Arzt über Kriegsversehrte in der Ukraine: „Massenhafte Langzeit-Invalidität verhindern“
Der Mediziner Tankred Stöbe leitete den Einsatz von Ärzte ohne Grenzen in der Ukraine. Er erklärt, wie wichtig frühzeitige Traumatherapie ist.
taz: Herr Stöbe, Sie waren viele Monate als Koordinator für medizinische Projekte in der Ukraine. Wie ist die Lage dort?
der Notfallmediziner war seit Kriegsbeginn 2022 als medizinischer Koordinator von Ärzte ohne Grenzen drei Mal für mehrere Monate in der Ukraine. Von 2015 bis 2018 war er Mitglied des internationalen Vorstandes von Médecins sans frontières, von 2007 bis 2015 stand er als Präsident der deutschen Sektion von Ärzte ohne Grenzen vor.
Tankred Stöbe: Weiter weg von der Front nimmt man nur wenig vom Krieg wahr. Näher dran ist es umso brutaler. Es gibt Schwerstverletzte, Dutzende, teils Hunderte Tote jeden Tag. Was diesen Krieg so besonders macht, ist, dass es keine konkreten Opferzahlen gibt. Ich habe das selten so erlebt. Die letzte seriöse Schätzung zur Ukraine ging von insgesamt etwa 500.000 Toten und Schwerverletzten auf beiden Seiten aus.
Ist das realistisch?
Ja. Diese Opferzahlen hatten etwa die Amerikaner im Vietnam-Krieg, der dauerte 20 Jahre. Und es sind genauso viele wie in zehn Jahre Syrien-Krieg.
Was genau können Sie in einer solchen Lage tun?
Zehntausende Menschen, die an der Front leben, wollen nicht weg. Dieses Phänomen gibt es auch in anderen Krisengebieten, das ist schwer erklärbar. Das Militär würde die Dörfer gerne räumen, aber sie dürfen die Menschen nicht physisch wegtragen. Eine Lösung dafür gibt es bisher nicht.
Es gibt ein Dekret von Selenskyj, dass Altenheime evakuiert werden müssen. Wir versuchten, dabei zu helfen. Aber einige der Bewohner sagen bei klarem Bewusstsein: Ich will hier bleiben, auch wenn es mein Leben kostet. Das ist für uns eine neue Aufgabe – in den anderen Ländern, wo wir arbeiten, gibt es keine Altenheime. Insgesamt ist die Lage in der Ukraine für uns Neuland.
Warum?
Eine vergleichbare medizinische Versorgungsbasis gibt es in sonstigen Krisenländern selten. Die normale Gesundheitsstruktur in der Ukraine ist nicht schlecht, es gibt Dorfkrankenschwestern, einen Verbund von Arztnetzen noch aus Sowjetzeiten, der gut funktioniert. Die Kriegschirurgie ist ein Kriegsgeheimnis, abgeschottet vom Militär, das durch die hohe Anzahl an Schwerverletzten Erfahrungen in massivem Ausmaß gesammelt hat.
Das klingt, als ob es ihre Arbeit erleichtert.
Es stellt uns vor ganz neue Aufgaben, die wir in keinem anderen Konflikt so hatten.
Welche sind das?
Angesichts der enormen Zahl an Schwerverletzten, die im Land chirurgisch versorgt werden, muss die Qualität der Nachsorge angepasst werden – für Zehntausende. Ansonsten entsteht massenhafte Langzeit-Invalidität, die die Gesellschaft auf Jahrzehnte belasten würde. Das zu verhindern ist unser Ziel.
Wie geht das?
Man weiß heute genau, dass frisch Verwundete spätestens nach einer Woche physiotherapeutisch behandelt werden müssen. Sonst beginnen die Gelenke zu versteifen und Muskeln bilden sich zurück. Geht man nicht sofort und konzentriert dagegen vor, bleiben auf ewig Einschränkungen.
Das wird in der Ukraine aber normalerweise nicht gemacht. Die alten Methoden, noch aus den sowjetischen Sanatorien, die reichen einfach nicht mehr. Verletzte kommen erst Wochen oder Monate nach der Operation ins Sanatorium, da gibt es dann ein bisschen Massage und Wassertreten. Das ist zu spät und zu unspezifisch.
Für uns heißt das, mit den ukrainischen Kolleg:innen Wissenstransfer zu machen. Den Kliniken wird langsam bewusst, dass es diese wichtigen Komponenten nach der kriegschirurgischen Phase gibt, sie benötigen mehr Platz und Personal.
Wo kriegt man dieses Personal her?
Das Land braucht modern ausgebildete ukrainische Psycholog:innen und Physiotherapeut:innen, davon gibt es zu wenige. In der Ukraine sind derzeit 640 Spezialist:innen für uns tätig, 570 davon Ukrainer:innen. Im Laufe der Monate konnten wir immer mehr internationales durch ukrainisches Personal ersetzen.
Wie gehen die Menschen mit psychischen Traumata um?
Ich war in vielen Krankenhäusern und habe mit Dutzenden Schwerverletzten gesprochen. Die meisten hatten Alpträume, Flashbacks, Nervosität, Angstmomente. Die Verwundeten geben das mittlerweile öfter zu und nehmen Hilfe an. Aber im selben Atemzug sagen sie auch: Der Familie kann ich das nicht sagen. In der Gesellschaft noch weniger.
Wie gehen die Kliniken damit um?
Mental Health spielte letztes Jahr noch keine große Rolle. Es gab lange wenig Verständnis und Bereitschaft, das ernst zu nehmen. Ich war in einem großen Psychiatrie-Krankenhaus nahe der Front mit 600 Betten und vielen seelisch Kriegsversehrten. Die erhalten dort ausschließlich Psychopharmaka, keine Gesprächstherapie. Das reicht nicht. Morgens kriegen sie Pillen und dann liegen sie im Bett und warten auf den nächsten Tag. Es gibt noch wenig Bewusstsein, dass da etwas fehlt. Sie sind froh, dass sie genügend Betten haben.
Welche Folgen hat das für die Betroffenen?
Bei denen, mit denen ich gesprochen habe, unterscheiden die sich stark: Einige waren völlig gebrochen, depressiv, hatten Angst, wieder kämpfen zu müssen, das war eine Minderheit. Einige haben sich gar nichts anmerken lassen. Und die dritte Kategorie wollte sofort wieder an die Front.
Freiwillig?
Teils, teils. Da gib es einen intrinsischen Willen, etwas für das Land zu tun. Aber auch der Druck im Militär ist groß. Wer irgendwie einsetzbar ist, muss wieder in den Einsatz und kriegt sonst kein Geld mehr. Das ist nicht nur militärisches Heldentum, sondern auch eine Drucksituation.
Werden Sie als Deutscher gefragt, warum nicht mehr Waffen geliefert werden?
Ich hatte die Frage erwartet, sie kam aber im medizinischen Alltag nicht vor.
Sie werden als Helfer also akzeptiert?
Ja, aber man muss wirklich jeden Tag vor Ort präsent sein und gute Arbeit leisten. Die wollen kein Geschwafel, die wollen praktische Zusammenarbeit. Dann kann man auch komplexere Projekte zusammen stemmen. In Cherson etwa haben wir einen Klinik-Bunker renoviert. Wir haben die lokalen Baufirmen bezahlt, aber auch die konkrete Planung gemacht. Nun kann man die Klinik dort im Untergrund weiter betreiben. Im gleichen Krankenhaus war vorher bei einer OP ein Chirurg durch ein Geschoss getötet worden. Die Warn-App bringt in solchen Fällen nichts, weil die Raketen viel zu schnell einschlagen.
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