Atheismus an der Uni Göttingen: Gottlose Forschung
Die Geschichte des atheistischen Denkens ist lang, aber wenig erforscht. Das will unter anderem das historische Seminar der Uni Göttingen ändern.

Wer hierzu nach wissenschaftlicher Expertise suchte, wurde an der Georgia Augusta nicht fündig. Das soll sich nun ändern. Ein neues internationales Forschungsnetzwerk, das an der Uni angesiedelt ist, beschäftigt sich mit der Entwicklung des Atheismus und den Formen des Unglaubens in der europäischen Neuzeit.
Die beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus neun Ländern untersuchen dabei, wie der Atheismus zwischen den 1860er- und 1940er-Jahren nicht nur als intellektuelle Haltung, sondern auch als gelebte Erfahrung und organisierte soziale Bewegung in Europa entstanden ist.
Atheismus (altgriechisch: „ohne Gott“) bezeichnet die Überzeugung, dass es keine Götter gibt. Zum Atheismus im weiteren Sinne wird mitunter aber auch der Agnostizismus oder agnostische Atheismus gezählt, nach dem eine Existenz von Göttern nicht klärbar – und daher irrelevant ist. Weil wiederum der Agnostizismus unterschiedliche Ansichten vereint, ist seine Zuordnung zum Atheismus allerdings umstritten.
Mehr als ein Fünftel ohne Glauben
Wie viele Atheistinnen und Atheisten es auf der Welt gibt, ist unklar. In seiner „Bilanz des Unglaubens“ schreibt der französische Religionshistoriker Georges Minois, es kursierten Unmengen an Zahlen, die allesamt falsch seien.
Allenfalls sei aus ihnen zu ersehen, dass mehr als ein Fünftel der Menschheit nicht an einen Gott glaube. Allerdings präsentierte Minois selbst Schätzungen für das Jahr 1993 – weltweit 1,2 Milliarden Agnostiker und Atheisten – sowie für das Jahr 2000 – etwa 1,1 Milliarden Agnostiker und 262 Millionen Atheisten.
Um solche Zahlen geht es dem neuen Netzwerk nicht. Die 16 festen Mitglieder wollen vor allem aufzeigen, „wie atheistische Ideen durch Schriften, Organisationen und alternative Riten wie Jugendweihe oder säkulare Beerdigungen aktiv gelebt und verbreitet wurden“, sagte Mit-Initiatorin und -Leiterin der Forschungsgruppe, Carolin Kosuch vom Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte der taz.
„Darüber hinaus untersuchen wir, wie Atheisten oft als Bedrohung der Moral oder der öffentlichen Ordnung wahrgenommen wurden und wie sich diese Wahrnehmungen im Zuge breiterer gesellschaftlicher Veränderungen wandelten.“
Atheismus hat eine lange Geschichte
Die Wurzeln des Atheismus reichen bis in die Antike zurück. Die Epoche des Mittelalters war nicht nur eine Zeit großer Religiosität, sondern auch stark von Glaubensformen geprägt, die mit den kirchlichen Lehren konkurrierten. Renaissance, Humanismus und Aufklärung stärkten dann den Skeptizismus gegenüber religiösen Dogmen.
Im 17. und 18. Jahrhundert wurden vor allem Anhänger des niederländischen Philosophen Baruch de Spinoza als Atheisten diffamiert: Ihm zufolge ist Gott eine mit der Natur identische Substanz.
Als Kampfbegriff diente – und dient in den USA teilweise noch immer – die Bezeichnung „Atheist“ zur Diffamierung derjenigen, die zwar an Gott glauben, aber in Einzelaspekten von der herrschenden Gotteslehre abweichen.
„Uns war es sehr wichtig, die Geschichte möglichst vieler europäischer Atheismen einzubeziehen“, berichtet Kosuch. Neben Wissenschaftler:innen aus West-, Süd- und Mitteleuropa seien auch Ungarn, Tschechien und skandinavische Länder im Netzwerk vertreten.
„Hinzu kommen zu jedem Treffen eingeladene Experten und Expertinnen, sei es aus dem Bereich Digital Humanities, sei es aus der Atheismus- und Religionsforschung, die uns mit ihrem Wissen und ihrer Expertise unterstützen.“ Das Netzwerk wird drei Jahre lang durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft mit insgesamt rund 73.000 Euro gefördert. Die Teilnehmenden konferieren – teils in Arbeitsgruppen – online, es sind aber auch Präsenztreffen vorgesehen.
Das erste findet im September an der Universität Göttingen statt. Seine Forschungsergebnisse will das Netzwerk 2027 in einer umfangreichen Publikation bündeln. „Wir planen eine englischsprachige Quellenedition, die online verfügbar und mit einem umfassenden wissenschaftlichen Kommentar versehen sein wird“, kündigt Kosuch an.
„Unsere Idee war, dass diese Edition Grundlage für weitere Projekte dieser Art sein könnte.“ So könne der Atheismus in der Geschichte Europas dauerhaft die Aufmerksamkeit bekommen, die ihm zusteht.
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