Aus „Le Monde diplomatique“: Die Clans der Ukraine
Das Land ist seit Jahrzehnten in der Hand von Oligarchen. Sie beherrschen Wirtschaft, Medien und Politik. Die Korruption bestimmt den Alltag.
Die ukrainische Politik hat im September erneut eine überraschende Wende genommen. Noch vor Kurzem sprach der ukrainische Verteidigungsminister von einem großen Krieg, wie ihn Europa seit 1945 nicht gesehen habe. Und US-Politiker beschrieben die Ukraine als Schauplatz eines Krieges Russlands gegen Europa, der sich jederzeit noch ausweiten könne.
Doch dann folgte Mitte September eine Vereinbarung, die auf einen Kurswechsel hinausläuft, der den Konflikt um die Zukunft der Ukraine entschärfen könnte: Zwar soll der wirtschaftliche Teil des EU-Assoziierungsabkommen am 1. November 2014 in Kraft treten, doch seine volle Implementierung ist auf Ende 2015 verschoben.
Ebenso wichtig: Den umkämpften Territorien im Osten wird für drei Jahre eine weitgehende Autonomie gewährt. Das wäre in der Tat ein Ausweg aus der größten innenpolitischen Katastrophe des Landes seit dem Zweiten Weltkrieg, die bereits mehr als 3 500 Tote gefordert und eine Million Ostukrainer aus zerstörten Städten und Dörfern vertrieben hat.
Doch in Kiew kritisieren oppositionelle Stimmen, allen voran Julia Timoschenko, die relative Waffenruhe im Osten des Landes als Kniefall vor Moskau und kündigen eine Verfassungsbeschwerde an. Aktivisten der Maidan-Bewegung sehen die Werte verraten, für die sie protestiert haben; ihre militantesten Vertreter fragen sich, wofür sie fünf Monate lang gekämpft und Opfer gebracht haben. Dmytro Jarosch, der Führer des „Rechten Sektors", warnt Präsident Poroschenko, es könnte ihm ähnlich ergehen wie seinem Vorgänger Janukowitsch. Und unter den rechten Milizen im Osten wächst die Idee eines Marschs auf Kiew.
Überlebenskampf in defekter Demokratie
Kaum jemand stellte die näherliegende Frage, warum man nicht schon früher zu einem Kompromiss bereit war, etwa in Form des Fahrplans zu einer Verfassungsreform und Neuwahlen, den die Außenminister Frankreichs, Deutschlands und Polens im Februar unter Beteiligung der ukrainischen Opposition ausgehandelt hatten.
Die Entzauberung der Maidan-Revolution schreitet schneller voran als die der Orangen Revolution von 2005. Beide teilen das eigentümliche Schicksal eines Ereignisses von globaler Bedeutung, das gleichwohl an den realen Machtverhältnissen und den politischen Institutionen der Ukraine genauso wenig geändert hat wie an den wirtschaftlichen Strukturen. In ihrem Zerfall, der bereits mit dem Amtsantritt Petro Poroschenkos einsetzte, wird die Maidan-Bewegung als das erkenntlich, was sie schon bei ihrer Entstehung im Spätherbst 2013 war: eine temporäre Koalition höchst unterschiedlich motivierter Protestgruppen.
Der gemeinsame Gegner führte soziale Protestbewegungen, nationalistische Kampftrupps und um die Macht rivalisierende Eliten zusammen. Was in der westlichen Öffentlichkeit als Kampf europäischer Werte gegen einen wiederauferstandenen russischen Imperialismus porträtiert wurde, verdeckte in Wahrheit die höchst unterschiedlichen Interessen jeder dieser Gruppierungen.
Die ursprünglichen Motive für den Protest der ukrainischen Bevölkerung gehen aus einer im Dezember 2013 veröffentlichten landesweiten Umfrage der International Foundation for Electoral Systems (Ifes) hervor. Demnach handelte es sich in erster Linie um einen Überlebenskampf in einer heillos defekten Demokratie. Als die brennendsten Probleme wurden Inflation, Armut und Arbeitslosigkeit genannt, gefolgt von Korruption und einem maroden Gesundheitswesen.
