Betroffener über Missbrauchsprävention: „Die Kirche hat Angst“
Der Betroffenenbeirat der evangelischen Kirche zur Missbrauchsaufarbeitung ist gescheitert. Mitglied Henning Stein zweifelt am echten Aufklärungswillen der EKD.
taz: Erst im September hatte die evangelische Kirche zwölf Betroffene als Beirat zur Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch berufen. Am Montagabend verkündete die EKD, das bisherige Konzept sei gescheitert und setze den Beirat aus. Was ist passiert?
Henning Stein: Es gab kein Konzept, das war das Problem. Uns wurde vermittelt, wir sollten Empfehlungen geben, was sich aus unserer Sicht in der Kirche ändern müsse. Aber in der Realität fehlte eine Struktur für die Frage: Wie arbeiten die Betroffenen eigentlich mit? Zwei Blasen haben nebeneinander existiert: Auf der einen Seite der Beauftragtenrat der EKD für das Thema, die Bischöfe. Auf der anderen Seite die Betroffenen. Dazwischen eine Fachstelle. Wir hatten keinen direkten Kontakt zu den Bischöfen.
Wie muss man sich die Zusammenarbeit vorstellen?
Da kamen dann E-Mails von dieser Fachstelle. Die haben uns erklärt, was der Beauftragtenrat beschlossen hat, was wir zur Kenntnis zu nehmen haben, aber eine Mitarbeit im Sinne eines Beirats gab es nicht. Ich will nicht irgendwelche PDF-Dateien bekommen, um die abzunicken, ich möchte mitmachen. Sonst ist das nur eine Simulation von Aufarbeitung.
Schon in den vergangenen Monaten sind mehrere Mitglieder ausgetreten. Die EKD spricht von Konflikten innerhalb der Gruppe.
Auch in der Erklärung der ausgetretenen Kollegen ging es vor allem um strukturelle Fragen an die EKD und nicht um Streit.
Aber es gab Meinungsverschiedenheiten?
Wir sind eine sehr heterogene Gruppe. Aber ich kenne das aus elf Jahren Erfahrung im Aktivismus in diesem Bereich. Betroffene können sehr schwierig sein. Betroffene sind sehr verschieden. Manche sind traumatisiert. Ich sehe eher als Problem, dass die EKD da naiv reingegangen ist.
Was muss man beachten?
Es braucht einen besonders achtsamen Umgang miteinander. Wenn ein Betroffener schildert, was ihm passiert ist, kann das andere triggern. Da fließen Tränen. Viele Betroffene kennen das Gefühl, machtlos ausgeliefert zu sein. Wenn man dann wieder einer Institution gegenüber steht, die nicht reagiert, bedient das dasselbe Muster.
ist Mitglied im Betroffenenbeirat der evangelischen Kirche und im Betroffenenbeirat des Fonds sexueller Missbrauch, er war auch Mitglied am Runden Tisch zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs. Er ist Vater eines körperbehinderten Sohnes, der im Internat von einem Mitschüler vergewaltigt wurde. Stein arbeitet als Pathologe und lebt in Witten.
Man habe möglicherweise Fehler bei der Auswahl der Betroffenen gemacht, heißt es von Seiten der Kirche.
Das grenzt in meinen Augen schon an Victim Blaiming. Fakt ist: Die Mehrheit von uns verbliebenen Betroffenen wollte weiterarbeiten. Das war keine einvernehmliche Auflösung des Beirats, so wie es jetzt kommuniziert wird.
Was hätten Sie unter solchen Umständen gebraucht, um weiterzumachen?
Wir haben eine externe Prozessbegleitung gefordert. Niemanden von der EKD, eine unabhängige Stelle. Aber das wurde abgelehnt.
Sie waren schon in unterschiedlichen Kontexten in Betroffenenvertretungen aktiv. Gibt es Beispiele, wo das besser geklappt hat?
Beim Runden Tisch auf Bundesebene saßen wir tatsächlich alle an einem Tisch, wir Betroffenen direkt mit den Ministerinnen. So haben wir gut gearbeitet, so müsste es auch in der Kirche laufen. Ich will dabei sein, wenn die Bischöfe reden und direkt meinen Input geben. Gemeinsam an die Öffentlichkeit gehen. Aber das traut sich die EKD nicht.
Was hat sie zu verlieren?
Wenn die Betroffenen direkt sagen, welche Forderung sie haben und man tritt damit gemeinsam nach außen, dann hat die EKD Angst davor, den Prozess nicht mehr unter Kontrolle zu haben. Man merkt gerade, wie die Kirche versucht, mit aller Macht die Deutungshoheit zu behalten.
Ist sexueller Missbrauch in der Kirche ein Problem Einzelner oder ein institutionelles?
Es geht letztendlich immer um Missbrauch von Macht. Meine Forderung ist zu analysieren, welche Faktoren dazu führen, dass in den eigenen Reihen Missbrauch stattfindet. Sexuelle Gewalt gegen Kinder geht nur zu einem kleinen Prozentsatz von Pädophilen aus. In der katholischen Kirche ist es die hierarchische Überhöhung des Priesteramtes, die Machtmissbrauch begünstigt.
Das lässt sich aber nicht direkt auf die evangelische Kirche übertragen.
Nein. In der evangelischen Kirche ist meine Vermutung, dass dieses kumpelhafte Auftreten vor allem gegenüber Kindern und Jugendlichen im Konfirmandenalter zu einer unangemessenen Annäherung führen kann. Da muss man schonungslos analysieren: Gibt es etwas, das aufgrund unseres Selbstverständnisses dazu führt, dass so etwas passiert? Alle Orte, die sich für elitär halten, sind besonders gefährdet, Missbrauchsorte zu werden.
Haben Sie irgendetwas erreicht als Betroffenenbeirat?
Der Erfolg, den wir gehabt haben, war, dass sich weitere Betroffene miteinander vernetzt haben. Wir werden weiter arbeiten, ob mit Kirche oder ohne Kirche, da lassen wir uns den Mund nicht verbieten.
Der Beirat soll jetzt für eine Evaluation ausgesetzt werden.
Die Botschaften dazu sind etwas doppelzüngig. Uns wurde deutlich gesagt, dass die Kirche weiter mit Betoffenen arbeiten möchte, aber nicht klar ist, dass wir das sind. Ich fordere, dass jetzt nicht nur wir als Betroffene in unserer Arbeit durchleuchtet und evaluiert werden, sondern genauso die Bischöfe im Beauftragtenrat und die Strukturen der EKD.
Die Bischöfe sagen, der Schritt sei „äußert schmerzlich“.
Ich glaube, die EKD hat durch das, was sie jetzt getan hat, sehr großen Schaden erlitten. Dahinter steckt in meinen Augen, dass die Kirche Angst hat, dass ihre Grundstrukturen und ihr Selbstverständnis durch Aufarbeitung in Zweifel gezogen werden könnten. Die Kirche sieht sich per Definition als gut an. Und daran könnte gerüttelt werden.
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