Wiederentdeckter DDR-Roman: Die Kräuselschrift der Böen

Der Roman „Die Alleinseglerin“ aus der DDR ist wiederentdeckt worden. Darin zeichnet Christine Wolter eine Beschwörung widerspenstiger Schönheit.

Einzelnes Segelboot auf dem Scharmützelsee

Kompliziert, aber elegant: das Segelboot als Kampf­ansage an eine nur zweck­gebundene Schönheit Foto: Ilona Studré/ullstein bild

Die Alleinseglerin“ war 1982 in der DDR ein Coup. Dieses Bild löste eindeutige Assoziationen aus. Eine Frau, die mit ihrem Segelboot ohne Begleitung auf einem brandenburgischen See unterwegs ist, entzieht sich von vornherein den vorgegebenen Normen, sie nimmt ihr Leben selbst in die Hand. Und auch, dass sie eine alleinerziehende Mutter ist und ihre Männerbeziehungen lose und fragil, entsprach der Realität der DDR weitaus eher als ihre Darstellung in den offiziellen Medien.

Die Vorstellung der Alleinseglerin mit ihrem schönen weißen Drachenboot war so suggestiv, dass Herrmann Zschoche 1987 den Stoff für einen der letzten Defa-Filme aufgriff und die Titelfigur mit der Schlagzeugerin der ersten und einzigen DDR-Frauenband Mona Lise besetzte, also nicht mit einer ausgebildeten Schauspielerin. Tina Powileit verlieh mit ihrer Aura der Rockmusikerin der Literaturwissenschaftlerin Almut des Buches einen spezifisch rauen, melancholischen Charme, etwas Widerspenstiges und Gegenläufiges.

Christine Wolter: „Die Alleinseglerin“. Ecco Verlag, Hamburg 2022, 205 Seiten, 22 Euro

Sie machte damit den Film, und rückwirkend noch einmal den zugrundeliegenden Roman, zu einer bleibenden Chiffre für das Lebensgefühl in den späten Jahren der DDR – für das Abgekapselte und in sich Versponnene, aber auch Aufbegehrende. Und zur Magie des „Alleinseglerinnen“-Motivs gehörte sicher auch, dass der Einband des Buches unwillkürlich an die scharfe Zigarettensorte „Ligeros“ erinnerte, die eine Zeitlang aus Kuba importiert wurde und ein weißes Segelboot vor einem leuchtend blauen Hintergrund zeigte.

Es ist allerdings charakteristisch, dass der Film, der der eher unbekannten Schriftstellerin Christine Wolter zu einer gewissen Breitenwirkung verhalf, etwas ausklammerte, was dem Roman eine ganz besondere Färbung verleiht. Almut schreibt den Text nämlich in der Ich-Form aus Italien.

Aus der DDR nach Italien

Das entsprach der realen Biografie der Autorin Christine Wolter, die 1978 im Alter von 38 Jahren legal aus der DDR nach Italien ziehen konnte. Sie hatte Romanistik studiert und beim Aufbau-Verlag als Lektorin für italienische Literatur gearbeitet, 1976 veröffentlichte sie dort auch den lakonisch-aufmüpfigen Erzählungsband „Wie ich meine Unschuld verlor“ – aber sie blieb in der Öffentlichkeit der DDR eher eine Randfigur.

Das lag auch daran, dass sie auf einer Dienstreise im Auftrag der Akademie der Wissenschaften in Sizilien einen italienischen Architekten kennenlernte und heiratete. Offenkundig ging das ohne äußere politische Komplikationen vor sich, Christine Wolter brach ihre Brücken in die DDR nicht ab und veröffentlichte dort auch weiter ihre Bücher.

„Die Alleinseglerin“ ist ihr herausragendes Buch. Die Ich-Erzählerin Almut verknüpft hier kurze Momentaufnahmen aus Mailand mit dem Leben am märkischen See, und sie evoziert diesen deutschen Osten in mehreren Zeitschichten bis in die Gegenwart hinein. Ihr Ton bekommt durch die italienische Distanz dabei etwas ganz Eigenes und Schwebendes.

Der Reiz des Buches liegt unter anderem in dieser völlig ungewohnten Konstellation: Im winterlichen Mailand sehnt sich Almut, trotz aller Kritik an den Verhältnissen im Osten, nach der spröden, kargen Landschaft der Mark mit ihren „kommunalen Kiefern“, und vor allem nach ihrem Segelboot dort. Das wirkt wie eine Wiederaufnahme der Definition, die Ernst Bloch von „Heimat“ gab: „Was allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war.“

Sommer am See

Almuts frühe Jahre wurden geprägt vom sommerlichen Leben am See mit ihrem privilegierten Vater, der als Architekt zur Nomenklatura gehörte. Die Familienverhältnisse waren schwierig, der Kontakt nicht sehr eng, aber die Sommer standen im Zeichen des Häuschens am Wasser und des Segelboots. Der eher schwierig zu handhabende, aber ästhetisch alle anderen Boote überragende Drachen war die Obsession des Vaters.