Zwei Drittel misstrauten dem Präsidenten
74 Prozent der Befragten hatten kein Vertrauen zu den politischen Institutionen, am wenigsten zu dem von Korruption durchsetzten Parlament und zur Regierung, letztlich also zur gesamten politischen Klasse. Zwei Drittel misstrauten dem noch amtierenden Präsidenten Wiktor Janukowitsch, aber ebenso Oppositionellen wie Julia Timoschenko und Arsenij Jazenjuk und vor allem Oleh Tjahnybok, dem Chef der nationalistischen Swoboda-Partei.
Als zentrales Problem sahen die Befragten die Funktionsweise der ukrainischen Demokratie als solcher. In diesem Sinne trifft es zu, dass die Mehrheit der Maidan-Demonstranten auf einen radikalen Wandel aus war und sich nicht mit dem Rücktritt von Janukowitsch begnügte. Verstärkt und erweitert wurden diese Motive durch die Eskalation der Gewalt auf dem Maidan und die Repression des Regimes.
Die von USAID finanzierte Studie zeigt aber auch, dass zu den Motiven, die die Kiewer Bevölkerung auf die Straße trieben, keinesfalls irgendwelche geopolitischen Strategien gehörten. Ende 2013 sahen lediglich 14 Prozent im Verhältnis zu Russland und nur 4 Prozent im möglichen Beitritt zur Eurasischen Union ein Problem. 34 Prozent bevorzugten engere Wirtschaftsbeziehungen mit Russland, 35 Prozent mit der EU, während 17 Prozent hierin keinen Gegensatz erkannten.
Die Initiative ging allerdings seit Februar auf andere Gruppierungen über: auf nationalistische Stoßtrupps, die den Rückzug von Janukowitsch erzwangen, und auf Mitglieder des Parlaments, die mit der Technik des Machterhalts per Fraktionswechsel seit jeher vertraut waren. Die aus dem alten Personal zusammengesetzte Übergangsregierung hielt sich an die bewährten Muster opportunistischer Regierungsumbildungen. Ein selbst ernannter Maidan-Rat, der sich aus Führern der Anti-Janukowitsch-Parteien rekrutierte, entschied über die Verteilung der Regierungsämter.
Drei große Clans
Die Kontinuität oligarchischer Macht wurde dann im Mai durch die Wahl eines neuen Präsidenten gesichert. Petro Poroschenko war der Kandidat des westlich orientierten Pintschuk-Clans, der seit einigen Jahren für die Aufnahme der Ukraine in EU und Nato plädiert. Der Öffentlichkeit hatte sich Poroschenko durch die Liveübertragung der Maidan-Proteste in seinem eigenen Sender empfohlen. Mit seinem Sieg war der rivalisierende Achmetow-Clan aus Donezk, der hinter der Partei der Regionen, also hinter Janukowitsch, stand, in die Defensive gedrängt.
Diese oligarchischen Strukturen sorgen dafür, dass das Verhältnis zwischen nationalen Bewegungen, Parteien, Medien und politischer Macht von außen kaum zu durchschauen ist. Die dominierenden Clans haben sich im Übergang der Ukraine von einer Sowjetrepublik in die Unabhängigkeit herausgebildet. Die kommunistische Führung hat dabei das Konzept der staatlichen Souveränität von den westukrainischen Nationalisten übernommen - mit dem Ziel, sich aus der zerfallenden Sowjetunion herauszulösen und damit ihre Machtpositionen zu erhalten.
Der letzte Vorsitzende des Ukrainischen Obersten Sowjets, Leonid Krawtschuk, vollbrachte das Kunststück, sich an die Spitze der zuvor unterdrückten Nationalbewegungen zu setzen, indem er Ukrainisch zur Staatssprache machte und die desaströse Wirtschaftslage dem Moskauer Zentrum zuschrieb. Und die Interessen der Fabrikdirektoren und Arbeiter in den östlichen Regionen wurden durch die Privatisierung ihrer Industrien in ukrainische Hände bedient.
In den ersten fünf Jahren der Transformation ging die Hälfte der Unternehmen in privaten Besitz über. Die drei großen „Clans“ der 1990er Jahre bildeten die territoriale und sektorale Gliederung der ukrainischen Wirtschaft ab. Der Donezker Clan gruppierte sich um Rinat Achmetow, der die Schwer- und Metallindustrie dominierte; wichtige Verbündete waren der Industrieverband Donbass um Serhij Taruta, Witali Hajduk und die Gebrüder Klujew.
