„Arisierungs“-Mahnmal in Bremen: Vier Quadratmeter Wahrheit
Die Bremer Logistikfirma Kühne + Nagel hat in der NS-Zeit von den Enteignungen der Juden profitiert. Nun wird ein Mahnmal eingeweiht – auf taz-Initiative.
D er gesetzte Mittfünfziger im dunklen Anzug wird allmählich ungeduldig. „Es ist gleich viertel vor zehn, da will ich doch nicht mehr über den Nationalsozialismus reden!“ Zuvor hat er, betont freundlich, für ein großformatiges Bauprojekt seiner Firma geworben, in bester Bremer Innenstadtlage. Doch dann läuft die Sitzung im zuständigen Stadtteilbeirat anders als gedacht. Uwe Bielang, der nun in Rage gerät, braucht dessen Segen für die Baupläne seiner Firma, Kühne + Nagel – aber keine Debatten über einen angemessenen Umgang mit der Unternehmensgeschichte.
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Gibt es das überhaupt – einen „angemessenen Umgang“? Schwierige Frage. Aber es gibt durchaus so etwas wie eine Not-to-do-Liste im Umgang mit der NS-Vergangenheit. Dazu gehört: Nebelkerzen werfen. Anfragen von Historiker:innen abbügeln. Und darauf zu vertrauen, dass die Standardbehauptung, alle Akten seien verbrannt, noch immer so gut funktioniert wie früher.
Bielangs Firma hatte jahrzehntelang Zeit, über den Nationalsozialismus zu reden. Jahrzehnte, in denen in schöner Regelmäßigkeit Firmenchroniken erschienen, Anschauungsmaterial für selektive Geschichtsdarstellung.
Allerdings gehört die Firma nicht Uwe Bielang, er ist lediglich „Regionalleiter Norddeutschland“ des drittgrößten Logistikkonzerns der Welt. Dort hatte 2016, als sich die kleine Szene im Stadtteilbeirat zutrug, nach wie vor Klaus-Michael Kühne das Sagen, dessen Vater und Onkel die Firma in den 1930er und 1940er Jahren führten.
Zurückhaltung bei Kühne
Auch heute noch ist Klaus-Michael Kühne, mittlerweile 86 Jahre alt, weit mehr als bloß Mehrheitsaktionär: Er bestimmt, was geschieht, und auch, was nicht. Zur zweiten Kategorie gehört die Befassung mit der Geschichte der Firma während der NS-Zeit. Insofern ist der Fall Kühne + Nagel ein Anachronismus. Aber er verweist auf ein gesamtgesellschaftliches Problem: die sehr zurückhaltende Auseinandersetzung mit dem unangenehmen Thema „Arisierung“.
„Arisierung“ – so hieß im NS-Jargon die systematische Ausplünderung der jüdischen Bevölkerung, deren „Erträge“ noch immer zur Erbmasse zahlreicher deutscher Familien gehören. Daher wurde aus dem kleinen Eklat im Stadtteilbeirat eines von zahlreichen Zwischenschrittchen auf dem Weg zu einem thematisch weit größeren und damit auch langwierigeren Projekt: dem Bremer „Arisierungs“-Mahnmal. Diesen Sonntag wird es eingeweiht.
Zeitsprung, Ortswechsel: Als Otto Frank im Juni 1945 in die Prinsengracht 263 in Amsterdam zurückkehrt, ist das Gebäude komplett ausgeräumt. Zwei Jahre lang hatte er sich mit seiner Familie im Hinterhaus vor den deutschen Besatzern verborgen. Als Einziger seiner Familie überlebte Otto Frank die Verhaftung und Deportation. Seine Töchter Anne und Margot starben 1945 in Bergen-Belsen.
Fünf Monate nach der Befreiung aus Auschwitz steht Otto Frank also in den leeren Räumen – und entscheidet, das Haus in genau diesem Zustand zu belassen. „Die Leere“, schreibt die niederländische Kunsthistorikerin Aukje Vergeest, „symbolisierte für ihn den Verlust seiner Angehörigen und Freunde, die nicht aus den Lagern zurückgekehrt waren“.
