piwik no script img

Ermittlungsverfahren gegen Telegram-ChefHärteres Vorgehen

Die Telegram-Devise lautet: keine Moderation, keine Regeln. Nun wird gegen den Chef ermittelt. Wird es auch für andere Plattformbetreiber ungemütlich?

Protest gegen die Verhaftung von Pawel Durow Foto: imago

Er zeigt sich in so­zia­len Medien gern beim allmorgendlichen Bad in der Eiswanne, kürzlich prahlte er damit, biologischer Vater von 100 Kindern zu sein – sein Beitrag gegen den „weltweiten Mangel an gesundem Sperma“. Pawel ­Durow, Techunternehmer und Boss des Messengerdienstes Telegram, leidet nicht unter falscher Bescheidenheit. In wenigen Jahren hat er aus seiner Wahlheimat Dubai Telegram zu einer der wichtigsten Social-Media-Plattformen der Welt aufgebaut. Ende dieses Jahres sollen eine Milliarde Menschen das Gratis­angebot nutzen.

Nun drohen Durow bis zu 20 Jahre Haft. Dem Vernehmen nach wusste der Unternehmer, dass in Frankreich ein Haftbefehl gegen ihn vorliegt. Gleichwohl flog der Staatsbürger Russlands, Frankreichs, der Vereinigten Arabischen Emirate und des Karibikstaats St. Kitts und ­Nevis am vergangenen Samstag aus Aserbaidschan nach Paris – und wurde dort verhaftet.

Der Vorwurf der französischen Behörden: Telegram leiste Beihilfe zu Straftaten wie Kinderpornografie und Drogenhandel, die Plattform weigere sich, Informationen über Nutzer, die illegale Inhalte verbreiteten, an Behörden weiterzuleiten. Am Mittwoch dieser Woche leitete die Staatsanwaltschaft formelle Ermittlungen gegen Durow ein. Ein Ermittlungsrichter sah dafür „ausreichende Anhaltspunkte“. Durow kam gegen Zahlung einer ­Kaution von 5 Millionen Euro frei, darf Frankreich aber nicht verlassen und muss sich zweimal pro Woche bei der Polizei melden.

Genau wie Durows Anwalt nannte Telegram es in einer Stellungnahme „absurd“, dass „eine Plattform oder ihr Eigentümer für den Missbrauch dieser Plattform verantwortlich sind“. Die Freiheit, auf Telegram in Gruppen mit bis zu 200.000 Nutzern und in Kanälen von unbegrenzter Größe alles zu verbreiten, hat Durow zum Markenkern erhoben. Telegram verweist gern darauf, dass es für Redefreiheit kämpfe, rühmt sich seiner „prominenten Rolle“ für prodemokratische Bewegungen etwa in Iran, Belarus, Myanmar und Hongkong. Für Russlands Opposition ist die App heute Kommunikationskanal Nummer eins.

wochentaz

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Einer der wichtigsten Kanäle für Desinformation

Denn Telegram ist verschlüsselt, umging bisher erfolgreich fast alle staatlichen Blockadeversuche, und anders als auf anderen großen Social-Media-Plattformen gibt es keine Moderation und keine Regeln.

So verbreiten sich etwa auch Livestreamvideos der Attentäter von Halle und Christchurch, Darstellungen verstümmelter Leichen Schwarzer Menschen, Rekrutierungsanzeigen für den IS oder massenhaft Angebote harter Drogen auf Telegram ungehindert. Die Plattform ist heute einer der wichtigsten Kanäle für – oft von Russland gesteuerte – demokratiezersetzende Desinformation.

Die dänische Zeitung Politiken nannte Durow einen „Meinungsfreiheitsabsolutisten“, ei­ne Bezeichnung, die er wohl auch selbst akzeptieren würde. Es ist ein nach rechts anschlussfähiger, libertärer Freiheitsbegriff, ähnlich dem von Elon Musk. Liberale Demokratien, die Menschen- und Minderheitenrechte zu verteidigen versuchen, gelten in dieser Weltsicht schnell als „autoritär“. Wer, wie Durow, einen Raum schafft, in dem Hetze keine Schranken kennt, gilt hingegen als Freiheitskämpfer.

