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Bilanz nach drei Monaten ÖPNV-FlatrateDer Abschied vom 9-Euro-Ticket

Das Billigticket war beliebt und hat CO2-Emissionen reduziert. Viele fordern eine Anschlusslösung, doch die Finanzierung ist unklar.

Sind nicht glücklich: Kli­ma­ak­ti­vis­t*in­nen wollen, dass es mit dem günstigen ÖPNV weiter geht Foto: Hannes P. Albert/dpa

Berlin taz | Christian Lindner steht am Montagmorgen am Bahnsteig 7 des Berliner Bahnhofs Gesundbrunnen und zerreißt das 9-Euro-Ticket. So soll es zumindest aussehen. Eigentlich ist es eine Person, die sich eine gigantische Maske des Bundesfinanzministers von der FDP aufgesetzt hat.

Auf den Schienen neben der Szene steht ein orangefarbener Zug, aus dem viele Fähnchen und Schilder mit Herz-Symbolen für das 9-Euro-Ticket hängen. Ak­ti­vis­t*in­nen von Campact, Greenpeace und Fridays for Future haben den Sonderzug durch die Hauptstadt organisiert, um für eine Fortführung der günstigen Flatrate-Fahrkarte oder ein ähnliches Angebot zu demonstrieren.

Mit dem Mittwoch läuft das 9-Euro-Ticket aus, das die Bundesregierung als Teil ihres ersten Entlastungspakets in der Energiekrise befristet eingeführt hatte. Für Juni, Juli und August konnte je­de*r die Fahrkarte für 9 Euro kaufen und damit für den jeweiligen Monat in ganz Deutschland den öffentlichen Nahverkehr nutzen.

Die Nachfrage war riesig: Rund 52 Millionen der Tickets wurden gekauft, heißt es beim Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV). Hinzu kommen mehr als 10 Millionen Abonnent*innen, die also schon vorher Monats- oder Jahreskarten hatten. Diese wurden in allen drei Monaten automatisch in 9-Euro-Tickets umgewandelt. Zählt man das mit, kommen also noch 30 Millionen Tickets obendrauf.

Bund und Länder uneins

Von einem „echten Run auf die Tickets“ spricht Maike Schaefer, Senatorin für Mobilität in Bremen und Vorsitzende der Verkehrsministerkonferenz der Bundesländer, am Montagmittag. Die Verkehrsbranche, also der VDV, hat sie gemeinsam mit weiteren Lan­des­ver­kehrs­mi­nis­te­r*in­nen zu einer gemeinsamen Pressekonferenz eingeladen.

„Das ist erst mal ein Erfolg“, so die Grüne. „Es ist aber nur wirklich ein Erfolg, wenn es dann auch eine Nachfolgeregelung gibt, und die kann nicht nur auf die Länder abgewälzt werden. Da hat der Bund eine Verantwortung.“

Das ist das Problem in wenigen Sätzen: Von einem Erfolg sprechen viele – aber an Finanzzusagen für eine Fortführung mangelt es. Die drei Monate haben 2,5 Milliarden Euro aus dem Bundeshaushalt gekostet. Als die Diskussion aufkam, beklagte Finanzminister Lindner eine „Gratismentalität“.

Und sein Parteifreund, der Bundesverkehrsminister Volker Wissing, will erst einmal auf die Ergebnisse einer Arbeitsgruppe warten – und sieht außerdem die Bundesländer in der Pflicht, deren Verwaltungen für den Nahverkehr zuständig sind. Auch er sieht in dem Projekt bisher aber übrigens einen „großen Erfolg“, wie er schon zur Zwischenbilanz Mitte Juli sagte.

Die Länder befürchten, dass ein neues Ticket auf ihre Kosten gehen würde – entweder direkt oder indirekt durch eine Kürzung oder auch nur Stagnation der sogenannten Regionalisierungsmittel aus dem Bundeshaushalt. „Dann haben wir mit Zitronen gehandelt“, sagt Winfried Hermann, grüner Verkehrsminister in Baden-Württemberg. Schließlich brauche es auch für den Ausbau des öffentlichen Verkehrs Geld.

