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Aufnahme von Flüchtlingen aus MoriaMerkels Chance

Lukas Wallraff
Kommentar von Lukas Wallraff

Die 400 Jugendlichen sind ein Anfang. Doch wenn es nur bei ihrer Aufnahme bliebe, dann wären die EU-Staaten allenfalls eine Koalition der Billigen.

Nach dem Brand: Unbegleitete Minderjährige warten auf den Abflug auf das griechische Festland Foto: Elias Marcou/reuters

4 00 von 12.000. In Worten: Vierhundert von zwölftausend Menschen, die nach dem Feuer im griechischen Flüchtlingslager Moria auf Lesbos obdachlos geworden sind, werden jetzt in anderen EU-Ländern aufgenommen. Das ist besser als nichts, und der Schutz für die 400 unbegleiteten Minderjährigen ist natürlich besonders wichtig. Aber diese erste Hilfsaktion kann nur der Anfang sein.

Die Zahl der Evakuierungsberechtigten, die Kanzlerin Angela Merkel, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und andere wenigstens ansatzweise hilfsbereite EU-Regierungen am Donnerstag organisiert haben, ist lächerlich niedrig angesichts der Notlage rund um das verwüstete Flüchtlingscamp. Es ist offenkundig unmöglich, die vielen Geflüchteten noch länger auf der hoffnungslos überforderten kleinen Ägäisinsel menschenwürdig unterzubringen und zu versorgen. Wenn es jetzt bei 400 Jugendlichen bliebe, dann wären die aufnahmebereiten EU-Staaten nicht die erwünschte „Koalition der Willigen“, sondern allenfalls eine Koalition der Billigen.

Doch der gesamteuropäische Ansatz, den Merkel und Macron verfolgen, ist grundsätzlich richtig: Möglichst viele Partnerländer einzubeziehen und gemeinsam mit gutem Beispiel voranzugehen ist langfristig Erfolg versprechender als natio­nale Alleingänge – auch wenn es in Deutschland zum Glück viele Engagierte in Politik und Bevölkerung gibt, die dafür plädieren, alle 12.000 aus Moria auf einen Schlag sofort direkt nach Deutschland zu bringen.

Das aber wäre politisch höchst riskant. Erstens würde es die anderen EU-Staaten aus ihrer Mitverantwortung entlassen. Zweitens gibt es auch in Deutschland, wie jeder weiß, neben den humanitär Gesinnten viele, die eine weitere Aufnahme von Geflüchteten ablehnen. Diese Menschen gilt es zu überzeugen. Aber das wird nicht gelingen, wenn Deutschland jetzt als einziger EU-Staat handelt. Das dürfte nur den rechten Populisten weiter Auftrieb geben.

Ja, es ist frustrierend, dass alles so lange dauert und dass es derzeit, wohl auch wegen Corona, so wenig Hilfsbereitschaft in der EU gibt. Aber Deutschland ist dabei nicht das Hauptproblem. Im Gegenteil. In den allermeisten anderen Ländern herrscht noch mehr Desinteresse und Ablehnung. Doch es gibt eine Chance: die deutsche EU-Ratspräsidentschaft. In dieser Funktion könnte Merkel weitere und dann wirklich nennenswerte Koalitionen der Willigen schmieden. Und wer bei der Aufnahme der Geflüchteten aus Moria nicht selber helfen will, sollte wenigstens zahlen. Das wird nicht einfach, aber Merkel muss es versuchen. Mit ihrem bekanntesten Charakterzug: Geduld.

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Lukas Wallraff
taz.eins- und Seite-1-Redakteur
seit 1999 bei der taz, zunächst im Inland und im Parlamentsbüro, jetzt in der Zentrale. Besondere Interessen: Politik, Fußball und andere tragikomische Aspekte des Weltgeschehens
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18 Kommentare

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  • Deutschland ist nicht das Hauptproblem? Aber dafür hat das Hauptproblem in Deutschland einen Namen: nämlich Horst Seehofer. Und dieser Mann, der in Deutschland alles daran setzt, Hilfe für geflüchtete Menschen in Not zu verhindern, wird von Angela Merkel gedeckt und im Amt gehalten; seine Blockadepolitik gilt in Deutschland anscheinend als höchste Staatsraison. Wenn Deutschland helfen würde, dann würde es seine Verhandlungsposition schwächen? Mit Verlaub, das ist der größte Schwachsinn, den man sich ausdenken kann. Ohne Seehofers Blockadepolitik, mit der er die Hilfsbereitschaft von Bürgen, Städten und Ländern ausbremst, wären wir auf dem Weg zu einer menschenrechtskonformen deutschen und europäischen Migrationspolitik sehr viel weiter. Es ist wirklich an der Zeit, dass der Blockade-Horst die Bühne verläßt und zurückgetreten wird.

