Streitgespräch über den Osten: Was war die DDR?
Ein Unrechtsstaat oder eine heimelige Diktatur? Ein Streitgespräch zwischen der Schriftstellerin Anne Rabe und der Historikerin Katja Hoyer.
Debatten über Ostdeutschland kommen in Wellen. 2023 waren es Bücher, die den Diskurs neu entfachten. Zwei Perspektiven stehen sich dabei gegenüber: Eine, die die DDR und das Ostdeutschland der 90er Jahre vor allem als eine Geschichte von Gewalt und Unterdrückung erzählt. Und eine andere, die zeigen will, dass nicht alles schlecht war in der DDR.
Anne Rabe, 1986 in Wismar geboren, steht mit „Die Möglichkeit von Glück“ für die erste Gruppe. Ihr Roman erzählt die Geschichte einer systemtreuen Familie, in der Prügel und Demütigungen zum Alltag gehören. Er stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises und wurde von den Kritiken gefeiert.
Katja Hoyer, 1985 in Guben geboren, steht mit „Diesseits der Mauer“ für die zweite Gruppe. Hoyer ist Historikerin, sie lebt und forscht in Großbritannien. Sie hat ein Sachbuch geschrieben, eine Chronik der DDR. Darin verknüpft Hoyer Zeitzeugengespräche mit historischer Einordnung. Sie schreibt vom Aufbau der Staatssicherheit, aber auch von den beliebten Bluejeans, vom Trabbi und vom staatlich organisierten Urlaubssystem. Diese Gleichzeitigkeit hat Hoyer viel Kritik eingebracht, auch von Anne Rabe.
taz: Frau Hoyer, Frau Rabe, was war die DDR aus Ihrer Sicht?
Katja Hoyer: Die DDR war ein Land, in dem Menschen ganz unterschiedlich gelebt haben. Natürlich war sie eine Diktatur, aber das heißt nicht, dass man alles, was in ihr entstanden ist, unkritisch entwerten muss.
1986 in Wismar geboren, ist Schriftstellerin und erzählt in ihrem Roman „Die Möglichkeit von Glück“ die Geschichte einer systemtreuen Familie in der DDR, in der Prügel und Demütigungen zum Alltag gehören. Der Roman stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises und wurde von den Kritiken gefeiert.
Anne Rabe: Die DDR war ein Unrechtsstaat, eine Diktatur. Vor allem aber ist sie nicht vorbei. Sie prägt uns weiter und ist nur mangelhaft aufgearbeitet. Was fehlt, ist ein gesellschaftlicher Konsens über das, was damals passiert ist – so, wie wir ihn für den Nationalsozialismus haben. Das ist einer der Gründe, warum die AfD heute mit „Vollende die Wende“ Politik machen kann. Sie nutzt aus, dass wir nie richtig hinterfragt haben, was die DDR war und was sie mit uns gemacht hat.
taz: Ihre Bücher setzen sich sehr unterschiedlich mit der DDR-Geschichte auseinander. Wie bewerten Sie das Buch der jeweils anderen?
Hoyer: Das Buch von Anne Rabe ist eindringlich geschrieben. Bei der Universalität der Gewalt im Osten, von der sie erzählt, gehe ich allerdings nicht mit. Ja, es hat in der DDR Gewalt gegeben, viele haben sie erlebt. Aber damit die gesamte ostdeutsche Gesellschaft erklären zu wollen, geht mir zu weit.
1985 in Guben geboren, ist Historikerin und lebt und forscht in Großbritannien. In ihrem Sachbuch „Diesseits der Mauer“, einer Chronik der DDR, verknüpft sie Zeitzeugengespräche mit historischer Einordnung.
