Berlins Wahlleiter über Wiederholung: „Eine Wahl ist ein Gesamtkunstwerk“
Nur 90 Tage Zeit hat Stephan Bröchler, um die Berlin-Wahl zu organisieren. Ein Gespräch über Pannen, OSZE-Beobachter und die Angst vor Cyberangriffen.
wochentaz: Herr Bröchler, haben Sie eigentlich schon gewählt?
Stephan Bröchler: Nein. Ich werde in Präsenz wählen.
Sie gehen also davon aus, dass die Wahl klappt.
Richtig. Und am Wahlsonntag ins Wahllokal zu gehen, ist einfach etwas Besonderes.
Am 26. September 2021 war es ja besonders besonders. Es gab viele Pannen, ein Jahr später hat das Berliner Verfassungsgericht die Wahl daher für ungültig erklärt. Auch Sie standen lange in einer Schlange vor dem Wahllokal.
Meine Frau und ich mussten eineinhalb Stunden warten – und das war anfangs schon ärgerlich. Wir wollten erst wählen gehen und danach essen. Dann sahen wir die Schlange und sagten, wir gehen erst essen. Danach war die Schlange nicht kürzer, das Warten aber enorm kommunikativ. Wir haben viele Nachbarn getroffen, uns unterhalten, ein paar Kinder haben angefangen, aus Langeweile Fußball zu spielen. Aus einer organisatorischen Perspektive war das alles kritisch, aber für uns – und wohl auch viele andere – war es an dem Tag nicht so schlimm.
Glauben Sie denn, dass Sie überhaupt Zeit haben werden, am 12. Februar wählen zu gehen?
Ich will das unbedingt. Danach gehe ich direkt in die Innenverwaltung des Senats in der Klosterstraße, wo wir unsere Räume haben. Dort liegen auch Wahlzettel für alle Bezirke, falls es irgendwo zu Problemen kommt, wenn ein Wasserschaden eintritt oder was auch immer. Es darf nicht wieder das Problem geben, dass die Stimmzettel ausgehen. Ja, und dann bin ich wohl den ganzen Tag unterwegs.
Der Experte
Stephan Bröchler, 60, ist Professor für Politik- und Verwaltungswissenschaft. Seit 2007 hatte er eine lange Reihe von Vertretungsprofessuren quer durch die Republik, seit Oktober 2020 lehrt er an der Hochschule für Wirtschaft und Recht (HWR) in Berlin. Er hat sich vor allem mit dem deutschen Regierungssystem beschäftigt. Bröchler war Teil einer von der Berliner Landesregierung eingesetzten Kommission, die nach zahlreichen Pannen bei den Wahlen am 26. September 2021 Verbesserungsvorschläge für künftige Abstimmungen erarbeiten sollte und ihren Bericht im Juli 2022 vorstellte.
Der Wahlleiter
Im September 2022 ernannte der Senat Bröchler zum neuen – ehrenamtlichen – Wahlleiter. Er trat sein Amt am 1. Oktober an. Zu diesem Zeitpunkt war absehbar, aber noch nicht offiziell, dass das Landesverfassungsgericht die Wahlen zum Abgeordnetenhaus und zu den zwölf Bezirksparlamenten für ungültig erklären würde. Das Urteil fiel am 16. November.
Derzeit steht im Raum, dass die OSZE offizielle Wahlbeobachter schickt. Ist das nicht ein bisschen übertrieben, oder sagen wir: Kratzt es an Ihrer Ehre als Organisator?
Nein, ich sehe mich eher als Reformmanager. Und ganz ehrlich: Durch die Pannen 2021 ist schon ein Schaden entstanden. Meine Überlegung ist: Wie erhöhen wir wieder die Akzeptanz für die Demokratie und die Wahlorganisation? Auf nationalstaatlicher Ebene ist es der Regelfall, dass die OSZE Beobachter schickt, 2021 waren auch welche da, aber eben nur für die Bundestagswahlen. Das Argument, Deutschland sei doch keine Bananenrepublik, daher brauchen wir das nicht, stimmt also sowieso nicht.
Nun war eine Vorabdelegation der OSZE in Berlin. Wird sie wirklich Wahlbeobachter schicken?
Wir werden sehen: Das ist nicht so einfach, ich kann die OSZE nicht einfach einladen. Das geht über das Auswärtige Amt, und auch die Innensenatorin musste noch mal einen Antrag stellen.
Mit welcher Wahlbeteiligung rechnen Sie?
70 Prozent wäre mein Traumziel. Aber ich weiß nicht, ob wir das erreichen.
Deutlich höher als zuletzt ist zumindest die Zahl der Wahlhelfenden: Mehr als 50.000 haben sich gemeldet, 42.000 werden benötigt.