    • 8G
      83379 (Profil gelöscht)
      @Victor Vetterle:

      Horst Seehofer will den Moment nutzen um eine dauerhafte Politische Lösung zu finden das ist handwerklich gute Politik. Was sie da beschreiben ist Aktionismus man hilft den Menschen in Moria, aber weiter kommt man dann nicht und tatsächlich macht das eine europäische Flüchtlingspolitik unwahrscheinlicher (kümmern sich doch die Deutschen um die Flüchtlinge).



      Jetzt Struktur in die Sache bringen auch wenn es jetzt noch ein paar Wochen dauert ist besser als emotional Getriebern Aktionismus.

    • @Victor Vetterle:

      Der Seehofer macht meiner Meinung nach keine gue Politik.

      Aber das Hauptproblem dieses Landes sind meiner Meinung nach die unzähligen Frustrierten, die aber viel zu kritiklos einigen "Rattenfängern" folgen und dann mal gegen Flüchtlinge, dann mal gegen "Links" und kurz danach gegen die Maskenpflicht wettern..

  • Menschen, die unter unsäglichen Bedingungen auf der Straße leben, sogar hunderttausende, Kinder, Frauen, Männer, gibt es auch in unserem Land. Noch nicht einmal die können mit Hilfe rechnen. Die ÖR zeigen putzsaubere leere Unterkünfte mit allem Pipapo, reserviert für Flüchtlinge, die nicht aufgenommen werden und die dennoch den Wohnungslosen hier vorenthalten werden.

    Mich widert diese bürgerlich selbstgefällige Doppelmoral an. Nach Griechenland reisen und medienwirksam Elend begucken. Und hier beide Augen verschließen, weil unsere "Penner" nicht der Rede wert sind.

    • @Rolf B.:

      Lassen wir mal das "unsere" und "andere" weg, dann wird ein "Schuh" draus.

      Trotzdem ist es natürlich Unfug, Bedürftige in Kategorien einzuteilen und dann Kategorie 1 zu helfen und Kategorie 2 eben nicht. Mit der Begründung "Weil das jetzt eben gerade mal so ist."

    • @Rolf B.:

      Sie und weiter unten Frau Fiedler fast wortgleich spielen die Elenden gegeneinander aus, ganz so, als wäre der Flüchtling der Konkurrent des deutschen Obdachlosen, als wären Obdachlose in Deutschland obdachlos, weil Flüchtlinge aufgenommen würden und als wäre es unmoralisch ( die anwidernde Doppelmoral!) Flüchtlinge aufzunehmen, solange es in Deutschland Obdachlose gibt.



      Diese These halte ich für bequem und unterkomplex. Elend und Obdachlosigkeit der Flüchtlinge in Moria haben vollkommen andere Ursachen, eine andere Struktur und einen anderen politischen Hintergrund als die Obdachlosigkeit in Deutschland und erfordern auch andere Gegenmaßnahmen. Flüchtlinge aufzunehmen steht nicht in Konkurrenz zur Bekämpfung von Obdachlosigkeit in Deutschland - man kann tatsächlich beides tun und fordern, ohne in die Gefahr der Doppelmoral zu kommen. Man kann aber auch andere der Doppelmoral zeihen, und selbst die Hände in den Schoß legen.

  • Die Richtung sollte sein, die Kommunen selbst entscheiden zu lassen.

    Die Nationalen Institutionen (Innenminister u.ä.) sind allzuoft Geiseln (und nicht selten auch Nutzniesser) populistischer Strömungen.

    Die EU legt einen Satz für Integrationskosten pro Flüchtling/Jahr fest, einheitlich für die ganze EU, wahrscheinlich absteigend über die Zeit.

    Sie legt ebenfalls einen Satz an Mindeststandards (Wohnung, Enährung, Gesundheit, Bildung, Teilhabe). Diese werden von unabhängiger Stelle überprüft.

    Die Kommune bewirbt sich direkt bei der EU um Flüchtlingsplätze.

    Voilà. Diejenigen, die den Job machen entscheiden auch darüber, und der Innenminister darf wieder mit der Eisenbahn spielen.

  • RS
    Ria Sauter

    Heute in der TAZ zu lesen:



    "Neue Zahlen zu Obdachlosigkeit"



    Es gibt hier, mitten unter uns, Menschen die ähnlich leben, wie die Menschen jetzt auf Lesbos.



    Liest man darüber wochenlang Artikel? Gibt es Demos für diese Leute?



    Sie sind nicht so interessant und ihre Not wird nach diesem heutigen Artikel wieder vergessen und verschwunden sein.