70 Jahre später, im Januar 2015, feiert Kühne + Nagel ein großes Jubiläum auf dem Bremer Marktplatz. In Bremen hat der Konzern seine Wurzeln. 1890 wurde die Firma an der Weser gegründet, als Spedition vornehmlich für Getreide, Zucker – und Möbel. Zum 125. Geburtstag nimmt sich die Firma besonders viel Zeit, um History-Marketing zu betreiben: Kleine Anfänge, große Erfolge, dazwischen ehrliche Arbeit und harte Zeiten im Krieg – dieser Erzählung applaudierte auch die bremische Politprominenz. Für vieles ist in dieser Geschichts-Show kein Platz – auch nicht für Adolf Maass, den 1933 aus der Firma gedrängten jüdischen Anteilseigner.
Klaus-Michael Kühne kündigt anlässlich des Jubiläums an, Bremen mit einem Neubau des Stammsitzes zu beglücken. Ein „Bekenntnis zum Standort“ sei das. 1969 hingegen hatten die Kühnes nicht lange gezögert, mit ihrer Zentrale in die Schweiz zu ziehen. Willy Brandts Kanzlerschaft drohte und mit ihr die Stärkung der betrieblichen Mitbestimmung. Selbstverständlich sei es auch um die günstigeren Steuersätze gegangen, erklärt Kühne freimütig – bei anderer Gelegenheit. Heute gilt Kühne als reichster Einwohner der Schweiz. Da er einen Teil der Steuerersparnisse als Mäzen ausschüttet, ernennt der Hamburger Senat Kühne 2007 zum Ehrenprofessor. Er ist auch Sponsor des HSV.
Otto Frank 1945 in der Prinsengracht, Klaus-Michael Kühne 2015 auf dem Bremer Marktplatz: Es gibt keine konkret nachweisbare Verbindung zwischen den beiden Männern an den jeweiligen Orten. Aber eine strukturelle: Beide betrifft, freilich in diametral entgegengesetzter Weise, die Totalität der sogenannten „Verwertung“ jüdischen Eigentums.
Diese strukturelle Verbindung beginnt unmittelbar nach der Verhaftung der Franks. Wie überall, wo die Wehrmacht der Gestapo den Boden bereitet hat, wie überall, wo jüdische Menschen fliehen müssen oder deportiert werden, wird deren Besitz restlos eingesammelt und der „Verwertung“ zugeführt. In Amsterdam ist dabei vor allem die Spedition Abraham Puls aktiv – derart aktiv, dass das Verb „pulsen“ für das Ausräumen jüdischer Wohnungen erfunden wird.
Abraham Puls erhöht sein Auftragsvolumen, indem er versteckte Jüdinnen und Juden an die Besatzer verrät. Nach dem Krieg wird er zum Tod verurteilt. Ganz anders ist der Umgang in Deutschland: Puls’ Geschäftspartner, die Brüder Alfred und Werner Kühne – Parteimitglieder und mehrfach mit dem „Gau-Diplom“ für ihren „nationalsozialistischen Musterbetrieb“ ausgezeichnet – bekommen das Bundesverdienstkreuz. Auch bei Kühne + Nagel soll es Prämien für Hinweise auf jüdische Wohnungen gegeben haben.
