Psychologe über das Vertraute: „Heimat wird gar nicht geschätzt“
Der Begriff „Heimat“ wirkt in der Krise wie ein Kuschelbär fürs Kind. Diesen stabilisierenden Effekt nutzen Politik und Werbung gleichermaßen.
taz: Herr Maul, bezeichnet Heimat einen Ort oder eine Zeit?
Torsten Maul: Sowohl als auch – und noch viel mehr: Heimat ist ein Gefühl, es sind Geräusche und Gerüche, es ist das Vertraute. Andererseits, wie es der Autor Bernhard Schlink formuliert, ist Heimat eine Illusion. Denn die Heimat, wie wir sie kennengelernt haben, gibt es nicht mehr. Die Eltern sind alt geworden, Freunde weggezogen, die Landschaft hat sich vielleicht verändert. Auch ich wurde älter, meine körperliche Heimat hat sich verändert. Heimatgefühl ist ein komplexes Phänomen, das eine seelische und eine gesellschaftliche Funktion erfüllt. Es ist ja kein Zufall, dass Politik und Werbung so erfolgreich mit Begriffen wie „Heimat“ und „Region“ arbeiten.
Wie entsteht Heimatgefühl überhaupt?
Maul: Die Urheimat ist der Körper der Mutter. Mit der Geburt geht dieses Paradies verloren: Wir müssen selbst essen, ausscheiden, atmen. Dann entdecken wir die Umwelt, lernen Gerüche, Geschmack, Rituale der Familie kennen. Je nach Herkunftsfamilie fühlen sich Menschen später mehr oder weniger beheimatet, zugehörig. Die seelische Funktion des Heimatgefühls ist vergleichbar mit den Kuscheltieren der Kinder. Wenn die Mutter nicht da ist, schützt stellvertretend das Kuscheltier. Ähnlich ist es mit der Heimat. Sie ist eine seelische Konstruktion, ein Ort, dem ich identitätsmäßig verbunden bin. Andererseits ist Heimat außen: ein Landstrich, eine Gruppe, eine Nation. Der Heimatbegriff symbolisiert die Ambivalenz, sich einerseits zugehörig fühlen zu wollen und sich andererseits loszureißen.
Jg. 1961, Psychotherapeut und Maler, gründete 2015 den Psychoanalytischen Salon Hamburg.
taz: Warum verfängt der Heimat-Begriff auch bei Menschen ohne „schöne“ Kindheit?
Maul: Weil sie ein idealisiertes Bild von Heimat und Geborgenheit entwickeln, als Gegengewicht zu den Überforderungen des Alltags. So wie das Kind in der Krise sein Kuscheltier holt, greifen Erwachsene nach einem Heimat-Ideal. Die gefährlichste Vorstellung ist, dass es nur eine „gute“ Heimat gibt, die mit einer definierten Gruppe gleichgesetzt wird und von allem Fremden befreit werden muss, wie es etwa rechtspopulistische Parteien suggerieren.
taz: Dabei könnte man ja auch die Heimat pflegen, statt sich in Illusionen zu verlieren.
Maul: Allerdings. Aber die Heimat wird gar nicht so geschätzt oder liebevoll behandelt, wie es die „Heimatliebe“ vermuten ließe. Wenn man sich öffentliche Toiletten, Bushaltestellen, die Landschaft, das Miteinander ansieht, zeigen sich ganz andere Impulse: die Lust an Verschmutzung, Zerstörung, Rücksichtslosigkeit, Ausgrenzung.
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