Im Netz folgten viele deshalb Durows Auffassung, dass er keine Verantwortung für die Inhalte auf seiner Plattform trage. Der in Neuseeland in Auslieferungshaft sitzende Ex-Hacker Kim Schmitz, bekannt als Kim Dotcom, twitterte: „Welcome to the club!“ Durow für Straftaten auf Telegram belangen zu wollen sei, wie den Apple-Boss Tim Cook anzuklagen, weil Verbrecher iPhones verwenden, schrieb ein Nutzer auf X. Durow habe den „freiesten Raum für Kommunikation des 21. Jahrhunderts geschaffen“, jetzt werde ihm seine Freiheit vom „Land von Liberté, Égalité, Fraternité“ genommen, schrieb ein anderer.

Wie reagiert der Kreml?

Anfang des Jahres hatte Durow kategorisch zurückgewiesen, etwas mit dem russischen Staat zu tun zu haben. 2014 musste er Russland verlassen, nachdem er sich geweigert hatte, Daten seiner damaligen Plattform VKontakte an den russischen Geheimdienst weiterzugeben. 2018 wollte Russland den Zugang zu Telegram blockieren, weil sich das Unternehmen geweigert hatte, Sicherheitsbehörden Zugang zu verschlüsselten Nachrichten zu gewähren. Nach Massenprotesten verzichtete Moskau aber darauf.

Und nach dem islamistischen Anschlag mit 143 Toten Ende März auf die Crocus City Hall bei Moskau blieb der Kreml im Ton moderat: Russischen Staatsmedien zufolge wurden die Attentäter über einen Telegram-Kanal des afghanischen IS rekrutiert. Kreml-Sprecher Dmitri Peskow sagte damals, eine Blockade von Telegram sei dennoch nicht geplant. Stattdessen ermahnte der Kreml Durow lediglich zu „mehr Aufmerksamkeit“.

Dass Moskau Durow nicht mehr als Gegner sieht, dürfte auch damit zu tun haben, dass die russischen Truppen in der Ukraine vor allem Telegram zur Kommunikation nutzen. Nach Durows Verhaftung stellte Russland sich mit bemerkenswerter Chuzpe als Verteidiger der Meinungsfreiheit an seine Seite, vermutete politische Motive. Außenminister Sergei Lawrow sagte, die Beziehungen zwischen Russland und Frankreich hätten einen „Tiefpunkt“ erreicht. Der Duma-Vorsitzende Wjatscheslaw Wolodin sah in der Festnahme einen Versuch der USA und Frankreichs, die Kon­trol­le über Telegram zu erhalten. „Telegram ist eine der wenigen und zugleich größten Internetplattformen, auf die die USA keinen Einfluss haben“, so Wolodin.

Unter den größten Telegram-Channels in Deutschland sind viele rechtsextrem oder verschwörungsideologisch und verbreiten Kreml-Propaganda mit oft je sechsstelliger Reichweite. Mit Blick auf Durows ­Festnahme sagte der deutsche Vizeverfassungschutzpräsident Sinan Selen, im Bereich islamistischer Terror oder Rechtsextremismus gebe es „nicht den Austausch wie mit anderen Plattformen“. Telegrams Antworten auf Anfragen seien „limitiert“, so Selen. Es gebe Plattformen, die sehr schnell und zuverlässig Auskünfte geben. Dazu gehöre Telegram nicht.

Grundrechte, Privatsphäre, öffentliche Sicherheit

Allerdings hat Telegram nach Spiegel-Berichten in der Vergangenheit in mehreren Fällen von Kindesmissbrauch und Terrorismus Nutzerdaten an das BKA weitergegeben. Und über 100 vom BKA an Telegram gemeldete deutsche Kanäle und Gruppen seien gelöscht worden.

Telegram verwies nach Durows Festnahme darauf, dass das Unternehmen sich an EU-Gesetze „einschließlich des Digital Services Act“ halte. Die Moderation „entspricht den Branchenstandards und wird ständig verbessert“. Doch das ist fraglich.

Der Digital Services Act (DSA) ist ein im Februar 2024 in Kraft getretenes Regelwerk für ­Social-Media-Plattformen. Es verpflichtet die großen Onlineplattformen dazu, selbst gegen sogenannte systemische Risiken vorzugehen. Dabei handelt es sich um Bereiche, in denen ein unkontrollierter Informationsfluss der Gesellschaft schaden kann: Grundrechte, Privatsphäre, Kinderrechte, Diskriminierung, öffentliche Gesundheit, Wahlen, die öffentliche Sicherheit und der „zivile Diskurs“. Eine neue Abteilung der EU-Kommission prüft, ob die Anstrengungen der Konzerne ausreichen. Andernfalls drohen Bußgelder von bis zu 6 Prozent des Jahresumsatzes.