Pintschuk-Clan unterstützt Klitschko
Die Dnepropetrowsker Gruppe war am engsten mit der politischen Maschine von Leonid Kutschma, dem zweiten Präsidenten der Ukraine, verwoben. Wiktor Pintschuk, anfangs in der Metallindustrie engagiert, ist Kutschma familiär verbunden und stimmte seine Interessen mit der Finanzgruppe Privat von Ihor Kolomojskyj ab. Dieser Gruppe hatten sich Julia Timoschenko und Serhij Tihipko angeschlossen. Der Kiewer Clan als dritte Kraft profitierte von seinen direkten Verbindungen zur Präsidialverwaltung Kutschmas, sah jedoch seinen Einfluss unter den veränderten politischen Rahmenbedingungen zusehends schwinden.
Am Ende von Kutschmas Amtszeit im Januar 2005 hatten sich die Clans mittels Übernahmen und Zusammenschlüssen von ihren jeweiligen Regionen emanzipiert und politische Schlüsselämter in Kiew erobert: die Leitung des Außenministeriums, des Energieministeriums, der Zentralbank, des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrats sowie der Zollbehörde, aber auch den Vorsitz in wichtigen parlamentarischen Ausschüssen.
Für die Massenloyalität sorgt in diesem oligarchischen System die seit Ende der 1990er Jahre zugelassene Konkurrenz von Parteien, über die verschiedene Kapitalgruppen ihre Interessen koordinierten. Die Öffentlichkeitsarbeit der Clans läuft über Fernsehstationen und Zeitungen, die sie über ihre eigenen Mediengruppen kontrollieren. Die Veränderungen der ukrainischen Politik seit der Jahrtausendwende gehen auf die wechselnden Koalitionen dieser Kapitalgruppen zurück, die wiederum Verschiebungen im Parteiensystem bewirken.
Die von Timoschenko gegründete Vaterlandspartei konnte sich die Unterstützung des größten Autoproduzenten Tariel Vasadze sichern; Janukowitschs Partei Unsere Ukraine konnte auf Poroschenko, Taruta und Hajduk zählen. Angesichts dessen war kaum zu erwarten, dass der Sieg der Orangen Koalition von 2005 die Geschäftsgrundlage der Politik verändern würde. Stattdessen wurden in der Ära Timoschenko die Rivalitäten bei der Verteilung der Gewinne aus russischem Gasimporten in die Regierung selbst hineingetragen.
Keine proeuropäische Politik
Von einer proeuropäischen Politik der Orangen Koalition - im Gegensatz zu einer prorussischen Orientierung der vorangegangenen wie der folgenden Regierung unter Janukowitsch - kann also kaum die Rede sein. Denn auch die außenpolitischen Optionen waren stets von den Investitionsinteressen der Industriegruppen instruiert.
Allerdings keineswegs nach dem schlichten Schema „Ost gegen West“. Die im Osten der Ukraine operierenden Unternehmen sind längst in der Schweiz, Österreich oder Luxemburg registriert. Achmetow besitzt Stahlwerke in Italien und Großbritannien. In geschäftlichen Angelegenheiten vertrauen diese Konzerne internationalen Unternehmensberatern und Rechtsanwälten, Interessenkonflikte werden vor Gerichten in London oder New York ausgetragen.
Vor allem Pintschuk ist für einen raschen EU-Beitritt und sponsert den Ukrainischen Lunch beim Davoser Weltwirtschaftsforum. Umgekehrt setzten Poroschenko und Vasadze noch vor wenigen Jahren auf eine liberalisierungskritische Linie, um ihre Produkte weiterhin durch Einfuhrzölle gegen europäische Konkurrenz abzuschirmen.
Angesichts des vorherrschenden Opportunismus wäre es also trügerisch, die parteipolitische Szenerie der Ukraine in starre innen- und geopolitische Lager einzuteilen. Der „westliche“ Präsident Juschtschenko hatte 2005 kein Problem, Janukowitsch den Weg zur Rückkehr an die Macht zu ebnen, auf Kosten Timoschenkos. Und Poroschenko war Gründungsmitglied der Partei der Regionen und 2001 deren stellvertretender Vorsitzender. Als er jetzt im Mai zum Präsidenten gewählt wurde, meinte er, mit der neu gebildeten Regierung könne er gut zusammenarbeiten, weil er das Personal aus seiner früheren Arbeit bestens kenne.
