Bachmann-Preisträgerin Helga Schubert: Verschüttete Erfahrungen
Die DDR-Innenwelt wird wieder zugänglich. Schuberts Buch „Vom Aufstehen“ ist ein Ereignis über die Literatur hinaus.
Die repräsentative Geschichte der DDR-Literatur aus dem Jahr 1976 – Band 12 der sozusagen amtlichen marxistischen Gesamtdarstellung der deutschen Literatur, 907 Seiten – verzeichnet den Nachnamen Schubert dreimal. Gemeint sind drei heute vergessene Schriftsteller mit den Vornamen Dieter, Heinz und Holger.
1976 war die erste Sammlung von Kurzgeschichten der Psychotherapeutin Helga Schubert unter dem Titel „Lauter Leben“ im Aufbau-Verlag schon erschienen. Auf ein Jahr später datiert Helga Schuberts Entscheidung, sich neben ihrer Arbeit als Psychologin als freischaffende Schriftstellerin zu verstehen und ihr Leben zwischen Berlin und einer mecklenburgischen Landgemeinde aufzuteilen. Auch ihre zeitweiligen Freundinnen und Mentorinnen Christa Wolf und Sarah Kirsch besaßen dort Häuser.
1980 war ihr die Ausreise zur Teilnahme am Ingeborg-Bachmann-Wettlesen in Klagenfurt mit skurrilen Begründungen untersagt worden. 2020, als sie den Bachmann-Preis unter großer Teilnahme der Feuilletons doch noch gewann, lagen ein politischer Auftritt als Pressesprecherin des Zentralen Runden Tischs in Berlin 1989 und eine zurückgezogene Kandidatur zur Bundestagswahl von 1994 schon lange hinter ihr.
Helga Schuberts Leben als Schriftstellerin ist ein instruktiver Kommentar zu der alten Weisheit, dass Bücher ihre Schicksale haben und dass Büchermachen überhaupt viel mit den schwer greifbaren Bewandtnissen zu tun hat, die man als Schicksal bezeichnet. Die Gründe für das Misstrauen der offiziellen Literaturpolitik gegenüber Helga Schubert sind nicht darin zu suchen, dass sie sich 1976 den dortzulande kanonisierten formalen Schreibweisen verweigert hätte.
Gruppe 47
Ihr Debüt „Lauter Leben“ enthält well made short stories einer Machart, die nach dem Krieg im „Creative Writing Program“ der University of Iowa entwickelt worden war. Dieses Schreibprogramm wurde auch von der Gruppe 47 hochgeschätzt, und seine Regeln wurden auch im Leipziger Literaturinstitut Johannes R. Becher gelehrt.
Kurze (manchmal nur ein Wort umfassende) Sätze, Ellipsen, die Befolgung der Maxime „Show, don’t tell“, die bedeutsame Aussparung des Eigentlichen – eine Art Rokoko des Lakonismus war bis in die siebziger Jahre hinein gängiger Weltstil, dem auch in der DDR erfolgreiche Schriftsteller folgten. „Sommerhaus, später“ – um die Jahrhundertwende tauchte diese Formenwelt im Werk Judith Hermanns wieder auf – sicher eine Voraussetzung der Wiederentdeckung Helga Schuberts.
Die DDR-Kritiker und -politiker störte 1976 nicht etwas Formales, sondern etwas Inhaltliches an den Geschichten Helga Schuberts. Nämlich deren Orientierung an authentischer Erfahrung. Vergleicht man die Stücke aus „Lauter Leben“ mit den formal sehr ähnlichen des damals hochberühmten und heute vergessenen National- und Lessing-Preisträgers Benito Wogatzki, wird der Unterschied sinnfällig.
Entscheidungen, Gefühle und Erkenntnisse Einzelner
Schuberts erzählerische Versuchsanordnungen sind so angelegt, dass sie Entscheidungen, Gefühle und Erkenntnisse einzelner (und noch heutigen Leserinnen plausibler) Personen sinnfällig machen; Wogatzki dagegen konstruierte seine „unerhörten Begebenheiten“ so, dass Gefühle und Motive politischer Akteure aus seinen kunstvoll gestalteten Auslassungen hervortraten. Deren Intentionen und Dilemmata jedoch sind heute so gleichgültig oder unverständlich geworden wie die längst vergessenen Tagespolitiken der SED.
Helga Schubert: „Vom Aufstehen“. dtv, München 2021. 224 Seiten, 22 Euro
Authentische Erfahrung realer Personen war aufgrund der ihr unverlierbar eingeschriebenen Unberechenbarkeit irrelevant und sogar gefährlich für einen Literaturbetrieb, der Schriftsteller auch nach der offiziellen Entstalinisierung im Grunde immer noch als „Ingenieure der Seele“ verstand (wie die bekannte Formel des sowjetischen Diktators gelautet hatte).
