Menschen die Deutschlandfahnen schwenken vor dem Karl-Marx-Kopf in Chemnitz

Foto: Thomas Victor/Agentur Focus

Schweigen über Gewalt in der DDR:Durchwachte Nächte

In ihrem Debütroman ergründet Anne Rabe, wie die Gewalt der DDR bis heute nachwirkt. Hier berichtet sie vom Schweigen bei ihrer Lesereise.

Ein Artikel von

29.12.2023, 15:17  Uhr

Vor einigen Jahren habe ich einen Text geschrieben, der mein Debütroman werden sollte. Um das Manuskript fertigzustellen, bekam ich ein Stipendium vom Deutschen Literaturfonds. Das ist für Schrift­stel­le­r*in­nen so etwas wie der Sechser im Lotto. Ich habe den Text fertig geschrieben, aber er ist nie veröffentlicht worden. Kein Verlag wollte ihn haben. Einmal habe ich das Manuskript einer Agentin vorgelegt, doch sie lehnte ihn ab. „Wissen Sie, das ist ein guter Text“, erklärte sie mir am Telefon, „aber wenn jemand in eine Buchhandlung kommt und nach einem schönen Buch fragt, dann würde ich demjenigen nicht unbedingt dieses Buch empfehlen.“

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An das Telefonat mit der Agentin habe ich in diesem Jahr oft gedacht. Denn 2023 habe ich tatsächlich mein Prosadebüt veröffentlicht. Der Text ist besser als mein erster Versuch. Und trotzdem dachte ich, na ja, wahrscheinlich ist das auch so ein Buch, das Buch­händ­le­r*in­nen nicht unbedingt empfehlen würden, wenn man sie um ein „schönes“ Buch bittet. Mein Roman „Die Möglichkeit von Glück“ erzählt die Geschichte einer SED-Familie und vor allem erzählt er von Gewalt. Von Gewalt in Familien, Gewalt durch den Staat, durch Krieg und Armut. Der Roman setzt sich mit der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert auseinander und ist ein Versuch, zu verstehen, wie diese Geschichte bis heute nachwirkt. Es ist ganz sicher kein „schönes“ Buch, aber es stand einige Wochen auf der Spiegel-Bestsellerliste, und das hat auch etwas damit zu tun, dass Buch­händ­le­r*in­nen es ihren Kun­d*in­nen empfohlen haben. Dafür bin ich dankbar, denn ich hatte nicht damit gerechnet.

Das Jahr 2023 jedoch wartete mit einer neuen Ost-Debatte auf und plötzlich wurde wieder diskutiert. Jedoch nicht nur in den Feuilletons der großen Zeitungen. Schon bald nach Erscheinen meines Romans im März füllte sich mein Kalender mit immer neuen Stationen einer Lesereise.

Zu Beginn der Reise war ich unsicher. Das Buch ist ein sehr persönlicher, ein intimer Text. Ich wusste schon, in jedem Interview und bei jeder Veranstaltung würde man mich fragen: „Ist dieser Text autobiografisch?“ Die Frage liegt auf der Hand.

Es war Sommer, 30 Jahre Mauerfall

In dem Buch versucht die Erzählerin Stine der Geschichte ihrer Familie auf den Grund zu gehen. Diese Erzählerin und ich teilen biografische Eckdaten wie etwa das Geburtsjahr. Für die Frage nach dem biografischen Gehalt hatte ich mir deshalb eine Antwort zurechtgelegt: „Was die Erzählerin umtreibt, das hat auch mich beim Schreiben umgetrieben. Die Fragen, die sie sich stellt, habe auch ich mir oft gestellt.“

Das stimmte und ermöglichte mir trotzdem eine gewisse Distanz. Sobald ein Text in der Welt ist, braucht es die Au­to­r*in eigentlich nicht mehr. Was ich erzählen wollte, habe ich aufgeschrieben in der Hoffnung, es möge ein Vehikel sein, miteinander ins Gespräch zu kommen.