Die Rhetorik des Kalten Krieges
Noch 2012 fungierte Poroschenko als Wirtschaftsminister unter Janukowitsch. Eine seiner ersten Amtshandlungen als Präsident bestand darin, die Unternehmer-Politiker Taruta und Kolomojskij zu Gouverneuren von Donezk respektive Dnjepropetrowsk zu ernennen. Aus der Clan-Perspektive hat Poroschenkos Wahl den weiteren Vorteil, Timoschenko als die große „westorientierte“ Rivalin des Pintschuk-Clans vorerst von der Macht fernzuhalten.
In der westlichen Wahrnehmung wurden diese Details der innerukrainischen Machtspiele durch die Rhetorik eines neuen Kalten Kriegs zugedeckt. Anders in der Ukraine selbst, wo die Ernüchterung bald einsetzte. Im Sommer 2014 waren auf dem Maidan - als letzte Zeichen des politischen Protests - nur noch die Zeltlager übrig, die sich bis zum Chreschtschatyk-Boulevard erstreckten. Die Symbole der Militanz - Militärausrüstung, Barrikaden, Schutzschilde, Steinhaufen und Reifenstapel - sind zu Stadtmöbeln geworden.
Ähnlich sieht es in den westlicheren Städten aus, wie etwa in Lwiw oder Iwano-Frankiwsk: Ukrainische Fähnchen und die schwarz-roten Embleme der westukrainischen Nationalisten, Anti-Putin-T-Shirts und Bandera-Plaketten werden als Souvenirs feilgeboten, finden allerdings mangels Touristen nur geringen Absatz.
Die gewaltsame Räumung der Kiewer Protestzone Anfang August erfolgte nicht, weil die Forderungen des Maidan nach einem Ende der Korruption und eines von Oligarchen vereinnahmten Staats erfüllt worden wären. Sie sollte vielmehr die Kontinuität des politischen Geschäfts demonstrieren und gewährleisten. Niemand weiß dies besser als Witali Klitschko, heute Bürgermeister von Kiew.
Von oben finanziert
Die erfolgreiche Wahlkampagne Klitschkos wurde vom Pintschuk-Clan organisiert. Noch im April hatte Klitschko auf die Besonderheiten der ukrainischen Demokratie verwiesen: Parteien werden von oben her finanziert, ihre Finanziers sichern sich die parlamentarische Repräsentation ihrer Interessen durch Vertraute, die sie auf den Parteilisten platzieren. Sobald die Alimentierung von oben ausbleibt, fällt eine Partei in sich zusammen.
Die Abgeordneten können auch in Abwesenheit parlamentarisch abstimmen, damit politische Verpflichtungen nicht ihre laufenden Geschäfte behindern. Achmetow, die Nummer eins der ukrainischen Oligarchen, hatte nach seiner Wahl über die Liste der Partei der Regionen 2006 das Parlamentsgebäude kaum betreten.
Die Übersetzung wirtschaftlicher Interessen in parlamentarische Stimmen sorgt zugleich für einen gewissen „Pluralismus“: Um auf Nummer sicher zu gehen, unterstützte Pintschuk Abgeordnete von gleich drei Parteien. Den Abgeordneten wiederum verschafft dies eine gewisse Autonomie, weil sie je nach politischer Wetterlage ihre Positionen - und ihre Einkommen - durch Partei- oder Fraktionswechsel sichern können. So haben nach der Flucht von Janukowitsch im Februar 2014 nicht weniger als 72 Abgeordnete dessen Partei der Regionen verlassen.
Über die Eigenheiten der ukrainischen Demokratie von oben hatte die Bevölkerung spätestens nach dem Verpuffen der Orangen Revolution keinerlei Illusionen. Nur wenige Monate nach der Wahl Juschtschenkos zum Präsidenten Anfang 2005 glaubte nicht einmal ein Viertel der Ukrainer, dass es mehr Demokratie im Lande gebe. Und 60 Prozent der Befragten sahen das Land auf einem falschen Weg. Nur 14 Prozent glaubten an einen Rückgang der Korruption.