Das betrifft aber nur sogenannte Very Large Online Platforms mit mindestens 45 Mil­lio­nen Nut­ze­r:in­nen in der EU. Telegram behauptet, EU-weit nur rund 41 Millionen Nut­ze­r:in­nen zu haben. Deshalb muss der Dienst kein „Risikomanagement“ im Sinne des DSA betreiben. Allerdings musste Telegram, das lange für die Behörden überhaupt nicht greifbar war, einen Bevollmächtigten ernennen. Vertreten wird es nun von einem Dienstleister namens EDSR in Brüssel.

Defensiv im Kampf gegen Hetze

Die EU-weit zuständige Aufsichtsbehörde ist deshalb das Belgische Institut für Postdienste und Telekommunikation (BIPT). Es prüfte seit Mai, ob Telegrams Angabe korrekt ist. „Wir haben bisher keine Zahlen erhalten, die auf mehr als 45 Millionen monatlich aktive Nutzer hindeuten würden“, sagte in der vergangenen Woche ein BIPT-Sprecher.

Der Kommission reichte das nicht: Am Mittwoch leitete sie laut einem Bericht der Financial Times selbst eine Untersuchung ein, um zu prüfen, ob Telegram in Wahrheit nicht doch über dem Schwellenwert liegt und entsprechende Verpflichtungen erfüllen muss.

Gleichwohl wies die Kommission Vermutungen zurück, dass Durows Verhaftung etwas mit möglichen Verstößen gegen den DSA zu tun habe. „Die strafrechtliche Verfolgung gehört nicht zu den möglichen Sanktionen für einen Verstoß gegen den DSA“, sagte ein Kommissionssprecher dem Sender Euronews. Der DSA definiert weder, was illegal ist, noch legt er einen Straftatbestand fest und kann daher nicht für Verhaftungen herangezogen werden. Allerdings verfolge die Kommission die Entwicklungen im Zusammenhang mit Telegram und sei „bereit, mit den französischen Behörden zusammenzuarbeiten“.

Wie defensiv die Versuche, die Social-Media-Plattformen im Kampf gegen Hetze und Desinformation zu regulieren, bisher waren, zeigte sich unter anderem daran, dass Telegram mit einer einfachen Selbstauskunft davonkam. Lange setzen Regulierer im Westen auf Freiwilligkeit und Kooperationsbereitschaft von Techkonzernen. Meta und Google zogen teils mit, Musk, Durow und andere wehrten sich nach Kräften. Gut möglich, dass Durows Festnahme nun eine insgesamt härtere Gangart gegen die Plattformbetreiber einläutet.

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

11 Kommentare

 / 
  • Was ist Meinungsfreiheit?

    Die Freiheit auch das zu sagen, oder zu schreiben, das anderen mißfällt.



    Und es geht hier nur um Meinung, denn das andere ist durch Gesetze geregelt.

    Wenn nur das im öffentlichen Raum erscheinen darf, das der Regierung, oder den mit ihr verbundenen wirtschaftlichen Interessengruppen als gut und richtig erscheint, gibt es keine Meinungsfreiheit mehr.

    Betrachten wir die "öffentliche" Diskussion, die Wortwahl in Medien und Kommentar, so sehen wir eine zunehmende Bereitschaft eine andere Seite zu diffamieren (-leugner, -lügner, -versteher, und mehr). Das wird legitimiert durch das "eigene" recht haben, mit dem die andere Meinung zur "falschen" Meinung wird.

    Die Emotionalisierung der Medien, aus und für die eigene Klientel, bei der Unerwünschtes nicht erscheinen darf, es damit zu einem Verstärkereffekt kommt und die Wirklichkeit nicht mehr abgebildet wird, tut ein übriges.



    Nur die eigene Medienblase ist richtig, alle anderen sind falsch und müssen beseitigt werden, ist die Folge.

    Das ist ein Spiel, das auch von den anderen Blasen aus gespielt werden kann und wird. Es gibt keine Gewinner.

