammen geliehen. Später erhielt er einen Anruf, dass er in einer Stunde zum Dorffriedhof kommen solle, um das Geld einer Frau in einem schwarzen Nikab, einem Vollschleier, zu überreichen. Als er dort ankam, sah er zwei Familien, die ebenfalls auf die Frau warteten.
Ein paar Tage später bekam er einen Anruf von seinem Sohn. Der Vater versuchte, ihn zu überzeugen, nach Ägypten zurückzukommen. Doch der Sohn bestand darauf, nach Europa weiterzureisen. Er wolle endlich eine vernünftige Ausbildung bekommen, sagte er. Nun ist der 14-Jährige vor der griechischen Küste ertrunken.
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