Aufarbeitung von Doping im DDR-Sport: Das Täteropfer von Thüringen
Eine Studie zu den Doping- und Stasi-Verstrickungen im Thüringer Sport polarisiert. Belastete Akteure wie Rolf Beilschmidt bekleiden noch Spitzenämter.
Beilschmidts Spitzeltätigkeit sei nicht, wie es der Betroffene gern darstellt, harmlos gewesen, vielmehr enthielten die von ihm ans Ministerium für Staatssicherheit weitergeleiteten Informationen „für die betroffenen, bereits in Ungnade des Staates gefallenen Personen ein gefährliches Potenzial“. Beilschmidts Behauptung, er habe niemanden in Schwierigkeiten gebracht, „sind in dieser Form nicht zutreffend“.
Es ist die erste Studie dieser Art, und sie wurde am Mittwochabend zum ersten Mal einer breiteren Öffentlichkeit vorgestellt. Etwa 150 Zuhörer, die meisten schon im Rentenalter, waren gekommen, um Geschichtsunterricht in Sachen Doping, Stasi und Sport in den ehemaligen Bezirken Erfurt, Gera und Stuhl zu nehmen. Die Autoren, zumeist Mitarbeiter des Zentrums für deutsche Sportgeschichte, haben das Wissen um die Schattenseiten des Thüringer Sports auf 310 Seiten gebündelt, sie haben Zeitzeugen befragt und porträtiert, den Transformationsprozess nach dem Mauerfall beschrieben, und sie haben, obwohl der Thüringer Landessportbund (LSB) 25.000 Euro zu dem Projekt beigetragen hat, keine Gefälligkeitsstudie verfasst. Denn sie lassen Rolf Beilschmidt, den ehemaligen Hochspringer, der heute Geschäftsführer des LSB ist, nicht einfach so davonkommen. Sie benennen seine Schuld, sein Versagen, seine Kollaboration mit dem System. Aber auch seine Rolle als ein Opfer der Zwänge – und der Stasi, schließlich wurde der Hochsprung-Straddle-Spezialist auch observiert, und das gleich von über einem Dutzend Spitzel.
Beilschmidts Geschichte steht exemplarisch für das Geschichtsverständnis der Herausgeber Jutta Braun und Michael Barsuhn. Geschichte sei „naturtrüb“, schreiben sie, in vielen Fällen würden „die Grenzen einer klaren Täter-Opfer-Dichotomie, wie sie in öffentlichen Diskursen nach dem Ende von Diktaturen häufig gesucht wird, deutlich.“ Differenzierte Forschung müsse „Kontext und Strukturen“ offenlegen, müsse mehr als Schwarz und Weiß entdecken, nämlich „wissenschaftliche Grautöne“. Barsuhn zitiert den britischen Historiker Timothy Garton Ash, der das Stasi-Akronym IM (“Inoffizieller Mitarbeiter“) als ein „tödliches Kürzel“ beschrieben hat. Barsuhn will damit sagen, dass „einseitige Enthüllungsgeschichten“ nicht ausreichten, um über Menschen zu urteilen. Ash wurde selber von der Stasi überwacht. Später hat er viele IMs und hauptamtliche Mitarbeiter der Stasi getroffen. Begegnet ist ihm die Banalität des Bösen: eitle, feige, geldgierige, verblendete, gehässige, naive, geschwätzige und karrieresüchtige Menschen.
Machtvakuum an der Spitze
Für die Kritiker des Thüringer Sports, die in den 25 Jahren nach der Wende an der Halsstarrigkeit der Sportfunktionäre und am Zusammenhalt der DDR-Seilschaften schier verzweifelt sind, ist es schwer, die Ergebnisse der naturtrüben Geschichtsforschung zu akzeptieren. Sie werfen den Autoren Kungelei flüchtiges Quellenstudium und mangelndes Engagement in der Forschung vor. Es gehe um Folgeaufträge, deshalb agiere das Zentrum für Sportgeschichte nicht allzu kritisch.
An diesem Abend fehlt jedenfalls Henrich Misersky, der Vater der Biathlon-Olympiasiegerin Antje Misersky. Er weigerte sich als Trainer im DDR-Wintersportsystem, seiner Tochter Dopingpillen zu geben. Nach der Wende profilierte er sich als Kritiker der Thüringer Sportverwaltung – und solche Kritiker seien „lästig im Thüringer Sport“, das hat er der Thüringer Allgemeinen kürzlich in einem langen Interview verraten.
