Bilanz nach drei Monaten ÖPNV-Flatrate: Der Abschied vom 9-Euro-Ticket
Das Billigticket war beliebt und hat CO2-Emissionen reduziert. Viele fordern eine Anschlusslösung, doch die Finanzierung ist unklar.
Auf den Schienen neben der Szene steht ein orangefarbener Zug, aus dem viele Fähnchen und Schilder mit Herz-Symbolen für das 9-Euro-Ticket hängen. Aktivist*innen von Campact, Greenpeace und Fridays for Future haben den Sonderzug durch die Hauptstadt organisiert, um für eine Fortführung der günstigen Flatrate-Fahrkarte oder ein ähnliches Angebot zu demonstrieren.
Mit dem Mittwoch läuft das 9-Euro-Ticket aus, das die Bundesregierung als Teil ihres ersten Entlastungspakets in der Energiekrise befristet eingeführt hatte. Für Juni, Juli und August konnte jede*r die Fahrkarte für 9 Euro kaufen und damit für den jeweiligen Monat in ganz Deutschland den öffentlichen Nahverkehr nutzen.
Die Nachfrage war riesig: Rund 52 Millionen der Tickets wurden gekauft, heißt es beim Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV). Hinzu kommen mehr als 10 Millionen Abonnent*innen, die also schon vorher Monats- oder Jahreskarten hatten. Diese wurden in allen drei Monaten automatisch in 9-Euro-Tickets umgewandelt. Zählt man das mit, kommen also noch 30 Millionen Tickets obendrauf.
Bund und Länder uneins
Von einem „echten Run auf die Tickets“ spricht Maike Schaefer, Senatorin für Mobilität in Bremen und Vorsitzende der Verkehrsministerkonferenz der Bundesländer, am Montagmittag. Die Verkehrsbranche, also der VDV, hat sie gemeinsam mit weiteren Landesverkehrsminister*innen zu einer gemeinsamen Pressekonferenz eingeladen.
„Das ist erst mal ein Erfolg“, so die Grüne. „Es ist aber nur wirklich ein Erfolg, wenn es dann auch eine Nachfolgeregelung gibt, und die kann nicht nur auf die Länder abgewälzt werden. Da hat der Bund eine Verantwortung.“
Das ist das Problem in wenigen Sätzen: Von einem Erfolg sprechen viele – aber an Finanzzusagen für eine Fortführung mangelt es. Die drei Monate haben 2,5 Milliarden Euro aus dem Bundeshaushalt gekostet. Als die Diskussion aufkam, beklagte Finanzminister Lindner eine „Gratismentalität“.
Und sein Parteifreund, der Bundesverkehrsminister Volker Wissing, will erst einmal auf die Ergebnisse einer Arbeitsgruppe warten – und sieht außerdem die Bundesländer in der Pflicht, deren Verwaltungen für den Nahverkehr zuständig sind. Auch er sieht in dem Projekt bisher aber übrigens einen „großen Erfolg“, wie er schon zur Zwischenbilanz Mitte Juli sagte.
Die Länder befürchten, dass ein neues Ticket auf ihre Kosten gehen würde – entweder direkt oder indirekt durch eine Kürzung oder auch nur Stagnation der sogenannten Regionalisierungsmittel aus dem Bundeshaushalt. „Dann haben wir mit Zitronen gehandelt“, sagt Winfried Hermann, grüner Verkehrsminister in Baden-Württemberg. Schließlich brauche es auch für den Ausbau des öffentlichen Verkehrs Geld.
Konzepte über Konzepte
Ideen für ein neues Rabatt-Ticket gibt es genug: Die SPD geht mit einem Vorschlag eines 49-Euro-Tickets in die Verhandlungen der Bundesregierung über weitere Entlastungen in der Energiekrise. Der VDV stellt sich ein bundesweit geltendes Ticket für 69 Euro vor. Der Verkehrsforscher Andreas Knie vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung hat ein Modell zum Preis von 29 Euro ins Spiel gebracht. Gewerkschaften setzen sich für eine Jahresvariante für 365 Euro ein.
Der VDV hat für seine Gesamtbilanz zum 9-Euro-Ticket 6.000 Interviews unter Nutzer*innen geführt. Demnach hat es – anders, als es Schätzungen zwischendurch ergeben hatten – auch einen positiven Klimaeffekt gegeben. 10 Prozent der Bahnfahrten hätten eine Pkw-Fahrt ersetzt, heißt es.
Der Verband geht davon aus, dass das zu einer Einsparung von 1,8 Millionen Tonnen CO2 geführt. „Drei Monate 9-Euro-Ticket haben etwa so viel CO2 eingespart, wie ein Jahr Tempolimit auf Autobahnen bringen würde“, meint VDV-Chef Oliver Wolff.
Der Sonderzug der Klimaaktivist*innen erreicht derweil sein Ziel: den Berliner Potsdamer Platz. Von dort aus läuft die Gruppe, die aus mehreren hundert Leuten besteht, zum Bundesfinanzministerium. Die Beteiligten bauen sich vor dem verschlossenen Tor auf, schwenken ihre Schilder in der Luft und warten. Heraus kommt niemand.
Auf die Mail mit der Bitte um Annahme von 400.000 gesammelten Unterschriften hatte niemand geantwortet, sagt eine Pressesprecherin von Campact. Die Gruppe versucht trotzdem, sich Gehör zu verschaffen. Auch Luisa Neubauer von Fridays for Future ist darunter. „Natürlich braucht es noch mehr“, räumt sie ein. „Aber wir sehen mit dem 9-Euro-Ticket: Wenn die Ampelkoalition will, dann kann sie gute, gerechte und nachhaltige Politik machen.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kampf gegen die Klimakrise
Eine Hoffnung, die nicht glitzert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Zweite Woche der UN-Klimakonferenz
Habeck wirbt für den weltweiten Ausbau des Emissionshandels
Krieg in der Ukraine
Biden erlaubt Raketenangriffe mit größerer Reichweite
Altersgrenze für Führerschein
Testosteron und PS
Angeblich zu „woke“ Videospiele
Gamer:innen gegen Gendergaga