Konzepte über Konzepte

Ideen für ein neues Rabatt-Ticket gibt es genug: Die SPD geht mit einem Vorschlag eines 49-Euro-Tickets in die Verhandlungen der Bundesregierung über weitere Entlastungen in der Energiekrise. Der VDV stellt sich ein bundesweit geltendes Ticket für 69 Euro vor. Der Verkehrsforscher Andreas Knie vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung hat ein Modell zum Preis von 29 Euro ins Spiel gebracht. Gewerkschaften setzen sich für eine Jahresvariante für 365 Euro ein.

Der VDV hat für seine Gesamtbilanz zum 9-Euro-Ticket 6.000 Interviews unter Nut­ze­r*in­nen geführt. Demnach hat es – anders, als es Schätzungen zwischendurch ergeben hatten – auch einen positiven Klimaeffekt gegeben. 10 Prozent der Bahnfahrten hätten eine Pkw-Fahrt ersetzt, heißt es.

Der Verband geht davon aus, dass das zu einer Einsparung von 1,8 Millionen Tonnen CO2 geführt. „Drei Monate 9-Euro-Ticket haben etwa so viel CO2 eingespart, wie ein Jahr Tempolimit auf Autobahnen bringen würde“, meint VDV-Chef Oliver Wolff.

Der Sonderzug der Kli­ma­ak­ti­vis­t*in­nen erreicht derweil sein Ziel: den Berliner Potsdamer Platz. Von dort aus läuft die Gruppe, die aus mehreren hundert Leuten besteht, zum Bundesfinanzministerium. Die Beteiligten bauen sich vor dem verschlossenen Tor auf, schwenken ihre Schilder in der Luft und warten. Heraus kommt niemand.

Auf die Mail mit der Bitte um Annahme von 400.000 gesammelten Unterschriften hatte niemand geantwortet, sagt eine Pressesprecherin von Campact. Die Gruppe versucht trotzdem, sich Gehör zu verschaffen. Auch Luisa Neubauer von Fridays for Future ist darunter. „Natürlich braucht es noch mehr“, räumt sie ein. „Aber wir sehen mit dem 9-Euro-Ticket: Wenn die Ampelkoalition will, dann kann sie gute, gerechte und nachhaltige Politik machen.“

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14 Kommentare

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  • Ich habe das Auto nicht komplett stehen lassen. Jetzt fahre ich nichtmehr mit dem ÖPNV. Der Grund ist simpel. Bei 70 EUR für das Monatsticket für eine Bereich der nichtmal einen Landkreis umfasst leiste ich mir lieber die Mehrkosten eines Autos und bin damit zeitlich flexiber.

    Ich selbst benötige kein 9-Euro-Ticket aber es muss einfacher, einheitlicher und billiger werden.

    Unüberprüfter Ansatz: Wie wäre es, für jedes angemeldete Auto mit einer zusätzlichen Abgabe von 10 Euro und dafür bekommt jeder zumindest mal kostenlosen ÖPNV im gemeldeten Bundesland. Details wie Pendeln an Grenzen wurden erstmal bewusst ignoriert.

  • *VDV Verband geht davon aus, dass das zu einer Einsparung von 1,8 Millionen Tonnen CO2 geführt. „Drei Monate 9-Euro-Ticket haben etwa so viel CO2 eingespart, wie ein Jahr Tempolimit auf Autobahnen bringen würde“*

    Drei Monate VS. ein Jahr Tempolimit

    @CDU/FDP ?

  • Mobilität belastet die Umwelt und kostet. Je niedriger der Preis desto intensiver die Nutzung und folgerichtig die Belastung der Umwelt.



    Das 9€ Ticket ist ein interessanter Versuch, aber sicher nicht die Lösung.

    • @alterego:

      Ernsthaft? Mobilität gibt es doch sowieso. Mit Flugzeugen und Autos ist es halt billiger als in den ICE zu steigen. Die Mobilität lassen sich die Menschen heute such nicht mehr nehmen

      • @Alfonso Albertus:

        "Die Mobilität lassen sich die Menschen heute such nicht mehr nehmen"



        Als ob es da eine Wahl gäbe sich grenzenlose Mobilität und immer noch mehr Konsum zu erhalten. Die Wahl die noch zu treffen ist besteht darin entweder freiwillig und selbstbestimmt umzusteuern oder eben etwas später mit den Einschränkungen klar kommen zu müssen (oder auch nicht) die eine ungebremste Klimakatastrophe mit sich bringt.

