Aufarbeitung der Affäre Gelbhaar: Die Grünen-Spitze laviert weiter herum
Nach sechs Monaten veröffentlicht der Bundesvorstand der Grünen einen Bericht zur Gelbhaar-Affäre. Ihrer Verantwortung wird sie damit nicht gerecht.

D as Fazit soll niemandem richtig wehtun. Ein halbes Jahr ist es her, dass Belästigungsvorwürfe die Karriere des Grünen-Abgeordneten Stefan Gelbhaar beendeten. Kurz darauf wurde offenbar, dass die heftigsten Anschuldigungen fingiert waren. Nach knapp sechs Monaten Abklingzeit veröffentlichte der Bundesvorstand jetzt Ergebnisse einer eigens eingesetzten Jurist*innenkommission sowie eigene Schlussfolgerungen. In diesem Resümee laviert die Grünen-Spitze herum. Sie präsentiert sich etwas zerknirscht, aber nicht zu sehr, und gibt sich ansonsten Mühe, niemanden komplett zu verärgern.
Das gilt für die Bewertung von Vorwürfen gegen Gelbhaar, die auch bestehen blieben, nachdem andere schon als Lügen aufgeflogen waren. Entgegen einer Ankündigung heißt es vom Vorstand, man könne den Fall nicht aufklären. Weder eine „Rehabilitation“ noch eine (weitere) „Sanktionierung“ Gelbhaars werde man liefern.
Das gilt aber auch für die Schlüsse, die der Vorstand für den Umgang mit künftigen Fällen zieht. Als zentrale Konsequenz aus dem Bericht der Kommission setzt er eine neue Kommission ein. Sie soll ein neues Regelwerk erarbeiten und dabei Unmögliches leisten: im Spannungsfeld zwischen den Ansprüchen einer „sich sowohl feministisch als auch rechtsstaatlich verstehenden Partei“ eine Lösung finden, die Widersprüche zwischen beiden Prinzipien „auflöst“.
Sowohl-als-auch ist nicht möglich
Die Parteispitze wünscht sich ein Sowohl-als-auch. Das kann aber nicht in jeder Hinsicht funktionieren, was sich gerade an zwei nicht entschiedenen Grundsatzfragen zeigt, die den Grünen auch nach Monaten ein Urteil im Fall Gelbhaar unmöglich machen.

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Erstens: Welches Ausmaß muss ein Fehlverhalten annehmen, damit für den Verursacher gravierende Konsequenzen folgen? Sollte er Posten oder Mitgliederrechte verlieren, wenn sich ein Vorfall zwar weit unterhalb der Strafbarkeit bewegt, aber die Betreffende gemeinsame Parteiaktivitäten trotzdem unerträglich findet? Falls ja, wäre die Verhältnismäßigkeit gefährdet – falls nein, kommt es zwangsläufig zu Situationen, in denen sich die betreffenden Frauen nicht ausreichend beschützt fühlen.
Zweitens: Wenn Aussage gegen Aussage steht und keine Beweise vorliegen – hat dann unbedingt das mutmaßliche Opfer recht? Falls ja, haben Einzelne die Macht, Existenzen willkürlich zu vernichten – falls nein, bleiben zwangsläufig tatsächliche Vorfälle ungesühnt.
Keine triviale Frage. Richtig wäre, wenn die Grünen im Zweifel die rechtsstaatliche Antwort wählten und nur den Rahmen, der so entsteht, möglichst feministisch ausfüllten. Eine Partei mit dem Anspruch, den Staat zu gestalten, kann sein zentrales Prinzip nicht ignorieren. Klarheit in diesem Sinne hätte Defizite, würde Widersprüche provozieren und am Selbstbild kratzen. Aber noch einen Fall Gelbhaar kann auch keiner wollen. Um noch mal den Vorstand zu zitieren: In dieser Affäre wurde die Partei „ihrer Verantwortung gegenüber allen Beteiligten nicht gerecht“.
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