Im besetzten Amsterdam wird das Raubgut auf Binnenschiffe verladen, zum Beispiel auf die „Damco 48“. Im Landesarchiv Oldenburg befindet sich ihre Ladeliste, die alphabetisch erfasst, was zwischen dem 9. und dem 13. März 1943 an Bord geschafft wird. Es gibt Hunderte solcher Listen – diese sei hier beispielhaft zitiert:
„53 Badewannen, 61 Bänke, 27 Besen, 71 Bettgestelle, 71 Stück Bettzeug, 65 Rollen Bodenbelag, 56 Buffets, 15 Bügelbretter, 14 Eimer, 69 Gartentische, 1 Gasherd, 11 Gaskocher, 9 Gasöfen, 20 Herde, 1 Kinderwagen, 101 Kissen, 63 Klubsessel, 6 Kohlenküppen, 80 Lampen, 45 Nachtschränkchen, 6 Nähkörbchen, 12 Nähmaschinen, 3 Petroleumkocher, 148 Schränke, 16 Spiegel, 103 Spiralen, 53 Ständer, 1 Staubsauger, 600 Stühle, 46 Teemöbel, 170 Teppiche, 195 Tische, 53 Trittleitern, 1 Uhr, 4 Mahane, 10 Waschkessel, 148 Wandbilder, 1 Möbelkoffer mit Töpfen und Bratpfannen“.
Die „Damco 48“ hat eine Traglast von 614 Tonnen, sie fährt unter der Flagge von Kühne + Nagel. Auch die Ladeliste trägt den Firmenstempel.
Eine Woche vor der Beladung beginnt die Deportation der jüdischen Amsterdamer:innen vom KZ Westerbork ins Vernichtungslager Sobibor. Möglich, dass auch der Besitz der Familie Frank auf der „Damco 48“ war: Nicht die Einrichtungsgegenstände aus der Prinsengracht 263 – die werden erst im August 1944 „gepulst“. Aber die Habe der Franks aus ihrer Wohnung am Merwedeplein 37 II, die sie im Juli 1942 verließen, um unterzutauchen.
Die Gütertransporte von Amsterdam ins Deutsche Reich sind Teil der „Aktion M“. „M“ steht für Möbel. Sie beginnt am 14. Januar 1942 auf Anweisung von Reichsleiter Alfred Rosenberg. Den Verantwortlichen ist bewusst, dass es sich dabei nicht „nur“ de facto, sondern auch de jure um Raub handelte. Der deutsche Botschafter in Paris verfasst eine Aktennotiz: „Formal-juristisch ist keine Rechtsgrundlage für die Maßnahme vorhanden.“ Man müsse sich vielmehr auf deren „geschichtliche Berechtigung“ berufen. Als Rosenberg 1946 in Nürnberg zum Tod verurteilt wird, ist seine Verantwortung für das „System organisierter Plünderung öffentlichen und privaten Eigentums in allen überfallenen Ländern Europas“ eine der vier aufgeführten Gründe.
Bis 1944 kommen bei der „Aktion M“ 735 Züge zum Einsatz, die 29.463 Waggonladungen nach Deutschland bringen, sowie mindestens 580 Frachtschiffe. Doch so gewaltig die Mengen auch sind, die Behörden wollen mehr: Ein Prüfbericht bemängelt im September 1943 den Personalmangel, der die Arbeit insbesondere „im Bereich Abtransport“ behindere. Es gebe „erhebliche Rückstände“ bei der Räumung der bereits erfassten 70.000 jüdischen Wohnungen und Häuser, gerade in Paris. In Lüttich wird der Sicherheitsdienst angewiesen, die Verhaftung jüdischer Einwohner:innen „baldmöglichst“ zu beschleunigen, damit deren Möbel „frei werden“. Angesichts der Bombenschäden im „Reich“ gelten die Möbellieferungen als „siegwichtig“ für die Aufrechterhaltung der Kriegsmoral.
Für Speditionen sind das goldene Zeiten – und Kühne + Nagel ist bei der Auftragsakquise am erfolgreichsten. Die Firma gründet Niederlassungen in Rotterdam, Amsterdam, Den Haag, Antwerpen, Paris, Bordeaux, Marseille, Roubaix, Tourcoing, Lissabon, Triest, Mailand, Genua. Nach dem Überfall auf die Sowjetunion und der Besetzung des Baltikums auch in Riga, Libau, Windau – Wachstum in den Fußstapfen der Wehrmacht.
