ADHS im Erwachsenenalter: Ein Leben, das unmöglich schien
Unsere Autorin hatte viele Jahre lang Depressionen. Bis sie erkennt, dass diese nur eine Folge sind: von ADHS.
6. Juni 2023, 1:53 Uhr: Könnte das eine Lösung sein?
An einem Morgen im Juni 2023 nehme ich in meinem WG-Zimmer zum ersten Mal die ovale weiß-pinke Pille. Ich drehe sie vorsichtig auf, kippe das weiße Pulver in ein Glas Wasser und rühre mit einem Löffel um. Ich trinke.
Ein Freund hat mir die Pille gegeben, nachdem ich ihn damit vollgejammert habe, dass ich mich mal wieder vor dem Schreiben meiner Masterarbeit drücke, dass ich wochenlang nur prokrastiniert, tagelang keine Zeile geschrieben habe und stundenlang damit gehadert, mich überhaupt an den Schreibtisch zu setzen. Kein Problem, sagte der Freund. Eine Pille des verschreibungspflichtigen Medikaments Elvanse würde mir beim Konzentrieren helfen.
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Vierzig Minuten nach der Einnahme legt sich in mir ein Schalter um, von dem ich bis dahin nicht wusste, dass er überhaupt existiert. Plötzlich ist es ruhig in meinem Kopf. Das Hintergrundrauschen ist weg, als hätte es jemand abgedreht. Eine Leichtigkeit stellt sich ein. Auf einmal kann ich entscheiden, an was ich denke.
Die Pille zu nehmen, verändert mein Leben
27. Juni 2023, 0:00 Uhr: Wäre schön, wenn die Gedanken nicht mehr wie Hagel prasseln würden. Der Fokus in eine Richtung gelenkt werden könnte, sich nicht ständig umentscheiden würde. Hoffnung steigt auf. Möchte, dass es besser wird. Möchte vorankommen. Die Grenzen überwinden, die Mauern einreißen. Schritt für Schritt besser werden, besser organisieren, besser planen. Die Unsicherheit ablegen – und die Zweifel. Einiges macht Sinn. Das schnelle Reden, die fehlende Konzentration. Irgendwas weicht von der Norm ab – nicht weil ich es so will, sondern weil ich mich so fühle. Will wissen, ob es so ist. Sträubte mich lange gegen die Möglichkeit. Nahm sie nicht an. Weil Information fehlte und der Zugang unerreichbar schien.
Heute weiß ich, dass die Entscheidung, diese Pille zu nehmen, mein Leben verändert hat. Denn sie führte zu der Erkenntnis, dass ich nicht – wie mir von Ärzten und Therapeuten seit zehn Jahren immer wieder gesagt wurde – unter wiederkehrenden, therapieresistenten Depressionen leide, mit denen ich halt irgendwie klarkommen müsste. Sondern dass der Grund für meine Probleme eine Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung ist, besser bekannt als ADHS. Und die Depressionen ein Symptom von ihr. Wie wäre mein Leben verlaufen, wenn das früher diagnostiziert worden wäre?
Als Kind wollte ich immer unterhalten werden. Hatte ich eine Idee, einen Einfall, konnte ich nicht warten. Ich musste sofort zum Bastelladen, Glitzerpapier kaufen. Oder auf der Stelle meinen besten Freund anrufen, ihm etwas erzählen. Nichtstun und Stillsitzen waren nichts für mich. Langeweile hielt ich nicht aus. In der Schule wollte ich immer schon die nächste Aufgabe erledigen, denn sonst füllte Leerlauf mein Gehirn mit schnellen, sprunghaften Gedanken. Niemand bemerkte, dass mit mir etwas nicht stimmte.
In diesen Jahren fühlte ich mich oft so, als würde ich durchs Leben geschleift werden. Vieles fing ich zufällig an. Mich zu motivieren, etwas zu tun oder etwas zu lernen, gelang mir kaum, wenn ich es nicht spannend genug fand. Ist die Begeisterungsfähigkeit anderer eine Kerze, die gleichmäßig und lange brennt, ist meine eher ein Chinaböller. Die Motivation für neue Hobbys verflog meistens so schnell, wie sie gekommen war: Reiten, Judo, Fußball, Tanzen, Klavier, Obst- und Gartenbauverein – probierte ich alles aus, anfangs mit Begeisterung, schnell mit Fluchtgedanken, sobald sich Routine einstellte. Dann brauchte ich wieder was Neues.
Die Diagnose war nicht falsch: Ich war depressiv
Mit 18 Jahren zog ich alleine in eine Mietwohnung in die nächstgrößere Stadt und fuhr jeden Morgen mit einem alten roten VW Polo in die Schule. Um Miete und Spritkosten zu bezahlen, arbeitete ich neben der Schule bis nachts in einer Kneipe. Fürs Abitur lernte ich morgens. Mein Leben war durchgetaktet. Ich hatte keine Zeit, mich in Gedankenschleifen zu verheddern. Alles klappte irgendwie. Es war wie ein Rausch.
