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Beginn des neuen SchuljahrsSo geht russische „Familienführung“

Um die Geburtenrate anzukurbeln, führt Russland ein neues Schulfach ein. Darin haben nur bestimmte Familien Platz.

Sogar die Hunde scheinen geschlechtergetrennt angezogen: Russland setzt auf „tradtionelle Familienwerte“ Foto: Anton Vaganov/rtr

Moskau taz | Es stehe schlecht um das Überleben der russischen Heimat, sagt die bald 70-jährige Duma-Abgeordnete Tatjana Larionowa in Moskau. Die Geburtenrate zu niedrig, die Scheidungsrate zu hoch, das Land befinde sich am „demografischen Abgrund“. Wo, wenn nicht in der Schule, könnten Kinder lernen, worauf es ankomme: „Ehe, kinderreiche Familien und Keuschheit.“

Die Schule in Russland ist, wie zu Sowjetzeiten, zur Anstalt der Indoktrination geworden. An diesem Montag fängt landesweit der Unterricht wieder an. 34 Stunden im Schuljahr, genauso viel wie etwa Chemie in der Oberstufe, soll das neue Fach „Familienführung“ für Schü­le­r*in­nen ab Klasse fünf einnehmen.

Als Pflichtfach ist es nicht gedacht. Das waren auch die sogenannten Gespräche über Wichtiges nicht, bei denen bereits Dritt­kläss­le­r*in­nen lernen, es gebe nichts Wichtigeres im Leben, als für sein Vaterland zu sterben. Wer sie nicht besucht, bekommt allerdings zuweilen Probleme mit dem Schulamt oder gleich mit dem Geheimdienst.

Für den Schulanfang steht bei den Gesprächen wieder ein „patriotisches“ Thema an: „Unsere Zukunft“. Russland, das durch seinen Überfall auf die Ukraine vielen die Zukunft genommen hat, bespricht in den Klassenräumen, wie hell das Morgen sei, während der Krieg – auch im eigenen Land – Kindern die Väter und Mütter nimmt.

Putin erklärte 2024 zum „Jahr der Familie“

Ähnlich hohl verhält es sich mit den allgegenwärtigen „Familienwerten“, die die „russländische Identität“ formten. Im vergangenen Dezember hatte Russlands Präsident Wladimir Putin das Jahr 2024 zum „Jahr der Familie“ erklärt. Familie – und das ist im Verständnis der russischen Politik eine „vollständige Familie“, also Mann und Frau, samt drei und mehr Kindern – solle popularisiert werden.

Die Rolle des Vaters sollen die Kinder weder kategorisieren noch bewerten

Alleinerziehende, Familien mit einem Kind, kinderlose Familien, Alleinstehende ohnehin werden so immer mehr als etwas Unnormales gesehen. Dass Männer von der Front nicht mehr nach Hause kommen und die „Vollständigkeit der Familie“ schon allein dadurch nicht erreicht wird, spielt da keine Rolle. Zudem ist es in Russland nicht untypisch, dass Kinder bei Mutter und Großmutter aufwachsen. Homosexuelle Beziehungen gelten im Land ohnehin als „extremistisch“, queere Familien mit oder ohne Kinder existieren für den Staat somit nicht.

Während in den USA, so heißt es im Handbuch zum neu eingeführten Fach, bereits die Kleinsten mit Sexualkundeunterricht „malträtiert“ würden, sollen russische Kinder viel über das „warme Gefühl der Liebe“ erfahren. An staatlichen Schulen im Land gibt es bis heute keinen Aufklärungsunterricht.

„Familienführung“ besteht aus fünf Blöcken. In „Mensch, Familie und Gesellschaft“ sollen die Kinder lernen, wie sie einen „richtigen Begleiter fürs Leben“ finden. „Nicht jeder lebt in einer vollständigen Familie, aber jeder sollte eine anstreben, denn nur damit wird man glücklicher“, sollen Leh­re­r*in­nen an ihre Klasse richten.

„Absoluter Mist“ – Exil-Pädagoge Dima Zicer

In „Meine Verwandten“ sollen Schü­le­r*in­nen ankreuzen, inwieweit die Mutter die Rolle der Köchin, der Putzfrau, der Hausaufgabenhilfe erfülle, ob sie stricken mag oder lieber lesen. Die Rolle des Vaters müssen sie dabei weder kategorisieren noch bewerten. „Ist Papa zu Hause das Oberhaupt?“, sollen Leh­re­r*in­nen fragen oder: „Begrüßt ihr Mama oder Papa mit einem Lächeln, wenn sie nach einem langen Arbeitstag nach Hause kommen?“

Weiterhin sollen die Schü­le­r*in­nen ihr „Verhalten in der Familie“ bewerten und Punkte für Tätigkeiten vergeben, die sie im Haushalt übernehmen. Als Tipps für eine „wohlige Atmosphäre daheim“ werden Familienausflüge vorgeschlagen oder auch empfohlen, gemeinsam zu putzen.

