Besuch des Bundespräsidenten in Polen: Steinmeier bittet um Vergebung
Als erstes deutsches Staatsoberhaupt hält Frank-Walter Steinmeier 80 Jahre nach dem Aufstand im Warschauer Getto eine Rede am Heldendenkmal.
1970 durfte dies der damalige sozialdemokratische Kanzler Willy Brandt noch nicht. Überwältigt vom Gedenken an die sechs Millionen ermordeten Juden Europas war er dort auf die Knie gesunken – eine Geste der Versöhnung, an die Worte kaum heran reichen können.
Der erste Redner vor den geladenen Gästen an diesem Mittwoch ist jedoch kein Präsident, sondern der Shoah-Überlebende Marian Turski (96). Turski war zwar kein Kämpfer im Warschauer Getto, überlebte aber das zweitgrößte von Deutschen in Polen eingerichtete Getto – in Lodz sowie die KZ Auschwitz, Buchenwald und Theresienstadt. Er erinnert nicht nur an die Aufständischen in Warschau, sondern auch an die gefolterten und ermordeten Menschen in Butscha.
Marian Turski, Überlebender der Shoah
Den Vorort der ukrainischen Hauptstadt Kyjiw hatten russische Truppen kurz nach Beginn von Moskaus Angriffskriegs am 24. Februar 2022 besetzt. Sie sollen für den Tod Hunderter Zivilist*innen verantwortlich sein. „J’accuse“, sagt Turski am Denkmal der Helden des Gettoaufstandes 1943. „Ich klage alle an, die damals wie heute Hass säen. Sie schufen und schaffen die Stimmung, die Krieg und Völkermord überhaupt erst ermöglichen.“
Zwei bewaffnete Aufstände
Präsident Andrzej Duda, der als erster der drei Präsidenten seine Ansprache hält, sagt: „Im deutsch-besetzten Polen gab es in Warschau zwei bewaffnete Aufstände – 1943 den jüdischen, 1944 den polnischen. Vor 1939 war Polen ein Vielvölkerstaat. Davon ist 1945 nichts geblieben.“
Vom Beginn des Krieges an hätten es die Deutschen besonders auf die Juden abgesehen gehabt. Diese hätten Jahre später im Getto-Aufstand aber „nicht um ihr Leben gekämpft“, „sondern um die Freiheit die Art ihres Todes zu wählen“ – im Gas oder durch eine deutsche Kugel. So sieht es Duda. Angeblich sei der Massenselbstmord von Massada im Altertum, als die Juden nicht in die Hände der Römer fallen wollten, Vorbild der jüdischen Kämpfer von 1943 gewesen.
Tatsächlich ist das genau das von der nationalpopulistischen Regierungspartei PiS verbreitete Narrativ, mit dem auch gerechtfertigt werden kann, worum die Polen den Juden im brennenden Getto nicht zu Hilfe kamen. Mit „Ehre den jüdischen Helden, den bewaffneten wie den zivilen! Sie wollten nicht in die Hände der Deutschen geraten!“, beendet Duda seine Rede.
„Sie hatten keine Chance, den Kampf zu gewinnen“, zitiert der israelische Staatspräsident Izchak Herzog die Überlebende Cywia Lubetkin, die später nach Israel emigrierte. „Und doch sind sie die Sieger – nicht im physischen Sinne, sondern im moralischen“, sagt Herzog. Zudem seien sie nicht allein gewesen – es habe überall in Polen Gerechte unter den Völkern gegeben, die den verfolgten Juden geholfen hätten. Wenige zwar, aber diese wenigen seien ebenfalls große Helden. Ihnen gebühre der Dank Israels.
Minutiös geplant
Auch Frank-Walter Steinmeier zitiert zunächst eine Stimme aus dem Warschauer Getto: „Zeit gezunt chaveyrim un freind, zei gezunt yiddish folk, derlozt nisht mer zu azelche churboynes.“ – „Lebt wohl, Freunde. Lebe wohl, jüdisches Volk. Lasst nie wieder eine solche Katastrophe zu.“
Diese Worte schrieb Gela Seksztajn auf, eine jüdische Malerin, bevor sie und ihre kleine Tochter Margalit nach Treblinka deportiert wurden. Steinmeier zitiert viele weitere Zeugen und Zeuginnen aus dem Getto, bevor er den zentralen Satz sagt: „Ich stehe heute vor Ihnen und bitte um Vergebung für die Verbrechen, die Deutsche hier begangen haben.“
Deutsche hätten das „Menschheitsverbrechen der Shoah minutiös geplant und durchgeführt“. Deutsche hätten „Europas Jüdinnen und Juden, die Jüdinnen und Juden Warschaus mit aller Grausamkeit und Unmenschlichkeit verfolgt, versklavt und ermordet“.
Dass es zwischen Polen, Israel und Deutschland Versöhnung gebe, die wiederum eine Freundschaft zwischen diesen Ländern habe entstehen lassen – sei „wahrlich ein Wunderwerk!“, so Steinmeier.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Kampf gegen die Klimakrise
Eine Hoffnung, die nicht glitzert
Krieg in der Ukraine
Biden erlaubt Raketenangriffe mit größerer Reichweite
Haldenwang über Wechsel in die Politik
„Ich habe mir nichts vorzuwerfen“
Rentner beleidigt Habeck
Beleidigung hat Grenzen
Zweite Woche der UN-Klimakonferenz
Habeck wirbt für den weltweiten Ausbau des Emissionshandels