  • Da muss mir doch bitte mal jemand erklären, wie das Ticket CO2 vermieden hat wenn zigtausende Reisen angetreten haben die sie sonst garnicht gemacht hätten. 10% haben angegeben dass sie ohne das Ticket das Auto genutzt hätten.



    Aber wieviel Prozent wären sonst schön zu Hause geblieben ?

    Man kann sich Alles schön rechnen.

    • @Bolzkopf:

      10 Prozent Autofahrer sind gar nicht so wenig. Das Ticket wurde immerhin millionenfach gekauft.



      Binnentourismus im Umland ist auch umweltverträglicher als der Flug nach Bulgarien oder Mallorca und hilft zudem der lokalen Wirtschaft.



      Es wurden mehr Reisen unternommen. Zufällig waren ja auch noch die großen Ferien zu dieser Zeit. Das nun endlich auch mal einkommensschwache Familien vereisen konnten, ist zudem eine gute Sache.



      Jahrelange Nutzer des Öpnv und des Nahverkehrs wurden endlich mal finanziell entlastet.

      Was mich am meisten an dieser eher intellektuell trägen Argumentation stört, ist die Annahme das Menschen innerhalb von drei Monaten und für einen begrenzten Zeitraum all ihre Gewohnheiten ändern.



      Natürlich verkauft niemand sein Auto wegen eines Tickets für drei Monate.



      Das funktioniert nur bei einem langfristig günstigen Angebot

  • 52 Millionen Leute haben sich im Sommer ein Ticket schenken lassen, mit dem sie kreuz und quer durch das Land fahren konnten.

    Ein großartiger Erfolg! Bow Down!

    Kolleg*innen von mir und auch ich selber haben, nachdem wir uns das zwei Wochen angeguckt und mitgemacht haben, das Auto aus der Garage geholt und sind umgestiegen.

    Einfach nur unerträglich.

    Das Geld für die verschenkten Tickets wäre sowieso besser in die Bahn investiert worden, die einen 150-Milliarden-Investitionsstau vor sich hin schiebt. Populistische Politiker ignorieren das.

    Oder wie wäre es denn mal mit "Güter auf die Schiene"?

    80 Prozent der etwa fünf Milliarden Fracht-Tonnen gehen über die Straße.

    Jahr für Jahr finden Politiker eine Ausrede, nicht zu finanzieren.

    Da schätze ich die Aussage eines der wenigen gegroundeten Politiker.

    Kretschmann: "»Immer werden irgendwelche tollen Programme aufgelegt«.

    Bitte, Herrgott, gib uns mehr Politiker, die seriös rechnen können und dadurch etwas gegen den klimawandel tun!

    • @shantivanille:

      Jetzt wird der Daimler-Lobbist Kretschmann also zum großen Vorbild und außerdem entdeckt die CDU gerade zusammen mit der FDP, das man ja Geld für den Ausbau der bahnstrecken und des ÖPNV in die Hand nehmen müsse, anstatt dem Pöbel das Fahren günstiger anzubieten. Das Thema war zwar Kretschmann in BW, sowie der CDU die letzten 16 Jahre völlig egal, aber zumindest klingt es gut.

  • Ja, es braucht Geld für den Ausbau-und ein günstiges bundesweit gültiges Ticket für den Nahverkehr.

    Spanien macht es vor mit der Übergewinnsteuer, womit nun der Nahverkehr komplett kostenfrei wird. Luxemburg hat es schon getan. Da ist der Öpnv komplett kostenlos.



    Österreich hat deutliche Vergünstigungen eingeführt usw.

    Auf die Auswertungen einer Linder-Expertentruppe kann man getrost pfeifen. Natürlich verkauft niemand sein Auto weil mal drei Monate während der Ferienzeit kostengünstig gefahren werden kann. Natürlich hat die Bahn nach Jahrzehnten des Streckenrückbau und Einsparungen beim Personal ein Problem wenn die Menschen ernst machen und dieses Verkehrsmittel tatsächlich wieder nutzen. Für Stuttgart 21 und andere Protzprojekte reicht es dann finanziell bisher trotzdem.

    Es gibt so viele Ideen, die leider nicht gehört werden, aber was in den USA die Waffenlobby ist, das übernimmt hierzulande die Autolobby.