Rabe: Ich finde gut, dass mit Katja Hoyer eine weitere jüngere Perspektive zum Thema DDR aufgetaucht ist. Aber mir fehlt darin vieles, zum Beispiel der geschlossene Jugendwerkhof Torgau. Man kann die DDR-Geschichte nicht beschreiben, ohne zu erzählen, wie in Torgau Kinder und Jugendliche gequält wurden, die als schwer erziehbar galten oder nicht in das Bild der sozialistischen Gesellschaft passten. Von einer Chronik, wie Sie sie geschrieben haben, erwarte ich, dass darin auch die Abgründe Platz finden. Was mich auch irritiert, ist, wie Sie einzelne Ereignisse deuten, etwa den Mauerbau. Sie schreiben, das Ziel der Mauer sei es gewesen, Menschen zu schützen. Sie sollten damit von der Grenze abgehalten, weiteres Blutvergießen sollte verhindert werden. Das ist mir zu nah an der Rechtfertigung des Regimes.
taz: Frau Hoyer, die Kritik, Ihre Erzählung sei zu nah an dem Narrativ der SED, formuliert nicht nur Frau Rabe. Wie nehmen Sie das wahr?
Hoyer: Das steht so nicht in meinem Buch. Die Mauer wurde gebaut, um die Massenflucht in den Westen zu stoppen. Die Mauertoten, etwa die Geschichte von Peter Fechter oder die unmenschliche Verhöhnung von DDR-Flüchtling Günter Litfin, finden viel Platz im Buch. Andererseits habe ich aber auch mit Menschen gesprochen, die weit von der Mauer weg gelebt haben. Die haben mir gesagt, die Mauer habe sie nicht tangiert. Hätte ich diese Geschichten ignorieren sollen, weil sie nicht in das Narrativ von der Allgegenwärtigkeit der Mauer passen? Ich verstehe, dass man wütend ist, wenn man selbst Schlimmes in der DDR erlebt hat. Aber diese Geschichten gibt es eben auch.
Rabe: In meinem Buch kommt der Mauerbau auch nicht vor, weil ich in den Aufzeichnungen, die meinem Buch zugrunde liegen, nichts darüber gefunden habe. Ich kann also bestätigen, dass Leute in der Provinz das Gefühl hatten, die Mauer tangiere sie nicht.
Hoyer: Viel Widerspruch zu meinem Buch kam von ehemaligen Dissidenten. Sie sagen auch, dass sich die Mehrheitsgesellschaft zwischen 1953 und 1989 nicht aufgelehnt hat. Die bisherige DDR-Aufarbeitung hat dennoch aus moralischen und geschichtspolitischen Gründen immer die Bürgerrechtler in den Mittelpunkt der DDR-Geschichte gestellt. Und jetzt komme ich und stelle die Mehrheitsgesellschaft in den Mittelpunkt – weil die Bürgerrechtler eben damals nur ein kleiner Teil der Gesellschaft waren.
Rabe: Es stimmt, dass sich die Mehrheitsgesellschaft dem Regime angedient oder sich ihm sogar unterworfen hat. Das könnte man aber auch als Kritik an dieser Gesellschaft formulieren. Und dazu passt wieder die Geschichte vom Mauerbau, der viele Leute angeblich nicht tangiert hat. Das ist eine Selbstlüge.
taz: Inwiefern?
Rabe: Natürlich waren auch die Menschen, die sich mit dem System arrangiert haben, von der Politik und der Unterdrückung des Staates betroffen. Das hat sie geformt. Der Alltag in den Schulen, die Indoktrinierung oder das Vorführen etwa von kirchlichen Kindern, die vor der Klasse bloßgestellt wurden. Das sind ja Dinge, von denen viele sagen mögen, das habe sie nicht betroffen. Aber das stimmt nicht. Mein Ansatz ist es, diese Selbstlüge zu hinterfragen. Alltag und Diktatur lassen sich nicht voneinander trennen.
Hoyer: Ich trenne Diktatur und Alltag auch nicht. Im Gegenteil: Ich stelle Anekdoten der Menschen voran und zeige dann, wie sie von der Politik und den Verhältnissen geprägt waren. Als Historikerin war es mir wichtig, zu verstehen und zu erklären. Das mag in Deutschland befremdlich wirken, weil hier aus guten historischen Gründen sehr moralisch über Geschichte gesprochen wird. Aber ich bin Historikerin, ich versuche die Geschichte aus sich selbst heraus zu analysieren.