Übersetzt man die Liste der internationalen Filialen in Geschäftsfelder, ergibt sich folgendes Bild: In Genua und Triest räumt Kühne + Nagel die Wohnungen der wohlhabenden jüdischen Bevölkerung aus. Um den Auftrag, das in italienischen Häfen zurückgelassene Hab und Gut der Verfolgten „heim ins Reich“ bringen zu dürfen, bemüht sich Kühne + Nagel erfolgreich beim Reichsfinanzminister. In Frankreich und Benelux ist die Firma vor allem für den Streckentransport zuständig und erarbeitet sich dabei eine monopolähnliche Position. Das baltische Geschäftsmodell von Kühne + Nagel ist noch kaum erforscht, auf dem Balkan wiederum entwickelt Kühne + Nagel mit der Wehrmacht das Geschäftsfeld der Militärlogistik – in dem es bis heute eine führende Rolle spielt.
Als die taz angesichts des Jubiläumsmarketings bei Kühne + Nagel nachfragte, ob es während der 1930er und 1940er Jahre nicht doch etwas mehr als nur Mühsal gegeben habe, lautete die Antwort dennoch: „Diesen Zeitperioden mangelt es an Relevanz für die Firmengeschichte.“
Es stellte sich also die Frage: Wie ist es möglich, mehr Aufmerksamkeit auf die sorgfältig umschifften Geschichtslücken zu lenken? Mehr Aufmerksamkeit als allein durch Artikel und Diskussionsveranstaltungen im Rahmen der „taz Salons“ generiert werden konnte?
Die Gelegenheit war gegeben: Kühne brauchte öffentliche Flächen für den Neubau seines Stammsitzes. Was lag näher, als ebenfalls ein Kaufgebot abzugeben? Für nur vier Quadratmeter. Aber das zum doppelten Preis, den Kühne pro Quadratmeter zahlen sollte. Möglich war das durch ein Crowdfunding, an dem sich viele taz-Genoss:innen beteiligten und das 27.003 Euro einbrachte. Von nun an mussten sich die städtischen Gremien, mussten sich Bürgerschaft, Baudeputation und Haushaltsausschuss mit der Frage befassen: Was ist das für ein Kaufangebot der taz, was wollen die und warum? Am Ende konnte Kühne zwar das Grundstück kaufen – doch die Stadt beschloss ebenfalls, das Mahnmal zu bauen.
Schon zuvor hatte die taz einen Ideenwettbewerb ausgeschrieben: Wie kann die Ausplünderung der jüdischen Bevölkerung visualisiert werden, wie die Verdrängung dieses Geschäfts, die Verschleierung und Diffusion von Verantwortlichkeit?
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Bekannte Künstler:innen beteiligten sich, Schulklassen und Privatpersonen. Der Wettbewerb löste familiäre Nachforschungen aus – denn auch das Thema war gewachsen. Wir fixierten uns keineswegs auf den renitenten Firmenpatriarchen, sondern fragten: Wer hatte all die Dinge, die Kühne + Nagel aus den besetzten Ländern herankarrte, günstig erworben oder ersteigert?
Eine Fachjury unter Mitwirkung der Jüdischen Gemeinde schlug das Konzept „Leerstellen und Geschichtslücken“ von Evin Oettingshausen zur Realisierung vor. Und tatsächlich fasste die Bremische Bürgerschaft den Beschluss, den Entwurf umzusetzen.
Sieben Jahre später ist das Mahnmal gebaut, vis-à-vis der neuen Deutschlandzentrale von Kühne + Nagel. Es besteht aus einem sechs Meter tiefen Schacht, der zunächst nichts als Leere zeigt: die scheinbare Abwesenheit von Geschichte, deren Vergessen und Verdrängen. Ganz unten ist jedoch seitliches Licht zu sehen. Wer daraufhin die Perspektive wechselt, zur Uferpromenade hinuntersteigt, erkennt an den Wänden des Schachtes schemenhafte Schattenrisse: Spuren von Möbeln, von Einrichtung, von zerstörten Leben.
