Andreas Maiers Roman „Die Heimat“: Ein Land vor der Sesamstraße

Der Schriftsteller Andreas Maier springt und hascht nach der verlorenen Zeit. Sein Roman „Die Heimat“ beschreibt, was sich hier alles verändern musste.

Ein Mädchen mit dem Zeigestock vor einer Landkarte, daneben eine Lehrerin in Nonnentracht

So waren die 70er Jahre. Das Kreuz und das römische Imperium gehörten dazu Foto: Klaus Rose/F1online

Schwester Adelheid, so heißt die Nonne. Sie leitet den Religionsunterricht auf diesem Gymnasium in Hessen. In das weltliche Treiben der Schulklasse bricht Schwester Adelheid mit dem Maß ihrer Inbrunst ein wie ein Alien. Andreas Maier beschreibt das so: „Alles, was sie mit viel zu hoher Stimme und stets deklamierend in ihrer einen Stunde pro Woche darbot, war monströs. Es ging in einem fort um Leiber, Sterben, Tote, um Zeugnisse inbrünstigen Glaubens, um Verklärung und Erlösung.“

Erlösung in Westdeutschland. Wir sind in den 70er Jahren in der alten und, was Inbrunst betrifft, eigentlich stark abgerüsteten Bundesrepublik. Selbstverständlich war dieses religiöse Pathos längst aus der Zeit gefallen. Aber es war eben auch noch authentisch vorhanden in der Lebenswelt der angehenden Abiturienten. Und es hatte Stacheln.

Andreas Maier: „Die Heimat“. Suhrkamp, Berlin 2023, 245 Seiten, 22 Euro

Wie viel Aggressivität Schwester Adelheid antreibt, erzählt Andreas Maier so lakonisch wie gekonnt. Was macht ihr, wenn ihr zum Äußersten gebracht werdet und die Kraft schwinden spürt, euren Glauben zu bewahren vor den Feinden?, lässt er sie ihre Schülerinnen und Schüler fragen. Und sich selbst die Antwort geben: „Kinder, dann müsst ihr euch selbst töten!“

Springen nach der verlorenen Zeit

Andreas Maier umreißt in diesem Roman auf 245 Seiten vier Jahrzehnte Mentalitätsgeschichte – nein, das klingt zu sperrig. Lieber: Er geht erzählerisch seitlich an vier Jahrzehnten Mentalitätsgeschichte vorüber. Und dabei entwirft er keine geruhsam sich entwickelnde Suche nach der verlorenen Zeit. Es ist eher ein Springen und ein Haschen nach ihr.

Der 1967 geborene Schriftsteller muss das Gewesene nämlich gar nicht groß als historischen Roman re­kons­tru­ie­ren. Er kann etwas Besseres. Er kann die Fremdheit des Vergangenen aufblitzen lassen und so einen Eindruck davon vermitteln, wie weit entfernt von der Gegenwart es inzwischen ist. Und zugleich, wie sehr es immer noch da ist, wenn man nur ernsthaft ein bisschen gräbt.

Gegen Ende des Romans reflektiert der Ich-Erzähler mit einer Mischung aus Staunen und Klarheit, die man nur bewundern kann, seine Herkunft. Seine „eigene Vergangenheit“ bezeichnet er als den „entferntesten Ort“ seines Lebens: „Ein Land vor der Sesamstraße […] Ein Land erst fünfundzwanzig Jahre nach Adolf Hitler.“ Und in diesem Land sind heutige Erwachsene, die mitten im Leben stehen, zum Beispiel noch mit solcher Schwarzen Pädagogik wie der von Schwester Adelheid aufgewachsen.

Der Einblick in den Religionsunterricht ist dabei keine bloße Anekdote, sondern zielt ins Grundsätzliche. „Die Heimat“ lautet der Titel dieses Romans, der Andreas Maiers 2010 begonnenes Erzählprojekt „Ortsumgehung“ als inzwischen neunter Teil fortführt, den man aber auch gut für sich lesen kann. Der Titel ist mit vollem Ernst in all seiner Schwere aufs Cover gesetzt.

Heimatbegriff und Heimatdiskurs

„Man muss sich unsere damalige Heimat wie ein verängstigtes, aggressives Tier vorstellen. Die Furcht vor dem Fremden war allerorten“, schreibt Andreas Maier. Zugleich konstatiert er eine markante Lücke zwischen dem affirmativ noch mit Blut und Boden gründelnden Heimatbegriff etwa der Vertriebenenverbände und den kritischen Heimatdiskursen der, wie er es nennt, „linksutopischen Sozialatmosphäre“, für die Heimat ein „Unwort“ war.

In dieser Lücke ist Andreas Maier aufgewachsen. Er will sie in diesem Roman nicht erzählerisch füllen, schon gar nicht heilen – jenseits des Umstands, dass sein Erzähler die Wetterau irgendwann als seine Heimat bezeichnet –, sondern erzählerisch ausmessen.

Damit rührt der Roman, stets beim Konkreten und Individuellen bleibend, an grundlegende Erschütterungen und Versäumnisse der Bundesrepublik. In einer markanten Szene sitzt der Vater des Erzählers im Wohnzimmer und zeichnet etwas mit dem Videorekorder auf – ein technisches Gerät, das sich gerade erst im Alltag durchgesetzt hat. Andere Väter taten das Gleiche.