Rabe: Sie sagen, dass die Geschichte der DDR bisher immer aus der Perspektive der Bürgerrechtler und der Opfer der Diktatur erzählt wird. Ich bin mir da nicht sicher. Es ist ja einerseits so, dass die Forschung zur DDR unglaublich weit ist. Da ist viel Geld geflossen, vieles ist gut erforscht. Andererseits kommt dieses Wissen nicht in der Gesellschaft an. Viele Leute trennen weiterhin zwischen Alltag und Diktatur. Ein Klassikersatz aus meiner Kindheit, den ich heute noch oft höre, ist: Wenn man sich nichts zuschulden hat kommen lassen, hatte man auch keine Probleme. Übersetzt bedeutet das: Wer einen Konflikt mit einem System hatte, war selber schuld. Was mir total fehlt in unserer ostdeutschen Aufarbeitung sind die Geschichten von Opfergruppen, die nichts mit der Stasi zu tun hatten. Wie etwa die Opfer der Erziehungsgewalt in den Jugendwerkhöfen.
taz: Frau Rabe, Katja Hoyer kritisiert an Ihrem Roman, dass Sie von einer individuellen Geschichte der Gewalt auf die ganze Gesellschaft, ja sogar auf Ostdeutschland heute schließen. Hat sie Recht?
Rabe: So ist mein Buch nicht gemeint. Ich habe bewusst eine sehr spezielle Familie gewählt, eine systemtreue, mit Parteimitgliedern und Funktionären. Natürlich waren nicht alle Familien so, nicht in allen gab es Gewalt. Und natürlich gab es Gewalt auch in Westdeutschland. Aber dort gab es eben nach den Skandalen an der Odenwaldschule oder am Canisius-Kolleg Debatten um Erziehungsgewalt. Opfergruppen haben sich gegründet, Interessensverbände, Vereine. In Ostdeutschland gibt es das fast gar nicht, weil die Opfer das Gefühl haben, in dieser Gesellschaft keine Verbündeten zu finden, die sie unterstützen. Sie stoßen auf die alten Narrative von „Selber schuld“ oder „Das gab es bei uns nicht“.
taz: Sie sind beide Mitte der 80er Jahre geboren, haben nicht mehr viel DDR erlebt. Wie nehmen ältere Generationen Ihre Bücher wahr?
Rabe: Ich erlebe häufig, dass uns Jüngeren unterstellt wird, wir können darüber nicht sprechen. In keiner anderen historischen Frage wird die Zeitzeugenschaft so hoch gehängt.
Hoyer: Wie wichtig die Zeitzeugenschaft beim Thema DDR ist, erlebe ich auch. Bei Lesungen kochen immer wieder Emotionen auf allen Seiten hoch. Es ist eben doch noch die eigene Geschichte für Millionen von Menschen.
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taz: Sind Ihre Bücher symptomatisch für die Auseinandersetzung mit der DDR in Ihrer Generation?
Rabe: Wir stehen vor dem Problem, dass unsere Eltern- und Großelterngeneration eine gewisse Gefolgschaft fordert. Viele Diskussionen werden schnell existenziell. Da geht es nicht mehr um Inhalte, sondern darum, abzuklopfen: Bist du noch eine von uns? Konflikte werden in Ostdeutschland immer noch als etwas Gefährliches gesehen, Widerspruch geht sofort an die Substanz. Das ist auch eine Folge der Diktatur, in der man keine freien Diskussionen führen konnte, wie Westdeutschland das mit den Achtundsechzigern erlebt hat. Das trägt sich bis heute fort. Ich will das nicht mitmachen. Deswegen erzähle ich radikal aus der Perspektive der Nachgeborenen. Ich stelle die Selbstlügen der Älteren infrage.
