Aufnahme von Flüchtlingen aus Moria: Merkels Chance
Die 400 Jugendlichen sind ein Anfang. Doch wenn es nur bei ihrer Aufnahme bliebe, dann wären die EU-Staaten allenfalls eine Koalition der Billigen.
4 00 von 12.000. In Worten: Vierhundert von zwölftausend Menschen, die nach dem Feuer im griechischen Flüchtlingslager Moria auf Lesbos obdachlos geworden sind, werden jetzt in anderen EU-Ländern aufgenommen. Das ist besser als nichts, und der Schutz für die 400 unbegleiteten Minderjährigen ist natürlich besonders wichtig. Aber diese erste Hilfsaktion kann nur der Anfang sein.
Die Zahl der Evakuierungsberechtigten, die Kanzlerin Angela Merkel, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und andere wenigstens ansatzweise hilfsbereite EU-Regierungen am Donnerstag organisiert haben, ist lächerlich niedrig angesichts der Notlage rund um das verwüstete Flüchtlingscamp. Es ist offenkundig unmöglich, die vielen Geflüchteten noch länger auf der hoffnungslos überforderten kleinen Ägäisinsel menschenwürdig unterzubringen und zu versorgen. Wenn es jetzt bei 400 Jugendlichen bliebe, dann wären die aufnahmebereiten EU-Staaten nicht die erwünschte „Koalition der Willigen“, sondern allenfalls eine Koalition der Billigen.
Doch der gesamteuropäische Ansatz, den Merkel und Macron verfolgen, ist grundsätzlich richtig: Möglichst viele Partnerländer einzubeziehen und gemeinsam mit gutem Beispiel voranzugehen ist langfristig Erfolg versprechender als nationale Alleingänge – auch wenn es in Deutschland zum Glück viele Engagierte in Politik und Bevölkerung gibt, die dafür plädieren, alle 12.000 aus Moria auf einen Schlag sofort direkt nach Deutschland zu bringen.
Das aber wäre politisch höchst riskant. Erstens würde es die anderen EU-Staaten aus ihrer Mitverantwortung entlassen. Zweitens gibt es auch in Deutschland, wie jeder weiß, neben den humanitär Gesinnten viele, die eine weitere Aufnahme von Geflüchteten ablehnen. Diese Menschen gilt es zu überzeugen. Aber das wird nicht gelingen, wenn Deutschland jetzt als einziger EU-Staat handelt. Das dürfte nur den rechten Populisten weiter Auftrieb geben.
Ja, es ist frustrierend, dass alles so lange dauert und dass es derzeit, wohl auch wegen Corona, so wenig Hilfsbereitschaft in der EU gibt. Aber Deutschland ist dabei nicht das Hauptproblem. Im Gegenteil. In den allermeisten anderen Ländern herrscht noch mehr Desinteresse und Ablehnung. Doch es gibt eine Chance: die deutsche EU-Ratspräsidentschaft. In dieser Funktion könnte Merkel weitere und dann wirklich nennenswerte Koalitionen der Willigen schmieden. Und wer bei der Aufnahme der Geflüchteten aus Moria nicht selber helfen will, sollte wenigstens zahlen. Das wird nicht einfach, aber Merkel muss es versuchen. Mit ihrem bekanntesten Charakterzug: Geduld.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Pistorius lässt Scholz den Vortritt
Der beschädigte Kandidat
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Haftbefehl gegen Netanjahu
Begründeter Verdacht für Kriegsverbrechen