Bildungsreferent über Demokratie-Labor: „Heterogenes Bild von Deutschland“

Tausende SchülerInnen haben im Deutschen Historischen Museum über Politik diskutiert. Bildungsreferent Helber erklärt, warum die AfD nicht vorkommt.

DFB-Fantrikot von Mesut Özil

DFB-Fantrikot von Mesut Özil: SchülerInnen debattierten nationale Zugehörigkeit Foto: Deutsches Historisches Museum

taz: Herr Helber, bei den Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg haben junge WählerInnen vor allem zwei Parteien gewählt: AfD und Grüne. Was sagt dies über den Zustand unserer Demokratie aus?

Patrick Helber: Grüne und AfD sind die Parteien, die sich derzeit am meisten von den anderen abheben. Den Grünen kommen die Klimaproteste entgegen. Wir hatten hier im Demokratie-Labor kaum SchülerInnen, an denen Fridays for Future vorübergegangen ist. Dass die Grünen als Regierungspartei auch Kosovokrieg und Hartz IV mitgetragen haben, ist bei Erst­wählerInnen wahrscheinlich wenig bekannt. Bei der AfD ist schwerer zu greifen, warum sie attraktiv für junge Menschen ist. Ich persönlich denke, es reicht für diejenigen, die unter Abstiegsängsten leiden, schon die völkische Rhetorik. Also das Versprechen, dass weiß und deutsch sein bedeuten soll: Ihr habt einen Anspruch auf mehr Rechte.

Sie und Ihre KollegInnen haben in den letzten Monaten Tausende SchülerInnen aus ganz Deutschland durch das Demokratie-Labor geführt und mit ihnen unter anderem über das Konzept Volk gesprochen. Was verstehen Jugendliche darunter?

Unsere Erfahrung war, dass eine große Mehrheit der SchülerInnen ein diverses und heterogenes Bild von Deutschland hat. Viele hatten selbst mehr als eine Staatsangehörigkeit. Besonders gut konnten wir das im Raum zum Thema „Wer ist das Volk?“ sehen, in dem es um Identitäten ging. Dort war ein DFB-Fantrikot von Mesut Özil ausgestellt, das auf die Debatte um Özils nationale Zugehörigkeit anspielt. Die überwiegende Meinung dazu war, dass es schon okay ist, mehr als eine nationale und kulturelle Identität zu haben. Dass das eine Bereicherung für die Gesellschaft ist. Wenn SchülerInnen hier etwas kritisiert haben, dann, dass Özil sich hat mit Erdoğan ablichten lassen und damit einen antidemokratischen Präsidenten unterstützt hat oder er rassistisch angefeindet wurde.

Bei SchülerInnen aus Berlin oder Köln glaube ich das sofort. Wie sieht es aber bei SchülerInnen aus Kleinstädten aus, die solche Identitätsfragen nicht gewöhnt sind?

35 Jahre, ist Historiker und Bildungsreferent beim Deutschen Historischen Museum (DHM) in Berlin. Das „Demokratie-Labor“ hat er mit kuratiert.

Hin und wieder kam es vor, dass eine Schülerin oder ein Schüler Özil als Ausländer oder als Türke bezeichnet hat. Selten um Özil bewusst auszugrenzen, sondern häufig aus Unwissenheit oder mangelnder Sensibilität. Allgemein kennzeichnet manche SchülerInnen ein unkritisches Verhältnis zur Sprache, aber auch zur Staatsmacht.

Geben Sie uns ein Beispiel.

Beim Thema Gewalt und Demokratie. Das zentrale Ausstellungsstück dazu war ein Taser, eine Elektroschockpistole der Polizei. Die Frage, die wir dazu gestellt haben, war: Soll die Polizei um diese Waffe aufgerüstet werden? Viele haben das bejaht. Dabei wurde deutlich, dass viele SchülerInnen ein sehr positives Bild von der Polizei haben und sich selbst gar nicht als potentielles Opfer dieser neuen Waffe sehen, sondern einen abstrakten Verbrecher. Erst über die angeleiteten Gespräche kamen sie auf kritische Fragen wie der nach Missbrauch oder unverhältnismäßiger Polizeigewalt. Ein anderes Beispiel ist das Wahlalter. Einige fanden es in Ordnung, dass sie erst ab 18 wählen dürfen und somit erst ab diesem Alter als mündige Bürgerinnen und Bürger gelten. Das hat mich persönlich schon gewundert.

Haben Sie eine Erklärung dafür?

Das ist natürlich schwierig zu beurteilen. Wir vom Museum verbringen ja maximal zwei bis drei Stunden mit einer Schulklasse. Wir können nur Impulsgeber für kritisches Denken sein. Sprich: Wir wollen Jugendliche und junge Erwachsene dazu bringen, Macht und Herrschaft kritisch zu hinterfragen, für eigene Partizipation zu streiten und sie für die Themen Diskriminierung und soziale Ungleichheit zu sensibilisieren. Dass ein junger Mensch emanzipiert politische Prozesse reflektiert und dann vielleicht solidarisch handelt, dafür sind viele Faktoren notwendig. Das Elternhaus, das soziale Umfeld, die Schule.