Andreas Maier: „In den folgenden Tagen herrschte Unruhe auch unter meinen Mitschülern. Offenbar waren in jeder Familie seltsame und ungewöhnliche Dinge vorgefallen, was das Fernsehzimmer betraf.“

„Holocaust“-Serie im deutschen TV

In den Schulhofgesprächen der Schüler sickerte dann allmählich durch, was die Väter da aufnahmen: „Die führen da Leute in so einen Raum, und dann lassen die Gas rein, und die sterben alle! Die im Raum wussten das aber vorher nicht, die haben gedacht, sie gehen bloß duschen!“ Die Fernsehserie „Holocaust“ war im deutschen Fernsehen gezeigt worden.

Bei solchen mit knappen erzählerischen Strichen hingeworfenen Szenen hält man beim Lesen immer wieder die Luft an. Andreas Maier verpackt hier nicht einfach nur Bekanntes literarisch. Das Literarische an diesen Szenen leistet vielmehr Augenöffnendes.

Der Punkt ist, dass Andreas Maier nicht nur vermitteln kann, wie weit entfernt die gerade einmal eine Generation zurückliegende Erfahrungswelt inzwischen geworden ist, sondern auch, wie eingebunden und verstrickt die Personen in sie waren und teilweise bis heute sind.

Er beschreibt nicht nur, wie fremd einem die eigene Vergangenheit inzwischen geworden sein kann, sondern gleichzeitig auch von innen heraus die Verrenkungen der Menschen, sich aus ihr herauszuarbeiten. Die Fremden sind nicht die Anderen. Die Fremden sind „wir“. Das mag abstrakt klingen. Bei Andreas Maier wird das ­konkret.

Autofiktionales Schreiben

Die Romanreihe „Ortsumgehung“ begann der Schriftsteller – seine Herkunft im Ort Friedberg in der Wetterau, nördlich von Frankfurt, mit immer wieder neuen Aspekten umkreisend –, als das autofiktionale Schreiben noch nicht im Zentrum des literarischen Diskurses stand. Inzwischen hat sich die Autofiktion durchgesetzt, und zwar schließlich von den sogenannten Rändern her, weil mit Autofiktionen Aufstiegsschicksale aus Arbeitermilieus (Annie Ernaux) und zuletzt etwa auch queere Erfahrungswelten (Kim de l’Horizon) fassbar wurden.

Andreas Maier aber schreibt in seiner „Ortsumgehung“ Autofiktion vom Zentrum aus – Mittelklasse, Mitte Deutschlands, seine Familie hat Teil sowohl an den Aufstiegs- wie Sicherheitsversprechen der Bundesrepublik. Und dabei lässt Andreas Maier immer wieder aufblitzen, wie brüchig und auf Verschwiegenem aufsitzend diese Mitte der Gesellschaft war.

„Wir sind die Kinder von Schweigekindern“, lautet eine in dieser „Ortsumgehung“ einschlägige Formel. In den vorangegangenen Teilen hat Andreas Maier gezeigt, wie Konflikte innerhalb der Familie immer wieder nicht angesprochen, sondern unter vermeintlicher Normalität zugedeckt werden. In diesem Teil „Die Heimat“ kann man sehen, dass sich das mit der Gesamtgesellschaft trifft.

Allmählich ändert sich schließlich aber in der Gesellschaft der Umgang mit der Nazivergangenheit, auch das beschreibt Maier. Statt sie weiter zu verschweigen, wird sie allpräsent in den Medien, an jedem Zeitungskiosk ist das Gesicht Adolf Hitlers zu sehen, außerdem, so Maier, „schrie Hitler aus allen Fernsehröhren“. Sich an vorgeschobener Normalität festhalten, das geht nun immerhin nicht mehr so einfach.

Die 80er Jahre

Maier: „Die achtziger Jahre müssen für meinen Vater ein Jahrzehnt zunehmender Verwirrung gewesen sein. Verlust der klaren Linien an fast allen Fronten.“ Doch das Schicksal der realen Jüdinnen und Juden bleibt ausgespart. Es ist weiterhin so, als hätte es sie nie in Friedberg gegeben.

Und dann kommt die Wiedervereinigung. Der Ich-Erzähler läuft in den frühen Neunzigern durch die vernachlässigte Innenstadt Meißens, sie ist „in ihrer Substanz völlig erhalten und absolut vergammelt“. Irgendwann begreift er, dass die Generation seiner Großeltern tatsächlich in einem Staat aufgewachsen ist und nicht wie er selbst in einem geteilten Land.

Um so ein Begreifen geht es insgesamt in diesem Roman. „Du setzt deiner Heimat ein schwarzes Denkmal“, hat Andreas Maier selbst gleich am Anfang des Romans formuliert. Und dieses Schwarze, Drückende der Heimat wird bleiben, bis zum Schluss.

Und zugleich geht es um die Art und Weise, wie Andreas Maier das Erinnern in Szenen und das Erzählen davon nutzt, um sich das vermeintlich Eigene anzueignen, inklusive des Fremden und Fremdbleibenden daran. Wer wissen möchte, in was für einem Land wir leben, und wie man darüber Literatur schreiben kann, der lese dieses Buch.

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