„Anti-Terror-Operation“
Die folgenreichste Aktion der neuen Regierung war die „Anti-Terror-Operation“ im Osten, in den Medien „ATO“ genannt (wobei sich viele einen anderen Anfangsbuchstaben hinzudenken). Es handelt sich um eine Art Kriegserklärung, die sich zu sehr an der Feindsemantik von US-Beratern orientierte, als dass sie in der Bevölkerung große Begeisterung ausgelöst hätte. Und auch die Armee war in sich zu gespalten, um in einem internen Krieg voll einsatzfähig zu sein.
Das veranlasste die Regierung, über die Wiedereinführung der Wehrpflicht hinaus eine Nationalgarde aufzubauen, die sich auf Freiwilligenverbände stützt. Die Kämpfe in den östlichen Regionen werden also von Verbänden ohne klare Kommandostruktur geführt, deren Vielfalt kaum überschaubar ist. Die Tatsache, dass die Kampfgruppen in den Regionen um Mariupol, Lugansk oder Donezk von den Oligarchen Kolomoiskij, Taruta und anderen finanziert werden, zeigt dabei, wie weit die Usurpation von Staatsfunktionen durch oligarchische Gruppen gediehen ist.
Die nationalistischen Stoßtrupps des Maidan interpretieren ihren „Anti-Terror-Einsatz“ als „Einladung“ zum Kampf gegen einen prorussischen Separatismus. Allerdings muss man bezweifeln, dass viele Ukrainer von einem aufgeheizten Nationalismus beseelt sind. In Kiew sah man im August nur wenige Nationalflaggen. Und selbst in der westlichen Ukraine will der nationalistische Funke kaum zünden. In den Straßen von Iwano-Frankusk oder Lwiw machen die Bürger einen großen Bogen um die Stände von Gruppen, die zum Eintritt in die Nationalgarde oder auch nur zu Spenden auffordern.
Die für die Medien inszenierte Zerstörung von Symbolen aus der Sowjetzeit war das Werk kleiner rechtsradikaler Minderheiten. In Kiew ist von der Leninstatue an der Mündung des Taras-Schewtschenko-Boulevards zwar nur der Sockel geblieben, aber am Eingang zur Aula der gleichnamigen Universität prangen nach wie vor die Embleme der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften.
Salonfähige Nationalisten
Im Museum zum Großen Vaterländischen Krieg führt man die frisch uniformierten Rekruten noch immer durch die gemeinsame Geschichte des sowjetischen Siegs über Nazideutschland. Auch in den Museen Lwiws ist von einem antirussischen Nationalismus noch nichts zu sehen. Das Personal des Lwiwer Stadtmuseums, das unter anderem alte französische Landkarten von einer bis in den Kuban hineinreichenden Großukraine präsentiert, drückt sich sehr zurückhaltend aus, wenn man nach Symon Petljura, dem antisowjetischen Freiheitshelden der frühen 1920er Jahre, fragt.
Man scheint sich darüber im Klaren, dass der ukrainische Nationalismus selbst in der heroischen Phase nach dem Ersten Weltkrieg ein Minderheitenprojekt war. Die Dominanz nationaler Symbole in der aktuellen Politik hat andere Gründe. Seit der Unabhängigkeit wurden nationalistisch aufbereitete Themen immer wieder zur politischen Mobilisierung eingesetzt, stießen allerdings im Osten kaum auf Resonanz.
In den westlichen Landesteilen dagegen waren nationalistische und neofaschistische Kampfgruppen schon immer aktiv. Aber in der Öffentlichkeit und bei Wahlen spielten sie eine marginale Rolle. Die radikale Rechte überzeugte selbst im Kerngebiet des westukrainischen Nationalismus nur ein paar Prozent der Wähler und verunsicherte die Öffentlichkeit von Lwiw allenfalls durch Fackelmärsche. Und die paramilitärische Studentenvereinigung in Lwiw wurde wegen rassistischer Umtriebe aus dem Ukrainischen Studentenverband ausgeschlossen.