Der Schwerpunkt Das Jahr 2019 stand beim Deutschen Historischen Museum in Berlin im Zeichen der Demokratie. Neben der Ausstellung „Weimar: vom Wesen und Wert der Demokratie“ (noch bis 22. 9.) und dem interaktiven „Demokratie-Labor“ gab es unter anderem regelmäßige Streitgespräche in der „Streit-Bar“.

Das Demokratie-Labor besuchten zwischen April und August mehr als 20.000 BesucherInnen, darunter Hunderte Schul­klassen. Die Sonderausstellung war in sieben thematische Streiträume unterteilt: Wer ist das Volk? Gleiche Rechte für alle? Sind Wahlen demokratisch? Welche Ungleichheiten verträgt Demokratie? Geht es auch anders? Wie frei ist meine Meinung? Gibt es gute Gewalt? (rpa)

Viele Bundesländer setzen gerade wieder verstärkt auf politische Bildung an den Schulen. Was sagen Sie als Historiker dazu?

Wenn es so wie hier in Berlin dazu führt, dass dafür weniger Geschichte oder weniger Ethik unterrichtet wird, halte ich das für bedauerlich. Gerade der Überblick über die Geschichte der letzten 150 Jahre hilft, um aktuelle politische Entwicklungen einordnen zu können. Im Deutschen Historischen Museum lief parallel zum Demokratie-Labor auch die Ausstellung „Weimar: vom Wesen und Wert der Demokratie“. Die aktuellen politischen Debatten, die wir anhand von sieben Streitobjekten im Demokratie-Labor behandelt haben, waren also bei uns nicht isoliert von der Geschichte. Das haben wir auch den SchülerInnen erzählt: Jeder Diskurs hat auch eine Vergangenheit. Und natürlich wollten wir die BesucherInnen zu der Frage bringen, wie sie – wie wir – in Zukunft leben wollen.

Zum Thema Pressefreiheit haben Sie im Demokratie-Labor unter anderem eine Pegida-Demonstration gezeigt, auf der die Teilnehmenden „Lügenpresse“ skandieren. Welchen historischen Kontext müssen SchülerInnen haben, um das Problem zu erkennen?

In der Ausstellung zur Weimarer Republik wird das Thema Pressefreiheit anhand von Carl von Ossietzky thematisiert, der über die verbotene Aufrüstung der Reichswehr berichtete und deshalb wegen Spionage verurteilt worden ist. Für SchülerInnen ist Ossietzky eine mutige, pazifistische Figur, mit der sie sich identifizieren können. Im Demokratie-Labor haben wir das Foto von einer Pegida-Demonstration gezeigt, auf dem „Wahrheit statt Lügenpresse“ steht, entkontextualisiert könnte man das affirmativ lesen. Natürlich soll die Presse nicht lügen, sondern die Wahrheit sagen. Deshalb ist es hilfreich, den geschichtlichen Hintergrund zur Einschränkung der Pressefreiheit oder zum Vorwurf der Lügenpresse zu kennen.

Apropos Kenntnisse: Was verbinden 15-Jährige denn sofort mit Demokratie? Wo haben sie ein Aha-Erlebnis?

Als Allererstes nennen SchülerInnen immer Wahlen. Dass damit allein aber noch keine Demokratie steht und auch nichtdemokratische Regimes Wahlen durchführen, darauf kamen wir im Demokratie-Labor deshalb zu sprechen. Was nach meiner Erfahrung für viele SchülerInnen ein Aha-Erlebnis war, ist die große Ungleichheit, die wir im Land haben. Zum einen, was Diskriminierungserfahrungen angeht. Wir hatten ein Demonstrationsplakat aus Neukölln ausgestellt, das eine Frau mit Kopftuch und Hashtag #MyHeadMyChoice zeigt. Das hat für sehr viel Solidarität gesorgt hat. Richtig erstaunt waren viele auch beim Thema Bildungsgerechtigkeit. Da haben wir drei Bücherstapel ausgestellt, die markiert haben, wie viel Geld welche Familie für die Bildung ihrer Kinder ausgeben kann: eine Familie, die von Hartz IV lebt, der Bundesdurchschnitt, und – als kleine Provokation – die Kosten für einen Internatsplatz der Eliteschule Salem. Ob Chancengleichheit existiert oder eine Illusion ist, darüber gab es oft lebendige Diskussionen.

Zur Demokratie gehören aber auch die Gefahren. Warum kommen AfD, Identitäre & Co nicht vor?

Als wir das Labor konzipiert haben, haben wir ganz klar gesagt: Wir wollen jungen Menschen ein positives und emanzipatorisches Bild der Demokratie vermitteln. Also aufzeigen, dass Politik nicht nur im Parlament stattfindet, sondern dass es sich lohnt, aktiv zu werden, um für ein selbstbestimmtes und gerechtes Leben für alle zu streiten. Und natürlich gehört auch zur Demokratie, wachsam gegenüber jeglicher Form der Ausgrenzung und antidemokratischen Tendenzen zu sein.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Wir würden Ihnen hier gerne einen externen Inhalt zeigen. Sie entscheiden, ob sie dieses Element auch sehen wollen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.