Philosoph Tim Crane über Religion: „Tief in der Psyche verwurzelt“
Der britische Philosoph Tim Crane hat ein Buch über Religion geschrieben – aus Sicht eines Atheisten. Er fordert mehr Toleranz gegenüber Gläubigen.
taz: Herr Crane, jetzt nach der Wahl in Großbritannien rechnen alle mit einem zügigen Brexit. Damit wird auch die Nordirlandfrage wieder brisant. Stehen wir vor dem Wiederaufflammen eines religiösen Konflikts in Europa?
Tim Crane: Nein, ich glaube nicht, dass die Tage des bewaffneten Kampfes zurückkehren werden. Wahrscheinlich wird sich Nordirland auf lange Sicht der Republik Irland anschließen. Aber bei den „Troubles“, wie wir Briten die Auseinandersetzungen nennen, handelte es sich nie um einen genuin religiösen Konflikt. Es ging immer um Macht und Hegemonie.
Aber es gibt schon noch richtige Religionskonflikte, oder? Was ist mit der Fatwa, die der iranische Ajatollah 1989 über den Schriftsteller Salman Rushdie verhängte?
Ja, das ist ein wirklich gutes Beispiel für religiös motivierte Gewalt. Der Vorwurf lautete ja explizit Blasphemie. Beim Nordirlandkonflikt ging es aber um andere Sachen. Zum Beispiel darum, wie die Katholiken in Ulster von den protestantischen Engländern behandelt wurden. Aber die religiösen Überzeugungen auf beiden Seiten spielten so gut wie keine Rolle.
Der säkulare Autor Christopher Hitchens schreibt: „Religion vergiftet alles.“
Wegen solcher Aussagen habe ich mein aktuelles Buch geschrieben. Ich bin mit Emile Durkheim der Meinung, dass die menschliche Gesellschaft zusammen mit der Religion „groß geworden“ ist. Wenn überhaupt gehören also beide auf die Anklagebank – nicht nur die Religion. Aber Atheisten übertreiben die Rolle der Theologie in Konflikten gerne, um den Glauben als Ganzes zu verdammen. Ein Beispiel dafür ist Richard Dawkins Buch „Der Gotteswahn“. Denken wir zum Beispiel an die großen Konflikte im 20. Jahrhundert: Die waren überhaupt nicht religiös motiviert.
Es gibt Leute, die den Kommunismus als Religion begreifen.
Ja, das ist ein Missverständnis.
Nicht das einzige Missverständnis, wenn es nach Ihnen geht: In der Debatte zwischen Atheisten und Gläubigen reden beide Seiten völlig aneinander vorbei, schreiben Sie.
Genau. Von den „Neuen Atheisten“ wie Dawkins wird Religion meist als etwas Kosmologisches dargestellt, eine Art Proto-Wissenschaft. Aber mindestens genauso wichtig sind die sozialen Beziehungen, die aus dem Glauben erwachsen, das Gefühl, Teil einer historischen Tradition zu sein. Das fasse ich unter dem soziologischen Schlagwort „Identifikation“ zusammen. Dieser Aspekt wird von ihnen meistens ignoriert. Die Haddsch, die jeder Muslim einmal im Leben unternehmen muss, bringt Menschen zusammen – Millionen von ihnen pilgern jedes Jahr nach Mekka. Das ist der Wunsch nach etwas Außeralltäglichem; und als Teil des menschlichen Lebens mehr als verständlich.
Deswegen fordern Sie ja auch mehr Toleranz gegenüber Religionen. Aber was ist mit religiösen Praxen wie Steinigungen oder Genitalverstümmelungen? Sollten wir da auch tolerant sein?
Natürlich nicht! Ich glaube, irgendwo in meinem Buch schreibe ich, dass religiöse Praxis innerhalb rechtsstaatlicher Regelungen akzeptiert werden sollte. Ich lehne die Todesstrafe generell ab, also auch eine archaische Form davon wie die Steinigung. Und Genitalverstümmelungen sind ein barbarischer Eingriff in die Unversehrtheit des weiblichen Körpers. Autoren wie Dawkins versuchen den Atheismus mit dem „Weg der Bekehrung“ voranzubringen, wie ich es nennen würde. Das funktioniert ganz offensichtlich nicht: Auch heute sind noch 80 Prozent der Weltbevölkerung Anhänger der einen oder anderen Religion. Also sollten wir es mit dem „Weg der Toleranz“ versuchen.
57, ist einer der führenden Vertreter auf dem Gebiet der Geistesphilosophie. Der Brite lehrte am University College London und an der University of Cambridge. Seit 2017 hat er die Professur für Philosophie an der Central European University in Wien inne. Sein neuestes Buch „Die Bedeutung des Glaubens. Religion aus der Sicht eines Atheisten“ ist im November bei Suhrkamp erschienen
Haben Sie das atheistische Ziel aufgegeben, Religion aus der Welt zu schaffen?
Ich hatte dieses Ziel nie, also konnte ich es auch nicht aufgeben (lacht). Die Vorstellung, wir könnten Religion aus der Welt verbannen, ist eine utopische Fantasie. Religion ist tief in der menschlichen Psyche verwurzelt. Das heißt nicht, dass sie von Evolutionspsychologen erklärt werden sollte. Ich rede lieber von ihrem Platz in der menschlichen Kultur. Der weit verbreitete Wunsch, dass es „mehr zwischen Himmel und Erde“ geben muss, wird nie verschwinden. Was sollten wir liberalen, nicht-religiösen Menschen also tun? Ich schlage friedliche Koexistenz vor.
Wonach sucht man als atheistischer Philosoph eigentlich so? Nach dem „Sinn des Lebens“? Oder ist das den Gläubigen vorbehalten?
Ihre Frage spielt auf James Tartaglias Unterscheidung zwischen dem „Sinn im Leben“ und dem „Sinn des Lebens“ an. Tartaglia war aufgefallen, dass Philosophen heutzutage meistens über Ersteres reden. Die sprechen darüber, wie Menschen in ihren zwischenmenschlichen Beziehungen und Projekten Sinn finden können. Aber Gläubigen geht es um das Leben als ganzes, um den Sinn des Lebens. Wenn Sie mich fragen: So etwas gibt es nicht.
Feiern Sie Weihnachten?
Ich bin sogar ein Weihnachts-Enthusiast! Es gibt da eine wunderbare Geschichte über den Gründer des Zionismus, Theodor Herzl: Der ist in einer sehr reichen Familie in Wien aufgewachsen und wurde lange privat unterrichtet. Als er dann irgendwann auf eine Schule kam, lief er während der Adventszeit aufgeregt nach Hause und sagte zu seinen Eltern: „Wusstet ihr, dass die Christen auch Weihnachten feiern?“ (lacht) Ich liebe diese Geschichte, weil sie sowohl die Wichtigkeit als auch die Willkür solcher Feste so schön hervorhebt. Was bedeutet Weihnachten heute für uns? Ich würde sagen: Lichter in den Straßen, glückliche Menschen, Freundlichkeit gegenüber Fremden. Wäre es nicht eine Schande, würden wir das alles abschaffen, nur um unseren atheistischen Prinzipien gerecht zu werden?
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