2019 hatte ich begonnen, an ersten Versuchen für den Roman zu arbeiten. Das war im Sommer, wir feierten 30 Jahre Mauerfall und im Herbst standen Landtagswahlen in Brandenburg, Thüringen und Sachsen an. Die damaligen Prognosen zeigten, dass ein Wahlsieg der AfD in allen drei Bundesländern möglich wäre.

Die Jahre davor waren im Osten von einer Welle großer Proteste gekennzeichnet. Es begann ungefähr im Jahr 2014 mit Pegida. Und mit der Geflüchtetenkrise 2015 wurden diese Proteste zunehmend gewalttätiger und richteten sich gegen demokratische Institutionen der Bundesrepublik. Pres­se­ver­tre­te­r*in­nen wurden immer häufiger auch tätlich angegriffen und Po­li­ti­ke­r*in­nen auf Demonstrationen symbolisch an Balken aufgehängt.

Porträtfoto Anne Rabe

Anne Rabe hat in diesem Jahr erlebt, wie schwer es den Menschen immer noch fällt, über die eigene Geschichte zu sprechen Foto: Andreas Pein/laif

Immer wieder kam es während dieser Demonstrationen zu Übergriffen auf Mi­gran­t*in­nen und der rechte Terror fand in Halle, Hanau und dem Mord an Walter Lübcke traurige Tiefpunkte. Mit der AfD hatte diese rechte Welle plötzlich eine parlamentarische Vertretung auf allen Ebenen.

Der Rechtsrutsch fand nicht nur in Ostdeutschland statt, aber dort hatte und hat er noch immer sein finsteres Zentrum. 2019 wurde deutlich, dass in Ostdeutschland etwas möglich sein könnte, was die Bundesrepublik lange für ausgeschlossen hielt. Mit Björn Höcke könnte zum ersten Mal nach 1945 wieder ein Faschist in ein Regierungsamt gewählt werden. Ich fragte mich damals, warum das so ist und warum es mir zugleich so vertraut vorkommt.

Deshalb begann ich über mein eigenes Aufwachsen nachzudenken. Und über die Beschaffenheit der Gesellschaft, in der sowohl ich als auch die Person einst Kind war. Eine Gesellschaft, die Angela Merkel 2015 in Heidenau mit „Du dumme Fotze, zeig dein hässliches Gesicht. Steig ruhig ein in deine hässliche Kutsche, du Hure!“ beschimpft hat. Denn die Auswertungen der Wahlergebnisse zeigten, dass sich das Wahlverhalten in Ost- und Westdeutschland sehr unterschied. Wählten in Westdeutschland hauptsächlich die sogenannten alten, weißen Männer die AfD, waren es im Osten vor allem diejenigen, die so alt waren wie ich. Menschen, die zur Zeit der Wiedervereinigung Kinder oder Jugendliche waren.

Bevor ich also begann, mein Buch zu schreiben, führte ich Interviews. Zunächst vor allem mit meinen Schul­freun­d*in­nen. Mit einigen von ihnen hatte ich viele Jahre kaum Kontakt. Wir hatten nie über unsere Kindheit gesprochen. Aber in allen Gesprächen ging es nun sehr schnell vor allem um ein Thema – Gewalt.

Gewalt in den Familien, in Schulen und auf der Straße. Im Herbst 2019 würde Christian Bangel für die Zeit, in der ich Kind war, die 90er Jahre im Osten, den Begriff „Baseballschlägerjahre“ prägen. Aber in den Gesprächen mit meinen Schul­freun­d*in­nen ging es nicht nur um die Angst vor Nazis. Die Gewalt zog sich durch alle Lebensbereiche und war in uns selbst gekrochen. Manchmal erschraken wir über das, was man uns zugemutet hatte, und das, was wir einander zugemutet hatten. Auch in den Gesprächen mit anderen Interviewpartner*innen, die ich im Laufe der Recherche kennenlernte, ging es um dieses Lebensgefühl, das wir nun, mit dem zeitlichen Abstand und der Sicherheit, in unseren Leben angekommen zu sein, allmählich formulieren konnten. Das war der Grund dafür, dass mein Roman so persönlich wurde. Ich wollte mit aller Offenheit darlegen, was mich seit vielen Jahren quälte.

