Ostdeutsche und die deutsche Einheit: Ostalgie ist gefährlich
In wenigen Tagen wird die deutsche Einheit gefeiert. Manche Ostdeutsche fühlen sich als Bürger:in zweiter Klasse. Kann Gefühl ein Maßstab sein?
D er Osten gilt mittlerweile als Labor: Auch 35 Jahre nach dem Mauerfall bleibt der Osten stoisch anders, er wählt grauenhaft und gefährdet so die Demokratie, wie die Ergebnisse der Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen, Brandenburg zeigen. Was ist nur los mit den Menschen zwischen Ostsee und Thüringer Wald?
Eine Frage, die selbst klügste Politikbeobachter:innen nur mühsam beantworten können. Da wundert es nicht, dass der Ostbeauftragte Carsten Schneider im aktuellen Bericht zur deutschen Einheit eine tiefgründigere Analyse meidet und Gastautor:innen schreiben lässt.
Was soll er schon sagen, wenn seine Landsleute mit ihrem Zuspruch für die AfD ihrem Unmut Luft machen darüber, dass Ostdeutsche bei den Eliten unterrepräsentiert sind, und dass sich die Einkommensverhältnisse in Ost und West nach wie vor unterscheiden. Etwa die Hälfte der Ostdeutschen fühlt sich als Bürger:in zweiter Klasse.
Fragt man sie nach der Demokratie, antworten nicht wenige mit einer Gegenfrage: „Welche Demokratie?“ Rechtfertigt allein das Gefühl des Abgehängtseins eine ostalgische Retrospektive, wie sie unterdessen sogar nach 1989 Geborene an den Tag legen?
Der Realitätscheck zeigt: Den meisten Menschen im Osten geht es heute materiell besser als in der DDR, selbst die Ärmeren müssen nachts nicht mehr aufs Außenklo, jede und jeder kann seine Meinung herausschreien. Haben die ostdeutschen Realitätsverweiger:innen vergessen, dass sie ihren Nachbarn und Arbeitskolleg:innen einst nicht selten misstrauten, weil überall die Stasi-Spitzel saßen? Dass sie abends in der Kaufhalle keine Milch mehr bekamen und auf ihren fucking Trabant 10 Jahre warten mussten? Dass sie Russisch hassten und nach vielen Jahren Schulunterricht nicht einmal до свидания übersetzen können?
Trotzdem hilft es nicht, den Osten abzuwerten, gar abzuschreiben. Das gefährdet die Demokratie mehr, als sich ständig mit ihm hart auseinanderzusetzen, meinetwegen auch als Labor.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Höfliche Anrede
Siez mich nicht so an
Bundestag reagiert spät auf Hamas-Terror
Durchbruch bei Verhandlungen zu Antisemitismusresolution
Grundsatzpapier des Finanzministers
Lindner setzt die Säge an die Ampel und an die Klimapolitik
US-Präsidentschaftswahl
50 Gründe, die USA zu lieben
Klimaziele der EU in weiter Ferne
Neue Klimaklage gegen Bundesregierung
Kritik an Antisemitismus-Resolution
So kann man Antisemitismus nicht bekämpfen