Ja, in Berlin haben sich noch nie so viele Leute dafür gemeldet. Das hängt natürlich auch mit dem erhöhten „Erfrischungsgeld“ zusammen.
240 Euro gibt es jetzt für jeden – viermal so viel wie 2021.
Das war auf jeden Fall ein Trigger und hat viele bewogen, sich zu melden. Als ich meinen Studierenden sagte, es gibt 240 Euro, wollten sich alle melden – so schnell konnte ich gar nicht gucken.
Sie sind als Berliner Wahlleiter jetzt ein kleine Berühmtheit. Kriegen Sie schon Fanpost?
Fanpost nicht. Wobei – das ist mir jetzt total peinlich – es gab eine Anfrage, ob ich eine Autogrammkarte hätte, wahrscheinlich von einem Sammler. Aber natürlich gibt es keine und wird es auch nicht geben. Das entspricht meinem Amt gar nicht. Aber normale Post bekomme ich natürlich.
Was schreiben die Leute so?
Ganz unterschiedlich. Zum Teil unterstützend, dass gesagt wird: Ja, die Wiederholung ist eine gute Sache. Und dann hat man eben auch Leute, die mich sogar persönlich angreifen. Aber die meisten Anfragen betreffen die Wahlorganisation.
Im Hauptberuf sind Sie Politikprofessor an der Hochschule für Recht und Wirtschaft, der HWR Berlin. Haben Sie dafür überhaupt noch Zeit?
Im Moment ist der Job als Wahlleiter und Hochschullehrer extrem hart, ich mache das sieben Tage die Woche. Ganz anders, als ich mir das vorgenommen hatte: Ich hatte gedacht, am Montag und Freitag machst du Wahlleitung, Dienstag bis Donnerstag bist du an der Hochschule.
Und?
Alles Quatsch. Das hat gar nicht funktioniert, weil viele Fragen relativ schnell entschieden werden müssen. Es gab ja auch wenig Vorlauf. Ich war Teil eines Expertengremiums, das im Juli seinen – sehr kritischen – Bericht vorgelegt hat. Dann hat die Politik die meiner Ansicht nach mutige Entscheidung getroffen, ausgerechnet einen Kritiker aus der Kommission zu berufen. Ich musste mich schnell entscheiden, ob ich das mache. Von der Hochschule bekam ich dafür volle Unterstützung. Am 1. Oktober ging es los, ich bin der erste Politikwissenschaftler in dem Amt. Jetzt wäre eigentlich mein Forschungsfreisemester gewesen.
Perfekter Zeitpunkt!
Genau, aber meine Forschung kann ich nicht machen.
Ist Ihre Arbeit als ehrenamtlicher Wahlleiter denn etwa anderes als Feldforschung?
Schon. Ich wollte eigentlich über Regierungsforschung schreiben. Aber aus politikwissenschaftlicher Sicht ist mein Job enorm spannend, das stimmt.
Das erwähnte Expertengremium hat den Landeswahlleiter in Berlin als „König ohne Land“ bezeichnet. Sie wollen das ändern.
Genau. Ich habe die ganze Verantwortung, hatte aber bislang kaum Mitarbeiter oder Einfluss etwa auf die Bezirke. Und deshalb sagen wir ja, das muss sich grundlegend ändern. Inzwischen habe ich elf Mitarbeiter und eine Geschäftsführung.
Zugleich tauchen erste Pannen auf. In einem offiziellen Schreiben war der Wahltermin falsch angegeben.
Es ging um ein Informationsblatt zu den Wahlen zur Bezirksverordnetenversammlung. Der deutsche Text war korrekt, im englischen stand noch an einer Stelle der September. Auch in der englischsprachigen Überschrift war das Datum korrekt. Nichtsdestotrotz ein ärgerlicher Fehler. Ich habe letztens mit einem Kollegen gesprochen, der forscht zu Wahlen und Parteien. Er sagte: „Wenn das bei einer anderen Wahl passiert wäre, hätte es niemanden interessiert.“
Der Fehler mit dem nicht mehr vorhandenen FDP-Kandidaten auf dem Stimmzettel war schlimmer.
Ja, so etwas sollte nicht passieren. Wir haben von Anfang an versucht, innerhalb dieser 90 Vorbereitungstage ein System zu etablieren mit mehr Kontrollen und Vieraugenprinzip. Aber man muss auch sehen: Was wir jetzt in 90 Tagen machen, dafür hat man sonst ein Jahr Zeit. Als dieser Stimmzettel fertig gemacht wurde, haben die Mitarbeiter 18 Stunden gearbeitet, haben bis nachts gesessen – und dann ist es passiert.