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Ich bin ein wütender Mensch. Ein ängstlicher und trauriger. Oft liege ich nachts wach. Meine Gedanken kreisen um Dinge, die ich getan habe, Worte, die ich gesagt habe, und das, was ich verpasst habe zu tun, zu denken oder auszusprechen. In endlosen Schleifen versuche ich vergeblich Korrekturen vorzunehmen. Es ist der hilflose und meist verzweifelte Versuch, das Chaos in mir zu bändigen.

Als ich begonnen habe, das Buch zu schreiben, wollte ich, dass es so wird wie eine dieser durchwachten Nächte. Ich wollte dem Chaos eine Form geben, weil ich das Gefühl hatte, dass es vielen Menschen so ging wie mir. Besonders denjenigen, die zur gleichen Zeit in der gleichen Landschaft aufgewachsen waren. Hineingeboren in die Agonie der DDR, die keine Versprechungen mehr bereithielt, und groß geworden im Chaos einer allumfassenden Transformation. Umgeben von Erwachsenen, die selbst nicht mehr wussten, wo oben und unten ist und die keine Kapazitäten für die Bedürfnisse ihrer Kinder frei hatten. Die Wut der keifenden Frau aus Heidenau, vielleicht war das die gleiche Wut wie die, die mich nachts wachhielt. Der Schrecken, den sie mit ihrem Hass verbreitete, vielleicht war es der gleiche wie der, der mich so oft lähmte.

Ein Freund sagt mir: Bleib auf Distanz!

Ein Freund, ich nenne ihn Anton, hatte vor der Lesereise Sorge um mich. Er befürchtete nicht nur, dass mir Hass entgegenschlagen könnte, Ablehnung und vielleicht auch tätliche Angriffe. Er befürchtete auch, ich würde das alles zu sehr an mich ranlassen.

Aber ich freute mich. Und ich versicherte ihm, ich käme schon zurecht. Wenn man Texte veröffentlicht und besonders als Frau, ist man es gewohnt, angegriffen zu werden. Seit ich 2008 mein erstes Theaterstück „Achtzehn Einhundertneun – Lichtenhagen“ über die Nachwendejahre in Mecklenburg veröffentlich habe, kenne ich alle Varianten verschriftlichter, meist männlicher Aggression. Das reicht von Fantasien über sexualisierte Gewalt, dem Absprechen jeglicher Kompetenz bis zur Androhung tödlicher Übergriffe.

Ich versuche davon möglichst wenig wahrzunehmen. Hassmails erkenne ich nach wenigen Worten. Ich überfliege sie bloß und schiebe sie dann ins Archiv. Tweets mit hoher Reichweite stelle ich auf stumm, damit ich die Antworten anderer User nicht mehr sehe und wenn jemand auf meiner Website nach meiner Adresse sucht, findet er nur ein Postfach.

Das alles konnte Anton nicht beruhigen. Er fürchtete nicht nur die Wut der Menschen. Er ahnte auch, ich könnte zu durchlässig sein für die Geschichten meiner Le­se­r*in­nen, und sagte: „Du musst auf Distanz bleiben.“ Ich weiß nicht, ob er recht hat. Aber ich weiß jetzt, was er meint.

Als ich zu den ersten Stationen der Lesereise fuhr, hoffte ich noch etwas mehr über unser Land zu erfahren. Wo es steht im Jahr 2023. Damals ahnte ich nicht, dass wir am Ende des Jahres mit einem so ausufernden Antisemitismus konfrontiert sein würden, dass jüdische Menschen in Deutschland sich berechtigterweise fragen, ob sie hier überhaupt noch sicher sind. Aber dass es ein wichtiges Jahr werden würde, wusste ich. Ein Jahr, das erkennen lassen würde, ob das bisher Undenkbare noch verhindert werden kann.