Der Aufstieg der Neofaschisten in der ukrainischen Politik geschah erst, als Juschtschenko den autoritären Führer der Sozial-Nationalen Partei Oleh Tjahnybok in seine Wahlallianz Unsere Ukraine aufnahm und ihm damit parlamentarische Respektabilität verschaffte. Seitdem versuchen Tjahnybok und seine Gefolgschaft, jetzt im weniger verdächtigen Rahmen der Swoboda-Partei, die Bevölkerung durch Kampagnen gegen Korruption und gegen die Oligarchen anzusprechen - ebenfalls ohne Erfolg. Die rechte Swoboda erreichte bei den Präsidentschaftswahlen im Mai gerade 1,1 Prozent, der neofaschistische Rechte Sektor 0,7 Prozent.
Rechte Proeuropäer
Dieses schwache Ergebnis darf allerdings nicht über die Funktionalisierung der neofaschistischen Subkulturen durch die vermeintlich prowestlichen Parteien hinwegtäuschen. Schon Juschtschenko würdigte die faschistischen Kampforganisationen der 1930er und 1940er Jahre als nationalen Widerstand. Deren Kommandeure Roman Schuschkewitsch und Stepan Bandera wurden trotz aller Proteste des polnischen, russischen und auch des Europäischen Parlaments offiziell zu „Helden der Ukraine“ ernannt. Ein gigantisches Porträt Banderas war noch im August dieses Jahres auf dem Maidan zu sehen.
Auch ohne Wahlerfolge haben rechtsradikale Demagogen ihre Position im Zentrum des Staats erstaunlich konsolidiert. Der Rechte Sektor des Maidan sieht heute seine Stoßtrupps, jetzt in reguläre Einheiten der Nationalgarde umgewandelt, zur Aufstandsbekämpfung im Osten eingesetzt. Und indem Swoboda-Chef Tjahnybok sich in der Maidan-Koalition profilieren konnte, vermochte er sich den Nimbus eines international respektablen „Proeuropäers“ zuzulegen. Noch vor einigen Jahren konnte man die ukrainischen Rechten als relativ ungefährlich einschätzen, da sie im Gegensatz zu den Politikern der großen Parteien über keine finanziellen Mittel verfügten.
Das hat sich geändert, weil inzwischen die Oligarchen Kolomojskij und Taruta mehrere Bataillone der Nationalgarde finanzieren, die sich hauptsächlich aus westukrainischen „Patrioten“ zusammensetzen. Doch dieser Patriotismus der rechten Art spricht die meisten Ukrainer trotz pausenloser Berichterstattung von den Fronten des Bürgerkriegs keineswegs an. Weitaus mehr Beachtung finden die steigenden Preise und die drohenden Sparprogramme. Die Kosten den Bürgerkriegs bekam die Bevölkerung zunächst nur in Form zusätzlicher Steuern zu spüren.
Seit Juli wird zusätzlich zu erhöhten Verbrauchsabgaben eine explizite Kriegssteuer auf alle Einkommen erhoben. Eine durch IWF-Auflagen erzwungene Steuerreform soll künftig auch Monatseinkommen von weniger als 1 700 Dollar stärker belasten. Allerdings spielt diese Schwelle zum höchsten Steuersatz bei einem offiziellen Durchschnittseinkommen von monatlich 225 Euro für die meisten Ukrainer ohnehin keine Rolle.
Oligarchen als Realpolitiker
Die seit Monaten angekündigten harten Reformen treffen eine Bevölkerung, die im täglichen Leben ohnehin improvisieren muss, um die dürftigen formellen Einkommen durch alle möglichen informellen Aktivitäten aufzubessern. Nach den Erfahrungen mit früheren IWF-Programmen wissen die Leute sehr wohl, was in den kommenden Monaten zu erwarten ist: steigende Preise ohne Wachstum.
Das Versprechen Poroscherenkos, das Bruttoinlandsprodukt (BIP) bis 2020 zu verdoppeln, wird sich demnächst an dem vom IWF prognostizierten BIP-Einbruch von 10 Prozent messen lassen müssen. Genauso unglaubwürdig ist die Ankündigung, die Militärausgaben auf 5 Prozent des Sozialprodukts zu steigern und die Rüstungsindustrie zum Motor eines wirtschaftlichen Aufschwungs zu machen.
