Asylrecht in der EU: „Tiefpunkt noch nicht erreicht“
Die EU-Kommission will die Standards für Asylverfahren weiter absenken. Auf dem Tisch liegt ein Vorschlag für die sogenannte Krisenverordnung.
Die sieht vor, dass die Mitgliedstaaten in Ausnahmesituationen Standards für die Flüchtlingsaufnahme und die Asylverfahren absenken und Grenzübergänge schließen können. Möglich sein soll das etwa in politischen Krisen und bei „höherer Gewalt“ sowie bei einer sogenannten Instrumentalisierung von Geflüchteten durch Nachbarstaaten. Dann sollen sämtliche Ankommenden in das sogenannte Grenzverfahren genommen – und bis zu 40 Wochen festgehalten – werden können.
Die Kommission hatte dies ähnlich bereits 2020 angeregt. Bisher konnten sich die Mitgliedstaaten aber auf keine gemeinsame Haltung einigen. Die schwedische EU-Ratspräsidentschaft hatte den Vorschlag Ende Juni wieder auf die Tagesordnung gesetzt, die spanische treibt die Beratungen nun voran. Noch in dieser Legislaturperiode soll der Vorschlag verabschiedet werden, also bis Februar 2024.
Im Herbst 2021 hatte Brüssel bereits eine Art Pilotpojekt dazu vorgeschlagen: Polen und die baltischen Staaten sollten Grenzübergänge schließen und Aufnahmestandards für Geflüchtete vorübergehend absenken dürfen. Grund war, dass diese von Belarus über die Grenze geschleust worden waren, um der EU zu schaden – so das Argument der Kommission. Auf diese Weise sollten potenziell Flüchtende abgeschreckt und Belarus das Instrument aus der Hand genommen werden. „Es wird nicht gelingen, die EU zu destabilisieren, indem Menschen instrumentalisiert werden,“ sagte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen damals.
Asylverfahren sollen gänzlich eingestellt werden, so Polen
Doch Polen und die baltischen Staaten wiesen den Brüsseler Vorschlag zurück: Er sei „kontraproduktiv“, weil darin weiterhin eine Prüfung von Asylanträgen vorgesehen war. Asylverfahren müssten stattdessen gänzlich eingestellt werden, sagte Polens EU-Botschafter damals. Polen und die baltischen Staaten setzten lieber auf direkte Pushbacks der Ankommenden.
Die Kommission hielt an der Idee aber fest. Nur wenige Monate später schlug sie den Mitgliedsstaaten dann die so genannte Instrumentalisierungsrichtline vor. Die sollte keine Ausnahmeregelung, sondern allgemeines Recht werden. Die Kommission verwies zur Begründung nicht nur auf die Lage an der polnisch-belarussischen Grenze, sondern auch auf Vorfälle an der türkisch-griechischen und der marokkanisch-spanischen Grenze.
Dort hatten die EU-Nachbarstaaten Grenzkontrollen ausgesetzt, damit Flüchtlinge in größerer Zahl in die EU gelangen konnten. Damit verbanden sie Forderungen: Marokko erzwang im Mai 2021 die faktische Anerkennung Spaniens für die Anexion der West-Sahara. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan ermutigte im Februar 2020 Flüchtlinge demonstrativ, massenhaft die Grenze zu überqueren und begründete dies damit, dass die EU sich nicht an ihre Zusagen für die Flüchtlingshilfe gehalten habe.
Instrumentalisierungsrichtlinie soll Erpressung erschweren
Der belarussische Diktator Alexander Lukaschenko wiederum hatte die Geflüchteten 2021 offenkundig über die Grenze nach Polen schleusen lassen, damit die EU Sanktionen wegen Wahlbetrugs aussetzt.
Die Instrumentalisierungsrichtlinie sollte solche Erpressungsversuche in Zukunft erschweren. Verhindern würde sie diese aber nicht. Sie scheiterte zudem Anfang 2023 im Rat, unter anderem am Veto Deutschlands, das die Kriterien als zu vage bezeichnete. Missbrauch erschien wahrscheinlich. Der Vorschlag wurde abgelehnt.
Nun liegt das Konzept in Form der Krisenverordnung wieder auf den Tisch. Diese ist gewissermaßen das Gegenteil der sogenannten Massenzustromsverordnung, von der die Millionen in die EU geflüchteten Ukrainer:innen ab Februar 2023 profitierten. Diese ermöglichte der EU, im Krisenfall unbürokratischer als sonst Schutz zu gewähren.
Tiefpunkt noch nicht erreicht
Die Krisenverordnung zielt auf weniger Rechte für Schutzsuchende, wenn in Krisenfällen ein „Massenzustrom“ zu verzeichnen ist – oder dieser „droht“. Feststellen soll dies die EU-Kommission, nicht die Mitgliedstaaten selbst. Dann sollen verstärkte Grenzkontrollen durchgeführt werden, andere EU-Staaten sollen Schutzsuchende aus den betroffenen Ländern übernehmen müssen oder Geld zur „Bewältigung der Situation“ bereitstellen müssen.
„Der Vorschlag macht noch mal deutlich, dass es den Staaten der EU heute vor allem um die Entrechtung von Schutzsuchenden geht“, sagt der grüne EU-Abgeordnete Erik Marquardt. Die jüngste Diskussion zu dem Thema im Rat sei „entlarvend“. Der „Tiefpunkt der europäischen Asylreform ist noch nicht erreicht“, heißt es in einem offenen Brief von 55 NGOs an die Bundesregierung.
Die Verordnung droht „an den Außengrenzen den schon bestehenden Ausnahmezustand rechtlich zu zementieren“. Sie „verbiegt das Recht und ermöglicht es, das geltende Recht an den Außengrenzen zu brechen.“ Unterzeichnet haben unter anderem Ver.di, Amnesty und Brot für die Welt.
Aktualisiert am 26.07.2023 um 15.40 Uhr. d.R.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Wirkung der Russlandsanktionen
Der Rubel rollt abwärts
Frauen in der ukrainischen Armee
„An der Front sind wir alle gleich“
Landesparteitag
Grünen-Spitze will „Vermieterführerschein“