2019 noch hatte ich geglaubt, wir wären mit dem Rechtsruck auf einem Höhepunkt angelangt. Zwar würden die blauen Braunen nicht verschwinden, aber zumindest war es ihnen nicht gelungen, in einem der ostdeutschen Bundesländer zur stärksten Kraft zu werden. Und in dem Moment, als Björn Höcke und seine Truppe in Thüringen die demokratischen Parteien vorführten und den FDP-Mann Thomas Kem­me­rich zum Ministerpräsidenten wählte, war es ausgerechnet Christian Lindner, der androhte, zurückzutreten, und damit die demokratischen Reihen schloss. Es schien, als hätte sich der bundesrepublikanische Konsens, nicht mit Rechtsextremen zusammenzuarbeiten, noch einmal fest in die parlamentarische Arbeit eingeschrieben.

Doch ich hatte mich geirrt. 2024 wird wieder gewählt in Sachsen, Brandenburg und Thüringen, und allen Prognosen zufolge ist in jedem der drei Länder ein Wahlsieg der AfD wahrscheinlich. Ein Trend, der sich im gerade abgelaufenen Jahr verstetigte.

Wenn ich nun noch einmal durch meinen Kalender sehe und die Namen der Orte lese, an denen ich aus meinem Buch gelesen habe, erinnere ich mich an Gesichter und Geschichten. Und auch an das Schweigen, das gerade am Anfang meiner Lesereise nicht selten den Raum füllte.

„Die Gewalt lässt uns verstummen, weil sie hilflos macht. Die Gewalt ist ein brachialer Verlust von Distanz, den wir nicht kommen sehen. Sie teilt das eigene Erleben in ein Davor und ein Danach. Sie verändert uns. Sie macht uns wütend, ängstlich und traurig“

Oft hätte ich allein anhand des Schweigens schon nach wenigen Momenten sagen können, ob ich in Ost- oder Westdeutschland bin. In Westdeutschland wird der Schweigeraum mit Geplapper gefüllt. Wenn in Ostdeutschland geschwiegen wird, ist es wirklich still. Aber es war kein feindseliges Schweigen. Geschwiegen wurde aus Hilflosigkeit oder Gewohnheit.

Es war beruhigend zu merken, dass Leute, die Kommentarspalten im Internet füllen, eher selten Lesungen besuchen. Die Menschen, die zu meinen Lesungen kommen, sind nicht feindselig. Und auch wenn gerade am Anfang oft das Schweigen dominierte, sind es Menschen, die sich auseinandersetzen wollen und die bereit sind, einander zuzuhören.

Dennoch ist es nicht leicht zu sprechen. Ich habe über Gewalt geschrieben. Über die lange Tradition staatlicher und familiärer Gewalt, die Hand in Hand miteinander durch die Zeiten gewandelt sind, und davon, dass ebendiese Gewalt auch ihren Weg auf die Straßen findet, wo sie versucht, die Macht der Stärkeren über Schwächere zu behaupten.

Diese Gewalt zeigt sich in einem Wunsch nach autoritärer Führung und einem starken Staat, in dem der Willen einer behaupteten Mehrheit endlich gegen die angeblich dominante Minderheit durchgesetzt werden würde. Und auch wenn das Schweigen in Ost und West oft ein anderes Geräusch macht, ist es dennoch das gleiche.

Es gibt gute Gründe dafür, dass das Sprechen über Gewalt schwerfällt. Die Gewalt lässt uns verstummen, weil sie hilflos macht. Die Gewalt ist ein brachialer Verlust von Distanz, den wir nicht kommen sehen, sonst hätten wir uns ja rüsten und wehren können. Die Gewalt teilt das eigene Erleben in ein Davor und ein Danach. Sie verändert uns. Sie macht uns wütend, ängstlich und traurig.