Dass die Formensprache des Bremer Mahnmals eine Kongruenz zu Otto Franks Entscheidung aufweist, die Prinsengracht 263 in der vorgefundenen Leere zu belassen, ist auf konkreter Ebene ein Zufall. In gewisser Weise bestätigt er jedoch die Angemessenheit der von Evin Oettingshausen gefundenen Chiffre für die Totalität von „Verwertung“ und Existenzvernichtung.
„Das,Arisierungs'-Mahnmal füllt eine Leerstelle in der deutschen Erinnerungskultur“, sagt Frank Bajohr, Leiter des Zentrums für Holocaust-Studien am Institut für Zeitgeschichte in München. Allmählich verändert sich in der Erinnerungsarbeit etwas: Nach Jahrzehnten, in denen das Gedenken vermieden, auf die Opfer fixiert und an staatliche Institutionen delegiert wurde, rückt nun die Notwendigkeit einer Täter:innen-Adressierung in den Vordergrund – die auch die private Beteiligung an der profitablen Beraubung der jüdischen Mitbürger:innen klar benennt. Dafür kann das Bremer Projekt ein Beispiel sein.
Materiellen Hinterlassenschaften kommt, angesichts des nahenden Lebensendes der letzten Zeitzeug:innen, ebenfalls eine neue Rolle zu. 78 Jahre nach dem Holocaust übernehmen Dinge die Funktion von Präsenz, von unmittelbarer und emotionaler Zugänglichkeit. Das Fehlen solcher Erinnerungsstücke in jüdischen Familien ist eine schmerzlich empfundene Leerstelle: die Abwesenheit von Erinnerungsankern, eine „Spurenlosigkeit“ der Ermordeten. Bei den Nachkommen der Profiteur:innen scheint das geraubte Eigentum dagegen nahtlos in die familiäre Erbmasse eingegangen zu sein oder wird auf Flohmärkten und im Antiquitätenhandel verkauft.
Überall in Deutschland könnte ein „Arisierungs“-Mahnmal eingeweiht werden. In Würzburg beispielsweise musste vor der Deportation ein 16-seitiger Fragebogen ausgefüllt werden, der alle erdenklichen Habseligkeiten erkundete: Schlafzimmer mit Zahl der Bettvorleger, Brücken, Gardinen, Kopfkissen usw. – Küche mit Zahl der Kochtöpfe und Bügeleisen, das Wohnzimmer einschließlich Globus, Lexikon und Papierkorb. Auch die Servietten und Frottiertücher mussten aufgelistet werden, die Schlafanzüge und Garnituren an Unterwäsche. Für alle Familienmitglieder ab sechs Jahren.
Wer zeitgenössische Zeitungen auswertet, findet Hunderte von Anzeigen, die Versteigerungen und Verkäufe in Turnhallen, Gasthöfen und Vereinslokalen bewarben. In Bremen fanden sie sogar im Weserstadion statt, dort wurden große Mengen „gebrauchter Oberbetten, Unterbetten und Kopfkissen“ angeboten. Sosehr man das Leben ihrer bisherigen Besitzer:innen entwertet hatte – vor der Aneignung auch ihres intimeren Eigentums bestand offenbar weder Scheu noch Scham.
Renitenter Firmenpatriarch
Als Hafen- und Logistikstadt hatte Bremen einen besonderen Anteil an der „Verwertung“ des beweglichen Hab und Guts – an der Spitze Kühne + Nagel mit seinen europaweiten Geschäften. Zudem profitierte Bremen als Auswanderungshafen: Viele jüdische Menschen versuchten, Europa über den Seeweg zu verlassen. Mittlerweile wird das auch vom Deutschen Schifffahrtsmuseum in Bremerhaven erforscht, denn die Umzugskisten mit dem letzten Besitz landeten, statt verladen zu werden, oft auf sogenannten „Juden-Auktionen“. Auch die städtischen Institutionen bedienten sich: In über 40 Prozent der Neuzugänge der Bremer Staatsbibliothek des Jahres 1942, insgesamt 1.600 Büchern, steht die entsprechende Abkürzung: „J. A.“.