    Diese Doppelmoral widert mich an.



    Auch da könnten sich alle, die sich jetzt plötzlich gut und christlich nennen, doch mal richtig doll engagieren und dafür müßten sie nicht mit Gedöns nach Griechenland reisen.



    Es gibt viel zum Guten zu verändern, fangen wir doch mal vor der eigenen Haustür an!

    • @Ria Sauter:

      Nun, Frau Flieder, haben Sie z.B. da [1] mitgemacht?

      Ja, es gibt auch hier Menschen, die sich um (hiesige) Obdachlose bemühen. Machen Sie mit, statt zu behaupten, sie würden nicht existieren!

      Die einen gegen die anderen auszuspielen ist hingegen... geschmacklos.

      [1] taz.de/Obdachlosigkeit/!5589552/

    • @Ria Sauter:

      ... sicherlich ist das ein guter Ansatz. Konsequenterweise sollte allerdings dabei die Wirkung des eigenen Handelns über die Haustür hinaus bedacht werden. Und da eröffnet sich ein großes komplexes Feld. Die Auswirkungen von Produktion, Konsum, globaler Handel, hiesiger, mehrheitlicher Lebensstil in Bezug auf Lebensbedingungen der marginalisierten Menschen, sei es vor Ort oder "in der Ferne". Und Letztere sollten nicht gegeneinander ausgespielt werden.

  • Guten Morgen Herr Wallraff,

    Wenn Sie vor politischen Risiken warnen, reihen Sie sich mE in die Koalition der im Grunde Nicht-Willigen ein. Das ganze Gelaber von gemeinsame Lösung, keine Alleingänge etc. hilft den bedrohten Menschen nicht. Hier ist mutige, selbstlose Soforthilfe nötig. Und den populistischen Scherbenhaufen haben wir nicht den Geflüchteten oder den aktuell gefährdeten Menschen zu verdanken, sondern genau diesem Wankelmut und politischen Geschacher, welches auch Sie hier bevorzugen. Gerade weil unsere herrschende Clique keine starke Avantgarde ist, die humanistisch, liberal und mit linken Ideen vorangeht, tanzen uns die Rechten auf der Nase rum. Von einem taz-Kommentator erwarte ich mehr, als nur das blutleere und feige Einheits-Blabla. Wie wäre es mit einer Bewerbung bei der FAZ? Anspieltipp:



    Wie singt es Stoppok?: "Lass sie rein, Lass sie alle rein..."!

    Schönes Wochenende. Hier sind wir ja sicher.

    • @#protest:

      Ich sehe es ganz genauso wie Sie.

  • Warum eigentlich so bescheiden? Wenn man sich auf der Welt so umsieht, findet man Abermillionen Menschen, die unter den gleichen Bedingungen leben. Ist Deutschland denen gegenüber nicht auch zur Aufnahme verpflichtet? Kann das Problem nur durch Übersiedelung nach Deutschland gelöst werden?

    Anschlussfrage: warum ist das nicht auch ein moralisches Problem für, rein beispielhaft, Kanada, Argentinien oder Japan?

    • @Trango:

      Natürlich wäre eine Aufteilung besser.

      Andererseits: Wenn andere Länder eine "scheiß" Flüchtlingpolitik fahren, ist es schon gut, wenn unserer wenigtens halbwegs ok ist.

      Blöderweise wird das das auch gern von denen mit der "scheiß" Flüchtlingspolitik ausgenutzt.

    • RS
      Ria Sauter
      @Trango:

      Das habe ich auch schon gedacht!

    • @Trango:

      Im Lager Kutupalong z.B. leben 640.000 Menschen, ohne Strom, ohne Kanalisation, ohne Polizei. Menschenhandel, Sex-Sklaverei, viele unterernährte Kinder. Viel schlimmer als Moria, und 50-mal so groß.



      Das Lager Kutupalong wird von der UNHCR mit Unterstützung der EU betrieben (+USA, Kanada, Japan, Finland, Schweden, und IKEA).

      Moralisch ist es natürlich falsch über die Aufnahme von Menschen nur aus Moria zu diskutieren und nicht auch aus Kutupalong. Alle Menschen sind gleich. Kutupalong ist aber weit weg, groß, nicht in der EU, und für unsere Politiker am wichtigsten: nicht in unseren Medien.

  • Desinteresse an den Flüchtlingen, gepaart mit grundsätzlicher Ablehnung derselben werden auch weiterhin die hauptsächlichen Hinderungsgründe für konzertiertes Handeln der Mitgliedstaaten der EU sein. Da kann Frau Merkel den Allianzschmiedehammer schwingen wie sie will. Das ficht solche Länder wie Ungarn, Polen, Tschechien u.a. nicht an.