Nebel über der Vergangenheit

Menschen in Westdeutschland fällt es oft leichter zu sprechen und vor anderen ihre Erinnerungen, Meinungen und Gefühle zu offenbaren. Außerdem spielt die Geschichte meines Romans in Ostdeutschland. In Westdeutschland Aufgewachsenen fällt es auch deswegen leichter zu sprechen, denn sie fühlen sich von der Erzählung meines Buchs nicht unmittelbar gemeint. Es ist ganz klar, die Familiengeschichte, die ich erzähle, könnte niemals ihre eigene sein.

„Ich kenne dieses Schweigen“, sagte eine Frau nach einer Lesung im südlichsten Westen der Republik. Wir standen vor der Buchhandlung und ich gab ihr eine Zigarette. Sie erklärte mir, dass sie eigentlich nicht raucht. Ich zündete nach meiner ersten Zigarette gleich die nächste an.

Das Schweigen, das sie meint, ist das Schweigen über die Vergangenheit. Die Familiengeschichte in meinem Buch beginnt im Kaiserreich. 1923 wird dann der Großvater der Erzählerin geboren. In mühsamer Archivarbeit rekonstruiert sie seine Geschichte vom Aufwachsen im Lumpenproletariat der Weimarer Republik, dem Dienst in der Wehrmacht, den er nur durch eine schwere Verwundung überlebte, denn diese rettete ihn aus dem Kessel von Stalingrad.

Ein Leben, das in der DDR schließlich seine Erfüllung in einer beachtlichen akademischen Karriere fand. Der Großvater hat Schuld auf sich geladen. Eine Schuld, der man in autoritären Systemen schwer ausweichen kann. Doch darüber wurde in der Familie der Erzählerin nicht gesprochen. Das Schweigen, das in der DDR staatlich verordnet war, setzt sich nach der Wiedervereinigung fort.

Die Frau, mit der ich meine Zigaretten teilte, sprach auch von dieser Schuld und davon, dass ihre Erziehung von Gewalt geprägt war. Es waren die Nachkriegsjahre, in denen auch in Westdeutschland geschwiegen wurde.

Nicht selten passiert es, dass in den Gesprächen nach Lesungen die Erinnerung an das Schweigen in den Familien als Gemeinsamkeit zwischen Ost- und Westdeutschland erkannt wird. Und auch wenn es bei den Lesungen in Westdeutschland immer mal wieder dazu kommt, dass lange gepflegte Vorurteile über „den Osten“ in aller Breite vorgetragen werden, gelingt es mir immer besser, diese Entlastungsversuche zu durchbrechen und auf die Schweigetradition zu sprechen zu kommen. Auch in Westdeutschland wissen viele Menschen erstaunlich wenig über die Beteiligung ihrer Vorfahren am Krieg und Terror der Nationalsozialisten.

Eine Mehrheit glaubt auch hier, dass ihre Eltern, Großeltern oder Urgroßeltern zwischen 1933 und 1945 entweder Opfer oder Gegner des Naziregimes waren. Vielleicht noch Mitläufer, aber dann ganz sicher solche, die niemandem geschadet haben.

„Ich weiß nicht einmal, wo mein Vater in Gefangenschaft war“, sagte die Frau und ergänzte, dass sie schon oft darüber nachgedacht hätte, die Sache mal zu recherchieren. Ich versuchte ihr Mut zu machen. Es wäre gar nicht so schwer. Man bräuchte nur Geduld.

Es ist ein seltsames Paradox, das ich noch nicht durchdrungen habe. Nichts prägt die deutsche Identität so sehr wie die immer detailliertere, immer differenzierte und auch kritisch hinterfragte Erinnerungskultur. Kaum eine politische Debatte kommt ohne den Bezug zur Vergangenheit aus.