Der Artikel stammt aus der deutschen Ausgabe von Le Monde diplomatique, der weltweit größten Monatszeitung für internationale Politik. Sie liegt in der Regel am zweiten Freitag im Monat der taz bei und ist separat schon ab dem Vortag im Buchhandel sowie an ausgewählten Kiosken erhältlich. Die komplette Ausgabe finden Sie unter www.monde-diplomatique.de.
Es ist nicht das erste Mal, dass ukrainische Politiker interne Probleme mit Verweis auf den äußeren Gegner in Moskau erklären wollen. Die autoritäre Formierung der Politik in den 1990er Jahren wurde damit gerechtfertigt, dass die Festigung des ukrainischen Staats wichtiger sei als die Demokratie. Die Oligarchisierung der Wirtschaft wurde als notwendiger Aufbau einer nationalen Bourgeoisie dargestellt.
Und wenn sich jetzt die „Anti-Terror-Aktion“ - angeblich eine Sache von Stunden - über Monate hinzieht, wird das eingesickerten russischen Truppen zugeschrieben. Dieser Erklärung liegt freilich die fatale Fehleinschätzung zugrunde, dass die regionale Polarisierung des Landes auf militärischem Weg zu überwinden sei. Dabei wird vergessen, dass die Anläufe zu einer „Ukrainisierung der Ukraine“, die 1993/94 und nach 2004 unternommen wurden, im Donbass wie auf der Krim sezessionistische Reaktionen ausgelöst hatten, die nur durch Konzessionen entschärft werden konnten.
Lösung Föderalismus
Mit dem Vorschlag einer Föderalisierung der Ukraine scheint sich diese Einsicht langsam durchzusetzen. Die Besinnung auf eine politische Konfliktlösung geht bezeichnenderweise wiederum von oligarchischen Kreisen aus. Kurz bevor Poroschenko seinen Friedensplan der ukrainischen Öffentlichkeit vorstellte, hatte Pintschuk am 14. September beim Davoser Weltwirtschaftsforum in Genf zum Ukrainischen Lunch geladen. Das Ergebnis war die gemeinsame Erklärung einer paritätisch besetzten Gruppe von Vertretern internationaler Konzerne aus der Ukraine, Deutschland, Russland und den USA.
Darin wird die Dezentralisierung der Ukraine vorgeschlagen, ferner Minderheitenschutz und Sprachenrechte für den Osten und eine bündnispolitische Neutralität nach Schweizer oder finnischem Muster. Dazu die Empfehlung, das Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union so zu gestalten, dass es mit Handelsbeziehungen zu Russland und später auch zur Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft kompatibel ist.
Bei den vorgezogenen Parlamentswahlen am 26. Oktober können die Ukrainer zu Poroschenkos Vorschlägen Stellung nehmen. Nach der jüngsten Umfrage des Kiewer Internationalen Instituts für Soziologie findet Poroschenkos Initiative mehr Zuspruch als die militanteren Positionen der Swoboda, der Radikalen Partei und von Julia Timoschenko.
Ein Vertrauensbeweis für den Präsidenten ist das allerdings nur angesichts schlechterer Alternativen. Ein realistisches Bild der Lage dürfte die letzte Erhebung des Zentrums für Sozial- und Marktforschung (Socis) in Kiew geben: 60 Prozent der Befragten stellten keine Verbesserung ihrer Lebenssituation fest, ein Viertel konstatierte eine Zunahme der Korruption.
Wie die Korruption im Alltag aussieht, konnte ich Ende Juli an der Nationalen Iwan-Franko-Universität Lwiw erleben. Bei ihrer Anmeldung zur Immatrikulation wurden zahlreiche Studenten von ihren Eltern begleitet. Manche von ihnen wollten sich vor allem vergewissern, dass sie die unter der Hand zu entrichtende Aufnahmegebühr in Höhe mehrerer Monatsgehälter gut investiert haben. Wenn sie erfahren, dass eine Aufbesserung von Noten am Semesterende billiger zu haben ist, werden sie womöglich sogar dankbar sein.
Auf den Straßen gehört die Korruption, wenn auch in kleinerem Maßstab, zum täglichen Leben. Als ein Kiewer Obsthändler nahe der Taras-Schewschtschenko-Universität Polizisten sieht, die mit einer Kontrolle am Nachbarstand offenbar ihr Gehalt aufbessern, meint er nur: „So leben wir.“
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