Und jetzt?
Das ist ein Fehler, aufgefallen durch eine interne Kontrolle, und den muss man kommunizieren. Wir wollen nichts unter den Teppich kehren: Wir haben das sofort den entsprechenden Briefwahlstellen gemeldet; wir haben den Versand der Wahlbenachrichtigungen gestoppt, wir haben mit der Druckerei Kontakt aufgenommen. Die richtigen Stimmzettel sind gerade eben angekommen und werden verteilt. Ich mache ein Anschreiben an alle Betroffenen, das sind rund 1.600 Wähler*innen. Wer schon gewählt hat, kann das noch mal tun.
Ein riesiger Aufwand.
Ja, und nicht nur bei Pannen. Meine Bandbreite umfasst alles von der Makrostruktur – Fragen der Demokratie und von Wahlen – bis zu ganz konkreten mikropolitischen Entscheidungen und Prozessen: Papier bestellen, Stimmzettel, die eine bestimmte Sichtdichte und Gewicht haben müssen, die Suche nach Wahllokalen.
Aber gewählt wird in Berlin ja nicht erst seit gestern.
Schauen Sie: Wenn wir eine Turnhalle anmieten wollen als Wahllokal, müssen wir sehen, ob wir die einfach so nutzen können. Die Eigentümer sagen, die Leute machen mit den Straßenschuhen den Boden kaputt. Wir brauchen also Materialien, die wir auf den Boden legen können. Gab’s aber nicht. Daher kooperieren wir jetzt mit der Berliner Messe, die haben Auslegeware, die aber auch erst gereinigt werden muss. Eine Wahl ist ein Gesamtkunstwerk.
Kaum jemand sollte das besser wissen als ein Politikwissenschaftler!
Klar, auf der demokratiepolitischen Ebene brauchte ich keine Einarbeitungszeit, und als Verwaltungswissenschaftler hatte ich natürlich eine Vorstellung von entsprechenden Prozessen. Aber insgesamt war das ein Sprung ins kalte Wasser. Ich lerne gerade ungeheuer viel, das macht auch viel Freude – und ich hoffe, dass ich das irgendwann noch mal in einem Aufsatz verwerten kann oder in einem Buch.
Gab es denn eine solche Wahlwiederholung schon mal irgendwo?
Bis dato ist mir die Durchführung einer vollständigen Wiederholungswahl für Deutschland nicht bekannt. Es wäre interessant zu gucken, ob es international so was schon gegeben hat. Bisher kenne ich keine Forschung dazu. Aber zumindest die Pannenwahl wird gut erforscht: Wir kriegen eine Reihe von Anfragen von Studierenden, die ihre Bachelor- oder Masterarbeit schreiben wollen. Das freut mich.
Wer Ihre Uni-Laufbahn anschaut, stellt fest: Ihre Berufsverhältnisse waren bis 2020 sehr unsicher, da waren Sie immerhin schon 58 Jahre alt. So hatten Sie seit 2007 zahlreiche Vertretungsstellen als Professor, immer wieder ein Jahr, quer durch Deutschland: Hagen, Halle, Gießen, Darmstadt, Würzburg, Berlin, und nie eine entfristete Perspektive. Wie blicken Sie heute darauf?
Tatsächlich hat mir das auch viel Freude gemacht. Ich bin dadurch thematisch sehr breit aufgestellt, das hilft mir hier an der HWR. Es ist zwar viel Stress, aber ich war ja nicht allein mit dieser Situation. Viele Kolleginnen und Kollegen müssen das genauso machen.
Das ist doch eine Ochsentour.
Ja schon. Ich hatte den Vorteil, dass meine Frau und ich das zusammen gemacht haben. Sie ist Historikerin, und wir sind immer, wenn ich eine neue Vertretungsprofessur aufgetan hatte, weitergezogen für ein oder zwei Semester. So haben wir das familiär immer ganz gut aufgefangen. Aber natürlich habe ich auch immer das Ohr aus dem Fenster gehalten, ob nicht ein Ruf für die Professur kommt …
… der aber ausblieb, bis Sie 2020 an die HWR kamen.
Deshalb gab es immer wieder Phasen, in denen ich mich gefragt habe, ob ich nicht lieber eine Beratungsfirma für Politiker und Parteien gründen soll. Ich kann also gut verstehen, wenn andere, die in der gleichen Situation sind wie ich damals, darunter leiden. Und ich denke auch, dieses System muss verändert werden.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Kommen wir zurück zur Wahl. Sie sollen ja nicht nur die organisieren, sondern auch die Strukturen verändern.