Das betrifft nicht nur die Debatten um unser Verhältnis zu Israel. Auch in der Frage um Waffenlieferungen in die Ukraine oder den Umgang mit Geflüchteten ist die deutsche Geschichte stets präsent. Aber die Verstrickungen der eigenen Vorfahren bleiben davon oft unberührt, wie in einem märchenhaften Nebel, der über ein Land vor unserer Zeit schwebt.

Der Unterschied zwischen Ost- und Westdeutschland ist lediglich, dass das Schweigen im Osten mehr Schichten hat.

Der Mut derjenigen, die sprechen

„Es war ein merkwürdiger Abend“, schrieb ein User im April auf Twitter über meine erste Lesung in Ostdeutschland, die in Jena stattfand. Ich fragte nach, was ihn so verwundert habe, und er erklärte, dass eben kein Gespräch mit dem Publikum zustande gekommen sei. Ich erinnerte mich gut an Jena und es stimmte, ein Gespräch gab es nicht. Keine Fragen aus dem Publikum, kaum Anmerkungen.

Gerade anfangs musste ich bei meinen Lesungen im Osten lernen, diese Stille auszuhalten. Zu warten und immer wieder zum Gespräch aufzufordern. Oft hatte ich das Gefühl, dass die Menschen zwar sprechen wollten, aber besonders in kleinen Orten oft Angst haben, nicht die richtigen Worte zu finden oder sich vor ihren Nachbarinnen und Nachbarn zu offenbaren. Ich war im Gegensatz zu ihnen ja auch in der einfacheren Position. Ich würde am Abend wieder nach Berlin fahren. Sie würden einander schon morgen wieder begegnen.

Der Mut derjenigen, die dann jedoch begannen zu sprechen, hat mich tief beeindruckt. Ich werde nicht vergessen, wie Frauen von den letzten Kriegstagen in den Städten entlang der Havel erzählten. Wie sie vorsichtig nach Worten suchten. Mit Halbsätzen begannen und dann doch von ihrem eigenen und dem Leid ihrer Mütter erzählten, an deren Körpern nicht selten die Rache der sowjetischen Soldaten vollzogen wurde.

Sie sprachen auch über die grausamen Konsequenzen, die der Befehl „Sieg oder Untergang“ in den letzten Kriegstagen vor allem für ihre Brüder hatte. Ich weiß noch, wie mir plötzlich auffiel, dass die Älteren bei einer der Lesungen vor allem Frauen waren, und als ich mit meinem Auto die Stadt verließ, sah ich plötzlich ganz deutlich die Spuren des Krieges. Entlang der Hauptstraße nur Neubaublöcke und zwischen diesen Plattenbauten einzelne Backsteinhäuser, wie die letzten echten Zähne in einem reparierten Gebiss.

Nicht vergessen werde ich den Mann, der immer wieder sagte, wie normal doch die ganze Gewalt sei, die in dem Buch geschildert wird. Er sagte das nicht, um die Gewalt abzutun, auch das begriff ich erst später, sondern um den anderen im Raum mitzuteilen, dass es ihm auch so ergangen war und dass er es auch nicht vergessen kann.

Tröstende, ängstigende Ostsee

Mit meinem Freund Anton spreche ich oft über die Lesungen. Besonders dann, wenn mir Leserinnen erzählen, dass ihnen die Gewalt, die meine Erzählerin Stine in ihrer Familie erlebt hat, vertraut ist. So vertraut, dass sie das Gefühl haben, ich hätte ihr eigenes Leben aufgeschrieben.

Ich bin dann meist kurz angebunden. Versuche das Gespräch schnell zu beenden, weil es mich überfordert. Es berührt mich und ich würde sie gern trösten. Sie vertrauen mir ihren Schmerz an, aber ich kann ihn nicht lindern.