Und weiter: „Ich halte das [die Studie] für pure Verschwendung von Steuergeldern. Die Studie ist nicht unabhängig, da vom LSB mitfinanziert. Diese Form der Aufarbeitung mutiert zum Geschäftsmodell“, schimpft er. Auch Ines Geipel, frühere Schmidt, ist nicht da im Hörsaal 3 der Erfurter Universität. Die Exsprinterin des SC Motor Jena, die heute dem Dopingopfer-Hilfeverein vorsitzt, hält Beilschmidt und LSB-Präsident Peter Gösel für „Nomenklaturkader aus DDR-Zeiten“. Den beiden sei es gelungen, in der Spitze des LSB ein Machtvakuum aufzubauen. „Kritische Stimmen werden weggedrückt, Opfer verhöhnt, Aufarbeitung ausgesessen.“
Weggedrückt wird offensichtlich auch die Stimme von Dirk Eisenberg, Vizepräsident des LSB. Er hat Rolf Beilschmidt den Rücktritt nahegelegt. Im Herbst möchte er wohl gegen Gösel antreten und LSB-Präsident werden; Chancen hat er keine. Eisenberg kommt sich mittlerweile vor wie im „ZK der SED“, ließ er verlautbaren. Der Chef der Thüringer Sportschützen verfolgte zwar die Präsentation der Studie am Mittwochabend, war aber als kritische Stimme auf dem Podium nicht erwünscht. Überdies war er im Vorfeld der Veranstaltung im LSB-Magazin von Gösel geschurigelt worden. Ihm wurde eine Medienkampagne unterstellt, sein Vorgehen sei „respektlos“. Immerhin ging Gösel nicht so weit wie vor einigen Jahren, als er den eingangs erwähnten Journalisten Thomas Purschke, der auch immer wieder für die Sportseite der taz schreibt, als „Lügenbaron“ bezeichnete, den man „in meiner Heimatgemeinde ersäufen würde“. Gösel stammt aus Erfurt-Gispersleben, ist nach Selbstauskunft „ein Dorfcharakter“, „ein Knüttel“, also ein etwas grober Klotz.
Unzureichende Belastungen
Wesentlich smarter pflegt Rolf Beilschmidt zu agieren, das Täteropfer. Der Opfertäter. Er geriet 1976 vor den Olympischen Spielen in Montreal in die Fänge der Stasi. Man setzte ihn wegen Westkontakten unter Druck. Nachdem er sich etwas geziert hatte, arbeitete er unter dem Decknamen „Paul Grün“ mit der Stasi zusammen. Pikant ist dabei, dass der DDR-Sportler des Jahres 1977 (Bestleistung: 2,31 Meter) eng befreundet war mit Roland Jahn, dem heutigen Leiter der Stasi-Unterlagenbehörde. Anfangs hat er Jahn wohl informiert, dass ihn die Stasi bedrängt, später aber hat er auch intime Details über Jahn berichtet und etwa dem Führungsoffizier Krause eine Postkarte von Jahn vorgelegt, die der ihm aus Portugal geschrieben hatte; Jahn wurde gegen seinen Willen ausgebürgert.
Beilschmidt bespitzelte auch Ines Geipel, berichtete, dass sie sich oft in Gaststätten aufhalte und „dort dem übermäßigen Alkoholkonsum zuspricht“. Auch dieses Puzzleteil im Operativen Vorgang der Stasi gegen Geipel führte 1985 dazu, dass die Athletin nach einem „clubinternen Tribunal“ aus dem DDR-Leistungssport ausgesondert wurde, wie die Autoren schreiben. Beilschmidts Karriere nahm da schon mächtig Fahrt auf. Der Jugendtrainer wurde stellvertretender Klubchef des SC Motor Jena, 1989 sogar Vorsitzender. Nach der Wende leitete Beilschmidt jahrelang den Olympiastützpunkt Thüringen. Später wechselte er zum LSB. Seine Stasi-Tätigkeit räumte er bereits 1992 ein, jedoch machte er Glauben, dass die IM-Tätigkeit 1981 beendet gewesen sei.
Das ist nicht ganz richtig. In seiner Funktion als Sportfunktionär arbeitete er weiter mit der Stasi zusammen. „Es war nur schwer möglich, sich einer Zusammenarbeit zu entziehen“, sagte er am Mittwoch, „da war man zu einer gewissen Kooperation verpflichtet.“ Diese Tätigkeit sei „öffentlich“ gewesen und nicht „konspirativ“, gab er vor. „Dass ich andere damit habe schädigen können, war mir nicht bewusst, möglicherweise habe ich mich leichtfertig geäußert.“ Zur Rechtfertigung seiner Stasiverstrickungen führte er an, dass er schon früh ein sehr persönliches Verhältnis zu seinem Führungsoffizier gehabt habe. Mit dem sei er gemeinsam in die Schule gegangen, außerdem sei er ja selbst „Objekt der Begierde“ gewesen.
Darf so einer weitermachen? Und darf so einer wie Peter Gösel weitermachen, der den West-Dopingtrainer Heinz-Jochen Spilker im LSB duldete oder den Oberst der Volksarmee und Leiter des ASK Vorwärts Oberhof, Gerhard Grimmer? Kann Rolf Beilschmidt den Thüringer Sport auch in Zukunft verwalten? Ja, findet das Präsidium des LSB. Ja, aber, sagt der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB). Eine Kommission hat sich 2014 mit dem Fall Beilschmidt befasst. Man kommt zu dem Schluss: Die Belastungen reichten nicht aus, um „die Abberufung von Herrn Beilschmidt von seiner Position als Hauptgeschäftsführer des Thüringer Landessportbundes (ausdrücklich) zu empfehlen“. Das Gremium spricht von „Einsichtigkeit“ des Betroffenen und bezieht sich auf den „inzwischen eingetretenen Zeitablauf“. So legt sich über den Thüringer Sport der Schleier der Geschichte. Immerhin: Den Mantel des Schweigens hat man mittlerweile weggepackt.
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