In den Klassen zehn und elf sollen sich die Jugendlichen „Wissen über die intimen Aspekte des menschlichen Lebens“ aneignen. Was diese Aspekte ausmacht, wird nicht erklärt. 13 von 34 Stunden sind dem Block „Familien und ihr Alter“ gewidmet. Hier heißt es, junge Frauen seien mit 20 bis 22 Jahren bereit zum Heiraten, junge Männer mit 23 bis 28. Da hätten sie eine „bürgerliche Reife und ein moralisches Bewusstsein“. In den Krieg eingezogen werden bereits 18-Jährige, offenbar ohne jegliche Reife.

„Fächer wie dieses rauben den Kindern ihre Persönlichkeit. Der Staat erzählt ihnen hier von der einzig wahren Art der Liebe, der Familie und des Aufwachsens. Es ist absoluter Mist“, sagt der im Exil lebende russische Pädagoge Dima Zicer. Genau darum aber geht es dem russischen Staat: dass die Menschen ohne jeglichen Zweifel aufwachsen.

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12 Kommentare

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  • Immer schön Soldaten gebären. Grauenhaft. Ekelhaft.

  • Und immer brav Kanonenfutter rascher bereitstellen, als diejenigen aus dem Lande flüchten können.



    Zu Familienwerten sollte auch Friedfertigkeit nach innen und außen gehören, oder, Genosse Wladimirowitsch?

    • @Janix:

      In ein paar Jahrzehnten wird es auch dort welche geben, die sagen: "Es war nicht alles schlecht."



      Anscheinend wiederholt Geschichte sich doch.

      • @Erfahrungssammler:

        Das ist ein schicker Seitenhieb auf unsere Zustände. Das eigentliche Problem sind dennoch jene in Russland (und hierorts auch), die glauben und erzählen, dass es jetzt nicht schlecht ist und eine Fassade der Normalität leben, die den faschistischen Alltag maskiert. Auf die werden sich jene, auf die Sie abheben dann auch berufen...

  • Eigentlich reden wir hier von einem einfachen Entwicklungsland, unbedeutend für den Rest der Welt wie ein Dorf in Sibirien. Wenn da nicht die Atomwaffen wären.

    • @maestroblanco:

      Ja, das habe ich schon öfter gehört.



      Faktencheck: Russland liegt beim BIP/Kopf Kaufkraftbereinigt bei Rang 60.



      Zwischen Griechenland und Bulgarien etwa. Kurz gesagt nennt man das "Schwellenland".



      Wenn sie nun aber 145 Millionen Russländer hochrechnen...

      de.wikipedia.org/w...dsprodukt_pro_Kopf

    • @maestroblanco:

      Unbedeutend für den Rest der Welt? Und was läuft gerade in der Ukraine ab?

    • @maestroblanco:

      Lieber bzw. liebe Maestroblanco,



      ich weiss nicht, ob es Ihnen bewusst ist, aber sie zitieren hier Franz Josef Strauss. Der nannte seinerzeit die Sowjetunion gerne ein "Entwicklungsland mit Atomwaffen".

      • @Josef Regnat:

        Was bis zum heutigen Tag eine absolut zutreffende Beschreibung ist.

  • Man beachte die Gewieftheit! Es ist keineswegs nur Indoktrination der bekannten Art. Die Passage (im Artikel) über Befragungen, scheint zudem auf ein klassisches Ausforschen der Verhältnisse hinzudeuten. Ganz analog zu seinerzeitigen Ostblock-Manier (ich kenne es aus Polen, genau so gab es das in der DDR), da die Lehrer ausforschten, welche Rundfunksender die Eltern der Kinder so hörten usw. Etabliert man erst einmal so ein System der Ausforschung des Privaten zu zwecken der anschließenden "Korrektur", ist man wohl an dem so lächerlichen wie erschütternden Punkt angekommen, da Kinder ihren Eltern zurufen "Du bist ein Gedankenverbrecher!" und sie anschließend denunzieren...

  • Und das alles im Namen des Patriarchats einschließlich toxische Männlichkeit, Femizid, Femizid+, schlechtere Bezahlung für Frauen usw.

  • Klar wenn man hundertausende verheizt, Millionen in die Migration treibt, pro-Kopf die meisten Aidserkrankungen außerhalb Afrikas hat, Alkoholismus und Drogen jedes Jahr Zehntausende töten. Dazu eine niedrige Geburtenrate, wo nur die Kolonialbevölkerung noch höhere Geburtenraten hat. Dann hat man als Land ein Problem, vorallem wenn man Weltmachtanspruch hat. Dann kommt man mit so einem Blödsinn um die Ecke. Zu spät, zu halbherzig und nicht in eine weitere politische Strategie eingetetet.