    • @Octarine:

      Man könnte noch anmerken, dass extra schwammige Gesetze geschaffen wurden, um wirkliche Hetze, aber vielleicht auch einfach nur scharfe Meinungsäußerungen zu unterdrücken. Wer will entscheiden, was dabei unter was fällt? Das ist keine Mathematik mit klaren Ergebnissen, sondern reine Auslegungssache.

  • Es muss betont werden, dass Telegram sehr wohl die Infrastruktur hat, um bei bestimmten Themen eine Totalzensur flächendeckend und mit erstaunlicher Effektivität umzusetzen - und dies auch macht. Zum Einsatz kommt das aber nur bei Themen, die für die russische Regierung wirklich wichtig sind - wie damals alles rund um die Sache Nawalny. Spätestens als das über Nacht zuschlug, hat Telegram die Unschuld komplett verloren.

    Die Verschlüsselung bei Telegram muss übrigens extra eingeschaltet werden (was häufig nicht gemacht wird), und funktioniert nur bei privaten Konversationen und kleineren Gruppen. Alles andere kann und wird mitgelesen.

  • Fraglich, warum er sich wohl jetzt gerade festnehmen lässt ...

    Julian Assange ist freigelassen und "Der Westen" sieht in Sachen Meinungsfreiheit wieder gut aus.

    Sicher, dass Moskau nicht doch mehr Druckmittel gegen ihn hat, als hier beschrieben?

  • > "Denn Telegram ist verschlüsselt"

    Das gilt nur sehr eingeschränkt: privatnachrichten können verschlüsselt werden, Gruppenchats sind im Klartext.

  • Das war längst überfällig, wer glaubt das im Netz keine Gesetze gelten, dem sei das Gegenteil jetzt gezeigt. Das Netz ist keine rechtsfreie Zone, wo jeder wie er will, alles Posten kann. Angefangen von Bombenanleitungen, bis über Demokratie verachtenden Müll, Kinderpornografie, Hate speech, Morddrohungen, ect., Ich hoffe das Gesetze erlassen werden, das die Plattformen die zig Milliarden damit machen, gezwungen werden ihre Milliarden Gewinne für eine gesetzeskonforme Moderation aus zu geben. Natürlich hat der Staat Mitschuld, es hat kein Sinn ein Krebsgeschwür im Endstadium zu behandeln, denn dann ist es zu spät. Ja, die Tech-Milliardere und ihre Macht ( Lobbyisten und die besten Rechtsanwaltskanzleien ) sind grenzenlos. Der Staat hätte schon längst Gesetze erlassen müssen, das diesen kriminellen Sumpf austrocknet. Es wird Zeit, das nur noch mit klar Namen gepostet werden darf, und die Plattformen bei einem richterlichen Beschluss gegenüber einen kriminellen, sofort alle Daten rausgegeben müssen, wenn nicht sollten zweistellige Millionen strafen pro Verstoß die Norm sein. Schluss mit der Anonymität, bedeutet Schluss mit der Kriminalität!

    • @taz.manien:

      Es ist bereits seit Jahren erwiesen, dass Leute iunter Klarnamen übler hetzen als unter Pseudonym, dass Klarnamenspflicht aber gefährdete Gruppen (Transgender, Kinder, Frauen) zusätzlich gefährdet.

      Daher: Bitte nicht.

      Klarnamenspflicht gehört zu den Dummen Ideen, die alle paar Jahre wieder eingebracht werden.

      • @Arne Babenhauserheide:

        Klarnamen mit Hinterlegung einer ladungsfähigen Adresse für Volljährige.



        Warum soll das nicht funktionieren, wo sind die Nachweise geführt worden?

        In der Ära vor dem Internet (1980er und 1990er) wurden bei Leserbriefen in der Tagespresse auch die Adresse mit abgedruckt. Da habe ich auch immer mal Post von bundesweit bekannten Alt- und Neonazis bekommen und ein paar anonyme Postkarten von Idioten. Die Nazis hätte ich vielleicht auch anzeigen können.

  • Die TAZ will uns Whatsapp wegnehmen!

    Nur Spaß! :D



    Meta ist viel zu mächtig, mit Zuckerberg legt sich keine Politikerin an die wiedergewählt werden will.

  • Aber krass, dass Elon Musk bei uns einfach ein und aus gehen kann, hofiert wird und Subventionen geschenkt bekommt.

    • @Dörte Dietz:

      Das ist ein guter Punkt.