Und wie steht es nun mit dem renitenten Firmenpatriarchen – dessen Renitenz immerhin zu der viel größeren Frage führte, wie wir gesamtgesellschaftlich mit dem „Arisierungs“-Erbe umgehen wollen?
Angesichts der fortgesetzten Recherchen räumte Kühne + Nagel irgendwann ein, für den NS-Staat „Güter jüdischer Eigentümer transportiert“ zu haben, was man auch bedauere. Allerdings sei „unklar“, ob das Unternehmen „wissentlich und willentlich“ gehandelt habe oder ob es einen „kulturpolitischen Zusammenhang“ gegeben habe. Letzteres klingt kurios – ist jedoch ein unfreiwilliger Verweis auf die Verwicklung der Firma in den Abtransport von Kulturgütern. Unter anderem brachte Kühne + Nagel wertvolle Bibliotheksbestände von Frankreich nach Frankfurt am Main. Auftraggeber: Die NSDAP, die eine „Hohe Schule“ für die Führungskader plante.
Die Akten, die über derartige Geschäfte Auskunft geben, sind in öffentlichen Archiven auffindbar. Doch mit hoher Wahrscheinlichkeit enthält auch das Firmenarchiv einschlägiges Material – obwohl Klaus-Michael Kühne den Topos, alles sei im Krieg verbrannt, noch heute wiederholt.
Was daran stimmt: Der Bremer Firmensitz wurde 1944 zerbombt. Aber bereits 1943 hatte Kühne + Nagel sein Zentralkontor nach Regensburg, dann nach Konstanz verlagert. Auch weist das Verzeichnis Deutscher Wirtschaftsarchive ein „Firmenarchiv Kühne & Nagel“ aus: mit Beständen ab 1902 und der Inhaltsangabe „Urkunden, Akten, Protokolle, Geschäftsberichte, Druckschriften, Fotos etc. Benutzung nur mit Genehmigung der Geschäftsleitung“.
Diese Genehmigung steht nach wie vor aus.
Klaus-Michael Kühne hat eine konkrete Vorstellung vom richtigen Zeitpunkt, zu dem über den Nationalsozialismus zu sprechen sei. „Ich hätte“, sagt er in einem Interview, „dafür Verständnis gehabt, wenn man sich nach dem Krieg damit befasst hätte, in den 50er-, 60er-Jahren“. Nicht aber, „nachdem so viel Zeit vergangen war“. Seit 1963 ist er persönlich haftender Gesellschafter der Firma.
Für Barbara Maass ist es, was die Bedeutung der Zeit angeht, umgekehrt. Sie lebt in Montréal und ist eine Enkelin des beim Jubiläum ausgesparten früheren Anteilseigners von Kühne + Nagel, Adolf Maass. 1944 wurde der zusammen mit seiner Frau Käthe in Auschwitz ermordet. „Ich habe viel Zeit gebraucht, bevor ich mich mit dem Schicksal meiner Großeltern auseinandersetzen konnte“, sagt sie. Nun kommt sie zur Mahnmal-Einweihung nach Bremen. Klaus-Michael Kühne wird sie dort nicht treffen.
Henning Bleyl initiierte als Kulturredakteur der taz Bremen 2015 das „Arisierungs“-Mahnmal. Seit er 2016 zur Heinrich-Böll-Stiftung wechselte, engagiert er sich zusammen mit Evin Oettingshausen ehrenamtlich für die Umsetzung des Projekts.
Einweihung Am 10. September wird das „Arisierungs“-Mahnmal in Bremen eingeweiht. Das Programm finden Sie unter taz.de/mahnmal.
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