Hoyer: Mein Ansatz war ein anderer. Ich lebe seit 2011 in Großbritannien. Ich bin in erster Linie deutsch und britisch und dann erst ostdeutsch. Ich habe das Buch als Historikerin geschrieben, nicht um die DDR in ein besseres Licht zu rücken, sondern um zu zeigen, dass sie keine Gegengeschichte zur BRD ist, sondern ein Kapitel in einer gesamtdeutschen Geschichte.
taz: Frau Hoyer, Ihr Buch ist in den deutschen Feuilletons scharf kritisiert worden. Ihres, Frau Rabe, wurde dagegen gefeiert. Im persönlichen Gespräch mit Ostdeutschen erlebe ich es häufig andersherum: Da ist das Buch von Frau Hoyer eher das, in dem sich Ostdeutsche wiederfinden. Wie erklären Sie sich die Diskrepanz?
Hoyer: Ich denke, das liegt an dem Ansatz, die DDR zu erklären. Ich kriege auch viele Zuschriften von Lesern, auch aus Westdeutschland, die schreiben, dass sie durch mein Buch zum ersten Mal einen Zugang zur DDR gefunden haben. Viele haben aufgehört, Dokumentationen über die DDR zu gucken, weil sie sich denken können, was ihnen darin erzählt wird. Man kann die DDR nicht nur über die Mauer und Stasi verstehen.
taz: Wie muss die Ostdebatte aus Ihrer Sicht laufen, damit sie konstruktiv ist? Frau Rabe hatte am Anfang des Gesprächs einen Konsens gefordert. Braucht es den, Frau Hoyer?
Hoyer: Auf Konsens zu drängen fände ich falsch. Geschichte lebt von Diskussion. Wer entscheidet denn, was dieser Konsens ist, und was passiert mit den Menschen, die ihn nicht teilen? Die trauen sich dann nicht mehr offen mitzureden. Das habe ich in meinen Zeitzeugengesprächen erlebt. Einige wollten nicht mal unter ihrem richtigen Namen sprechen. Die Art und Weise, wie seit 1990 auch von der offiziellen Aufarbeitungspolitik her gearbeitet worden ist, hat viele Menschen ausgeschlossen – eben die, die nicht nur negative Erinnerungen an die DDR haben. Dann fühlen sich diese Menschen angegriffen, ziehen sich zurück, werden wütend. Das hat dazu geführt, dass sich einige eingeigelt haben in ein „Wir gegen Die“-Gefühl. Wir brauchen keinen Konsens, sondern Debatten, in denen alle mitreden können.
Rabe: Das ist nicht der Konsens, den ich meine. Ich meine eher, dass viele Menschen noch zu wenig wissen. Nehmen wir das Thema Jugendwerkhöfe. In meinen Lesungen frage ich oft, wer weiß, was das war. Dann sagen achtzig oder neunzig Prozent, dass sie davon nie gehört haben. Das kann doch nicht sein. Das zeigt, dass die Aufarbeitung gescheitert ist. Mit Konsens meine ich, dass wir alle wissen, dass es in der DDR furchtbare, abgrundtiefe Verbrechen gab. Und wenn wir das anerkennen, dann führen wir hoffentlich Diskussionen darüber, was das aus uns gemacht hat und keine Diskussionen mehr darüber, dass Gewalt an Schulen in der DDR viel früher verboten wurde als in der BRD. Denn es ist völlig egal, ob DDR-Lehrer ihren Schülern noch Backpfeifen geben durften, wenn Kinder am Ende in solchen Anstalten wie Torgau landen konnten. Man muss die Vergangenheit schon kennen, um aus ihr lernen zu können.
Zum 35. Jubiläum des Mauerfalls veröffentlicht Kulturprojekte Berlin ein Buch zum Thema Freiheit. Dieses Interview ist in dem Band enthalten. Das Buch wird zum Mauerfall-Jubiläum kostenfrei erhältlich sein.
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