„Pass auf dich auf“, sagt Anton, „das ist nicht deine Aufgabe.“ Aber was bedeutet es dann, wenn ich doch betone, dass wir einander zuhören müssen. Dass wir über die Gewalt sprechen müssen, um zu verhindern, dass sie immer wiederkehrt? In den Familien, in den Schulen und auf den Straßen. Dass die Gewalt von uns Besitz ergreift und dass sie Politik macht.

Manchmal denke ich daran, wie ich als Jugendliche in meinem Versteck am Strand saß. Kaum sichtbar für die Spaziergänger hinter einer ausgerissenen Baumwurzel. Ich tat nichts, als den Ostseewellen zu lauschen und mir vorzustellen, dass dieses Geräusch schon immer da war und lange nach mir bleiben würde. Tröstend und ängstigend zugleich. Die Geschichten von der endlosen Gewalt sind wie dieses Geräusch. Und würde ich ins Meer gehen, würde ich eintauchen in all die Geschichten, würde es mich fortspülen.

Eine Frau in blauem Oberteil von hinten, daneben eine Deutschlandfahne

Kundgebung der AfD in Königs Wusterhausen vor der Brandenburger Landtagswahl 2019 Foto: Dagmar Schwelle/laif

Während ich durch das Land fahre, füllt sich das Notizbuch auf meinem Smartphone mit Meldungen über rechtsextreme Vorfälle. Ich speichere die Artikel. Der erste Landrat mit AfD-Parteibuch, Schü­le­r*in­nen in Brandenburg, die sich mit Hitlergruß begegnen, Lehrer*innen, die dagegen vorgehen wollen und deshalb mit SA-Methoden in ihrem Wohnort verfolgt werden. Eine Regenbogenflagge, die auf dem Bahnhof in Neubrandenburg gestohlen und durch einen Hakenkreuzflagge ersetzt wurde. Ein Twitter-Thread über eine Schuldirektorin in Sachsen, die mit der identitären Bewegung verbandelt ist und einen bekannten Rechtsextremen in ihrer Schule AGs leiten lässt.

Auf montäglichen „Friedendemos“ in Görlitz erklingt in diesem Jahr wieder regelmäßig der Ruf „Deutschland den Deutschen – Ausländer raus!“ Und in Sebnitz in Sachsen gibt es eine Demo mit 400 Teilnehmenden, nachdem ein Nazischlägertrupp in eine Geflüchtetenunterkunft eingedrungen ist. Die De­mons­tran­t*in­nen bekunden lautstark ihre Solidarität mit den Tätern.

Große Einigkeit beim Asylrecht

Doch wir haben in diesem Jahr auch erlebt, dass Angriffe auf die Demokratie und ihre Institutionen ebenso aus den Reihen der demokratischen Parteien kamen. Der stellvertretende Ministerpräsident von Bayern ist mit einer halbgaren Entschuldigung für ein antisemitisches Flugblatt davongekommen, um gleich danach zu behaupten, es hätte sich bloß um eine Pressekampagne gegen ihn gehandelt. Dabei schlug er Töne an, die an Trump oder die Rufe der „Lügenpresse“ erinnerten. Sein Koalitionspartner und Ministerpräsident Markus Söder nutzt Social Media inzwischen wie ein rechter Troll.

Ohne zu zögern, stimmte er auf Twitter in den Chor der rechten Kulturkämpfer ein, die im fehlenden Weihnachtsbaum in einer Hamburger Kita das Unterdrücken christlicher Kultur erkannten. Auch als sich der Vorfall als Falschmeldung herausstellte und er darauf hingewiesen wurde, dass die Mitarbeiterinnen, Kinder und Eltern der Kita von einem rechten Shitstorm betroffen seien, zuckte er nur mit den Schultern. Hätte schließlich auch stimmen können und dann wäre es schlimm.