31 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer und dem rasenden Verschwinden der DDR sind die Innenansichten und das Selbstverständnis der im sozialistischen deutschen Staat eingesperrten Bürgerinnen und Bürger so gut wie verschwunden aus dem deutschen Wissen. Oder anders und genauer: Sie sind noch da, aber sie haben keinen erkennbaren Ausdruck mehr.
Gefühle von damals schwer nachzuvollziehen
Politische Kommentatoren glauben sie in der Seltsamkeit von AfD-Wählern, Querdenkern und Altleninisten wiederzuerkennen. Aber wie sich real existierende Personen dort und damals wirklich gefühlt haben, ist aus genau den Gründen heute schwer nachzuvollziehen, die seinerzeit dazu geführt haben, dass die literarische Bedeutung der DDR-Schriftstellerin Helga Schubert in ihrem Land nicht wahrgenommen werden konnte.
Erfahrung ohne Ausdruck erzeugt ein Vakuum. Das erklärt die geradezu explosive Wirkung der Geschichte „Vom Aufstehen“, die Helga Schubert im letzten Jahr von ihrem mecklenburgischen Garten aus der Onlineversion des Klagenfurter Wettbewerbs präsentierte. Sie wirkte als eine Art Erlösung.
Jury und literarische Öffentlichkeit spürten, dass sich jenes Vakuum füllte. Verschüttete Erfahrung wurde zugänglich. Über den Abgrund dreier Jahrzehnte und einer Revolution hinweg übertrug sich die authentische Erfahrung einer realen Person aus einem Land, das es nicht mehr gab.
Sehnsuchtsort
„Ich lag im Schatten, und es war ganz still“, heißt es in Helga Schuberts neuem Buch. „Und es duftete nach dem warmen Kuchen. Dann machte ich die Augen auf. Es war mein Sehnsuchtsort.“ Der lag bei Greifswald, und plötzlich scheinen wir zu verstehen, was die DDR wirklichen Menschen auch bedeutet hat.
Helga Schuberts neues Buch heißt wie die Klagenfurter Kurzgeschichte und hat den Untertitel „Ein Leben in Geschichten“. Thematisch kann man es beschreiben als feinmalerische Auserzählung der in der Short-Story des Wettbewerbs skizzierten Motive. Der Brotberuf der Autorin ist der literarischen Artistin sehr hilfreich gewesen. Psychotherapeutinnen wissen nicht nur, wie es in anderen Menschen wirklich aussieht, sie wissen das auch deshalb, weil sie gelernt haben, sich selbst zu beobachten.
Zugutegekommen ist den neuen Geschichten aber auch die Lockerung der Regularien des „Show, don’t tell“, die Schubert in den siebziger Jahren noch sehr ehrgeizig und streng verfolgte. Die Lakonie ist noch da in ihrem neuen Buch, aber sie ist gemildert durch eine souveräne Nonchalance. Entstanden ist ein kunstvolles Parlando, das auch politisches, historisches und poetologisches Beiseitesprechen nicht scheut.
Wut, Enttäuschung, aber auch Liebe
Wirklich klarzumachen, wie es damals war und wie man sich damals gefühlt hat, ist Helga Schubert heute wichtiger als die reine poetische Lehre. Wut, Enttäuschung, Angst, Liebe, Ehe, Eltern- und Tochterschaft, Geborgenheit, Träume, Sehnsüchte, Genervtheit und Verliebtheit von Menschen unter lange nicht mehr vorstellbaren Lebensverhältnissen werden sinnfällig.
Die Innenansicht eines untergegangenen Staats entsteht. Und seine Nachwirkungen in der Gegenwart: „Es ist mein Diktaturschaden. Mein bleibender Diktaturschaden: Schon dieses Verharren in einem Wort, die leichte Erhöhung der Stimmlage, das leuchtende Gesicht. Ich ertrage es schwer.“
Oft kann man das Gefühl haben, das Schicksal von Büchern und literarischen Werken, ihr Untergehen, Wiederauftauchen und Neuentdecktwerden beruhe auf reinem Zufall. Das Schriftstellerinnenleben Helga Schuberts belehrt einen (wie vielleicht auf andere Art dasjenige Hermann Lenz') über die Rolle wirklicher, von Ideologien, Moden und kulturellen Politiken unbeirrter Erfahrung bei diesen schwer durchschaubaren Prozessen.
Wir wollen heute etwas Verlässliches (etwas uns Berührendes) hören und lesen über die Innenwelt des versunkenen Kontinents namens „Realexistierender Sozialismus“. Und es wird uns zugänglich nicht in den Büchern, die damals dort berühmt waren, sondern im Werk einer Schriftstellerin, deren Namen auch die ausführlichsten Literaturgeschichten ihrer Zeit nicht verzeichnet haben. Manchmal ist Übersehenwerden die beste Strategie im Kampf um Aufmerksamkeit.
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