    Vorübergehend könnten überlastete Strecken im Nahverkehr durch DB-Busse entlastet werden, bis das Schienennetz wieder etwas taugt.



    In Luxemburg wurden die Parkgebühren massiv angehoben und dieses Geld fließt in den ÖPNV.



    Spanien machte es mit der Übergewinnsteuer.



    Die Finanzierung von neuen Autobahnenstrecken zahlen ebenfalls alle BürgerInnen. Hier muss deutlich mehr Budget für den Banhverkehr und den Öpnv umgelagert werden.

    Entweder man meint es halt ersnt mit Klimaschutz und sozialer Gerechtigkeit, oder man wartet noch 30 Jahre bis die Bahn dann mal zehn Gleise mehr verlegt hat und hofft darauf das dass Volk weiterhin brav hundert Euro für die Münchner Monatskarte blecht.



    War ja nur der wärmste Sommer in Europa seit Fünfhundert Jahren, also kein Grund zur Eile....

  • Zum "Glück" fahren die Züge demnächst ja wieder halbleer von einer Stadt zur nächsten, weil die Tickets sich wieder kein Normalbürger erlauben kann. Das schont aber auch die Bahnsitze, wenn die Züge nicht so voll sind.

    Dass die "perfekte Verkehrswende" nicht von heute auf morgen funktioniert, das sollte doch wohl jedem klar gewesen sein, aber man muss doch schließlich mal einen Anfang machen - und der wurde mit dem 9-Euro-Ticket doch gemacht. Klimaschutz und soziale Gerechtigkeit wäre mit einem günstigen Bahn- und Bus-Ticket ein erster Schritt in die richtige Richtung, aber die Autolobby ist in diesem Land wohl doch zu mächtig. Wer sich kein klimaschädliches tonnenschweres Automobil leisten kann, der muss halt zu Hause bleiben oder er/sie muss das Fahrrad nehmen, um mal einen Tagesausflug zu machen. "Lindner möchte die »Gratismentalität« im ÖPNV nicht finanzieren." [Quelle: SPIEGEL]. Aber »Gratismentalität« bei den Topverdienenden, denen der Staat die teuren Dienstwagen subventioniert, ist für Lindner wohl etwas ganz anderes. Die FDP bleibt eben die FDP oder hat jemand tatsächlich erwartet, dass die FDP sich ändert?

  • 10% hätten eine Fahrt mit dem Auto ersetzt. Und das andere Ende?



    30% (?) der Fahrten hätte es ohne 9€ Ticket nicht gegeben. Also ist ein Bedarf kreiert worden und keine Wende eingeleitet.

    • @fly:

      Es wurden aber nicht 30% mehr Bahnen und Busse für diese Fahrten eingesetzt, die Verkehrsmittel waren eher besser ausgelastet. Das macht doch einen kleinen Unterschied.



      Außerdem sind 10% weniger Autoverkehr sicher auch kein Pappenstiel, wenn man das vielleicht mal auf eingesparte Emissionen runterrechnet.

  • 52 Mio. Tickets und 3 Mrd. Fahrten davon jeweils sehr viele zusätzlich, 42% mehr Auslastung des OPNV als im Vor-Corona-Vergleichszeitraum und gleichzeitig eine Quote von gerade mal 10% die mit dem Ticket überhaupt PWK-Fahrten ersetzen und das nach dem Modus der Umfrage auch nur teilweise. Und das soll tatsächlich weniger Emissionen einsparen? Könnte es sein, dass eine Marktforschungsstudie des Verband Deutscher Verkehrsunternehmen VDV eine ähnlich seriöse Quelle ist wie eine Philip Morris-Studie zu den Gefahren des Tabakkonsums? Spätetens aber wenn man den allseits geforderten massiven Ausbau des ÖPNV mit in Rechnung stellt dürften sich die Emissionsreduktionen erledigt haben. Statt einer steuerfinanzierten grenzenlosen Mobilität sollte man besser in die Voraussetzungen dafür investieren, dass es mit weniger Mobilität geht, konkret also bessere Versorgungsmöglichkeiten vor Ort im Quartier, Durchmischung von Wohn- und Gewerbegebieten, Bandbreitenausbau für mehr HomeOffice, ...