Stimmt. Aber dafür war bisher keine Zeit.
Dabei geht es gleich weiter: Am 26. März steht die nächste Abstimmung in Berlin an, der Klima-Volksentscheid. Übernehmen Sie einfach die Wahllokale, die jetzt angemietet sind?
Ja, zum ganz überwiegenden Teil. Das ganz neu zu organisieren wäre zu knapp.
Und die Wahlhelfer müssen auch gleich noch mal ran?
Ich hoffe, dass sich viele davon wieder melden werden. Und hoffentlich auch jene, die wir bei dieser Wahl nicht einsetzen können. Für den Einsatz am 26. März wird es allerdings nicht mehr die bis zu 240 Euro geben. Der Senat will nun aber dauerhaft das Erfrischungsgeld von 60 Euro auf bis zu 120 Euro erhöhen.
Die Initiatoren des Volksentscheids dürften das als weitere Benachteiligung auffassen – sie sind schon sauer, weil sie darauf gedrängt haben, dass der Entscheid parallel zur Wahl stattfindet, um die Beteiligung zu erhöhen. Ist das nicht Demokratie zweiter Klasse?
Aus deren Sicht verstehe ich die Kritik. Ich habe dafür votiert, die 240 Euro auch beim Volksentscheid zu zahlen.
Viele Menschen werden schon vor dem Tag gewählt haben – per Briefwahl, deren Anteil wiederum bei 40 Prozent liegen dürfte. Ihre Vorgängerin als Wahlleiterin hat die zunehmende Briefwahl immer auch mit einem weinenden Auge gesehen. Wie ist Ihre Position? Und sind wir auf dem Weg, bald alle nur noch online abzustimmen?
Die Verfassungsrichter sind unisono der Meinung, dass die Urnenwahl die sicherste Wahl ist: Da kann es keine technischen Probleme geben, die Stimme muss nicht wie bei einer Onlinewahl in einen Algorithmus übertragen und übermittelt werden. Oder dass bei der Briefwahl der Sohn seiner 80-jährigen Mutter die Hand führt. Aber ich glaube, einen Weg zurück zur reinen Urnenwahl wird es nicht geben. Dafür ist die Briefwahl zu beliebt. Und ich finde es auch bei dieser Wahl legitim, wenn Wähler sagen, wir haben beim letzten Mal angestanden, das wollen wir dieses Mal auf jeden Fall vermeiden. Wichtig ist, überhaupt wählen zu gehen.
Welche Herausforderungen sehen Sie noch für die Organisation dieser Wahl am 12. Februar, wo könnte es noch knifflig werden?
Wir müssen die Wahl so organisieren, dass, wenn sich Probleme ergeben und sich etwa Schlangen bilden, wir das frühzeitig erkennen. Da wir genug Wahlhelfer haben, soll regelmäßig kontrolliert werden, was sich vor der Tür tut. Dann werden wir schauen: Funktioniert alles mit dem Transport der Stimmzettel in die Wahllokale? Aber ich denke, alles ist gut organisiert.
Also alles im grünen Bereich?
Wir leben derzeit nicht in Friedenszeiten. Es gibt kriegführende Länder, die vielleicht ein Interesse haben an einer Sabotage der technischen Infrastruktur, die zeigen wollen: Schaut mal, da bricht alles zusammen in Berlin.
Rechnen Sie ernsthaft mit russischen Cyberangriffen?
Wir müssen das in den Blick nehmen, und das tun wir auch. Ganz nebenbei ist das ein weiterer Beleg dafür, dass der Begriff der Wiederholungswahl schlecht gewählt ist.
Bitte?
Es ist de facto keine Wiederholungswahl, wir haben eine ganz andere politische Situation.
Welchen Begriff favorisieren Sie?
Ich habe noch keinen, aber Wiederholung ist ein Zerrbild. Diese Wahl ist schon näher an einer Neuwahl dran. Schauen Sie etwa auf den Wahlkampf, der für die meisten kleinen Parteien existenzielle Fragen aufwirft, da sie nicht schon wieder Geld dafür haben.
Was wäre die Schlussfolgerung?
Ich denke, wenn überschaubare Fehler passiert sind, kann es eine Wiederholung in gewissen Wahlbezirken geben. Aber wenn es so gravierende Pannen gab, wie sie das Verfassungsgericht hier festgestellt hat, dann muss man eigentlich sagen, dass man Neuwahlen macht. In vielerlei Hinsicht wäre das ein besserer Weg. Diese Debatte ist noch ein Stück weit Zukunftsmusik, aber man muss als Landeswahlleiter ja auch über den Tellerrand hinausblicken.
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