Auch in ihrem Text spricht Almut von ihm als „Käptn“, zwischen Bewunderung und Distanz, wie alle anderen am See. Als er stirbt, gibt es jedoch schon längst viel praktischere Boote, plastikbeschichtet und mit Nylonsegel. Plötzlich gilt der alte Kielkreuzer aus Holz nicht mehr so viel. Aber sie setzt es sich in den Kopf, den kostspieligen Drachen zu übernehmen und viel Zeit und Energie für dessen Unterhalt und Wartung aufzubringen – etwas, was sie sich in ihrer Tätigkeit als Doktorandin eigentlich gar nicht leisten kann.

Ihr wissenschaftliches Thema sind „Konturen des neuen Menschen in den Frauengestalten“ früherer Epochen, und sie hat dafür einige „Krückenwörter“ zur Hand, wie „vorrevolutionär“, „frühbürgerlich“ oder „antizipatorisch“.

Und im Gefolge dieser Arbeit kommt es in der „Alleinseglerin“ zu Sätzen, die schmerzende Leerstellen markieren: „Ich studierte Literaturwissenschaft, die Kunst als Widerspiegelung der Wirklichkeit, aber die wirkliche Wirklichkeit begriff ich nicht. Unfassbar blieb mir der Unterschied zwischen wirklichem und scheinbarem Wind; die Bewegung der Baumwipfel konnte ich nicht lesen und nicht die Kräuselschrift der Böen auf dem Wasser.“

Sinnlichkeit und Sozialstudie

Es ist dieser irritierende Reiz der Sinnlichkeit, der Almut dazu führt, sich den Anforderungen des Drachens zu stellen. Vier Monate auf dem See stehen acht Monate der Instandsetzung und Pflege gegenüber, und in den Schwierigkeiten, das Boot über den Winter zu bringen, zeigen sich wie nebenbei auch die besonderen Klassenverhältnisse in der DDR. Die üblichen Wege sind für Almut finanziell nicht machbar.

Umso prägnanter ist die Figur des differenziert gezeichneten proletarischen „Kutte“, der sie in der zynischen Welt der Bootseigner und Werftleute unterstützt. Intensive Sozialstudien wie der Besuch einer Gebrauchsbootmesse, das Aufgeben einer Zeitungsannonce oder die Suche nach einer Abdeckfolie für den Winter, bei der Almut endlich auf ein als „Tischdeckenstoff“ annonciertes Material stößt, sind auch kleine Kabinettstückchen.

Die Seebewohner nennen Almut „Alleinseglerin“ und machen sich damit über sie lustig. Es gibt in diesem Buch einige Einblicke in die verkrustete DDR-Gesellschaft. Wie zum Beispiel ein einschlägiger Parteifunktionär auftaucht, beschwört auf beklemmende Weise ein Milieu herauf, das so scharf umrissen wohl nur aus dem italienischen Abstand skizziert werden konnte.

Obwohl sich Almut gegen eine in sich geschlossene Männerwelt am See behaupten muss, wäre es falsch, die „Alleinseglerin“ mit dem Feminismus der damaligen Bundesrepublik gleichzusetzen. Dazu ist alles zu sehr auf die spezifischen DDR-Verhältnisse bezogen. Es geht in erster Linie um individuelle Selbstverwirklichung gegen starre gesellschaftliche Normen, und die zentrale Rolle spielt dabei interessanterweise die emphatische Besetzung der Kunst.

Kampfansage an die SED-Parteigänger

Das Segelboot steht, als Kampfansage gegen äußerst realistisch gezeichnete SED-Parteigänger, für eine nicht zweckgebundene Schönheit. Der weiße Drachen, das „illusorischste aller Besitztümer“, ist mit seinen komplizierten Ansprüchen und seiner eleganten Erscheinung ein großes Gegenbild zu den „Jollen mit den Familienvätern“, er setzt sich über alles rein Funktionale und vermeintlich Vernünftige hinweg.

Christine Wolter gelingt damit wie nebenbei eine vielschichtige Metapher für Sehnsucht und Entgrenzung: „Weg vom Ufer, ins offene Wasser“ – in die Freiheit, hart am Wind.

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