Ein Teil der Ampelkoalition freute sich über das Scheitern des eigenen Haushaltsentwurfs und stimmte genüsslich in den Hohn über das eigene Kabinett mit ein. Der Bundeskanzler wiederum verhöhnte die Institution des parlamentarischen Untersuchungsausschusses, in dem er, der sonst so stolz darauf ist, was er sich alles merken kann, behauptete, sich ausgerechnet an Treffen mit den wichtigsten Bänkern der Stadt Hamburg nicht zu erinnern. Er hält es wohl weder für nötig, die Kontrollfunktion des Parlaments zu achten, noch den Verdacht auszuräumen, einer Bank im Fall einer kapitalen Steuerhinterziehung mit Nachsicht begegnet zu sein.

Und die größte Einigkeit herrscht inzwischen in Fragen der Asylrechtsverschärfung. Das erinnert an die 90er Jahre, als man auf den Rechtsruck in der Gesellschaft ebenfalls mit einer Gesetzesänderung für Asylsuchende reagierte. Heute suggerieren Politiker*innen, dies hätte damals die Gesellschaft befriedet. Aber das ist falsch, und da man dies mit wenigen Klicks im Internet herausfinden kann, muss man davon ausgehen, dass diese Behauptung eine bewusste Lüge ist.

Die Asylrechtsverschärfung der 90er hat den Startschuss für die brutalste Welle rechter Gewalt gesetzt, denn die Politik hat mit ihr den Tätern das Gefühl gegeben, sie hätten recht. Tatsächlich war vor allem in Ostdeutschland Protest immer dann politisch wirksam, wenn er rechtsextrem war.

Gemeinsam nachts wach bleiben

Und dennoch. Das Jahr 2023 hat mir auch Hoffnung gemacht. Dass überhaupt eine Regenbogenflagge auf einem Mecklenburger Bahnhof gehisst wurde. Dass es in Bautzen und Weißenfels zum ersten Mal CSD-Paraden gab. Dass es nun Leh­re­r*in­nen gibt, die nicht mehr wegsehen, wenn ihre Schü­le­r*in­nen offen rechtsextrem agieren. All das macht mir Hoffnung.

Regelmäßig fahre ich seit dem Sommer am Wochenende nach Sachsen, um dort gemeinsam mit Menschen an der B96 für einen offene und demokratische Gesellschaft zu demonstrieren.

Dass Rechtsextremismus in den ländlichen Regionen Sachsens die bestimmende Kultur ist, ist dort offen sichtbar. Sprüche an Firmenwagen, Reichskriegsfahnen an Autofenstern und die demonstrative Beflaggung des Vorgartens verdeutlichen: Hier schämt sich niemand mehr, ein Nazi zu sein, und muss sich weder vor beruflichen Konsequenzen noch vor gesellschaftlicher Ächtung sorgen.

Im Gegenteil, wer sich offen für eine demokratische Gesellschaft einsetzt, so die Erzählungen der anderen Teilnehmenden, muss mit nächtlichen Droh­anrufen, Gängelungen am Arbeitsplatz und Post von örtlichen Neonazigruppen rechnen. Die Angst vor einer rechten Machtübernahme ist in Ostdeutschland sehr konkret. Und die Leichtfertigkeit, mit der auch demokratische Politiker zum rechtspopulistischen Repertoire greifen, ihre Kabinettskollegen lächerlich machen oder parlamentarische Kontrollgremien ins Leere laufen lassen, macht gerade den Menschen, die sich unter diesen schwierigen Bedingungen für eine freie Gesellschaft einsetzen, Angst.

Aber ich weigere mich, die Zwangsläufigkeit dieser Entwicklung zu akzeptieren. Ich habe in diesem Jahr ein wütendes, ängstliches und oft trauriges Land erlebt. Ein Land, dem es noch immer schwerfällt, über die eigene Geschichte zu sprechen. Darüber, was sie mit uns gemacht hat. Aber ich stelle mir vor, dass wir alle gemeinsam nachts wach liegen und statt zu schlafen überlegen, wie wir es besser können.

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