Bis zu dem Abend, an dem mir die Tränen runter liefen, als ich mit Bier auf dem Tablett auf dem Weg zum Bartresen war. Ich brach meine Schicht ab, rief eine Freundin an und saß ein paar Minuten später in ihrem Auto und dann im Warteraum der Notaufnahme. Ich konnte nicht aufhören zu weinen, es gab keinen eindeutigen Grund für meine Tränen. Das Gefühl von damals: taub, besiegt, am Limit, überfordert. Psychiater sprachen mit mir und sagten, sie würden mich gern im Krankenhaus behalten.
Ich wollte nicht bleiben. Also schickten sie mich mit einer Krankschreibung für drei Wochen wieder nach Hause. Die Diagnose lautete „mittelschwere Depression“. In meiner Wohnung starrte ich teilnahmslos auf den Fernseher. Ich konnte mir nichts merken, keine Freude fühlen, mich zu nichts aufraffen. Ich versank in Wellen negativer Gedanken.
Die Diagnose der Ärzte war nicht falsch. Ich war depressiv und ausgebrannt. Und doch war es ein Problem, dass von nun an in meiner Krankenakte „Depression“ stand. Denn in den kommenden Jahren interpretierten andere Ärzte die Symptome, die ich äußerte – Antriebslosigkeit, Gedankenrasen, Morgentief, Suizidgedanken – als erneute depressive Episoden und verschrieben mir Antidepressiva, die nicht anschlugen. Nach einer anderen Ursache für mein Leiden wurde nie gesucht.
Ich machte mein Abitur und ging einmal pro Woche zum Jugendpsychologen. Ich zog nach Berlin und begann zu studieren. In Uniseminaren kam ich nicht mehr damit durch, einfach aktiv im Unterricht zu sein, wie damals in der Schule. Wie ich mir meine Lernzeit im Kalender auch einteilte: meine Hausarbeiten schrieben sich nicht, weil ich sie nicht schrieb. Ich schob hinaus, immer wieder, und zweifelte immer mehr an mir. Vielleicht, dachte ich, ist das Studium doch nichts für mich. Am Ende habe ich für meinen Bachelor drei Semester über die Regelstudienzeit hinaus gebraucht. Für meinen Master weitere fünf.
Weil es mir so schwer fiel, meine Zeit strukturiert zu nutzen, vergingen unproduktive Tage mit Schuldgefühlen. Und diese Schuldgefühle waren so stark, dass sich eine Abgabe nicht mal wie ein Erfolgserlebnis anfühlte. Stattdessen kreisten in meinem Kopf immer wieder dieselben Gedanken: Hätte ich früher angefangen, hätte ich besser sein können. Schneller. Entspannter.
Um ADHS schien es in den vergangenen Jahren eine Art Hype zu geben
Und so rutschte ich in diesen Jahren immer wieder in die Depression ab, weil ich so sehr an mir zweifelte. Weil ich wirklich studieren wollte, aber nicht lernen konnte. Ich wies mich in eine Depressionsklinik ein, sprach mit Psychotherapeuten, fuhr nach Norddeutschland und machte eine Ketamintheraphie. Die Behandlungen sorgten dafür, dass ich stabiler wurde, doch die Linderung war stets temporär. Ich fühlte mich wie ein Fass mit Loch. Solange Ärzte ihren therapeutischen Finger auf das Loch drückten, blieb das Wasser drin und ich kam zurecht. War der Finger weg, leerte sich das Fass.
Also scheiterte ich wieder und wieder an mir selbst. In Gesprächen mit Freunden versuchte ich aufmerksam zuzuhören und konnte mir doch nicht merken, was sie mir erzählten. Irgendwann fing ich an, mich selbst nicht mehr zu mögen, manchmal sogar zu hassen. So sehr, dass ich mich dann fragte, ob es das gewesen sein soll und ob ich überhaupt alt werden möchte. Weil sich das Scheitern seit der ersten Depression wie ein roter Faden durch mein Leben zog und ich mich nicht auf mich selbst verlassen konnte. So viel ich auch über Selbstliebe, Stoizismus und Resilienz las: Ich fand mich scheiße, undiszipliniert und schwach. Wie sollte ich mich akzeptieren?
Nachdem ich die konventionellen Depressionstherapien ausgeschöpft hatte, gestaltete ich mein Leben um. Erst reiste ich mit dem Rucksack durch Skandinavien und nahm online an den Vorlesungen teil. In ständig wechselnder Umgebung schaffe ich es, aufmerksam zu bleiben. Irgendwann gab ich mein Berliner WG-Zimmer komplett auf, kaufte mir einen Van und reiste weiter. Ich sehnte mich nach neuen Erlebnissen, ging ohne Erfahrung und mit viel zu viel Gepäck wandern, lernte Skifahren, machte einen Fallschirmsprungkurs. Ich wurde zum Adrenalinjunkie, der nicht wusste, dass sich „extrem“ und „neu“ so viel besser als Routine anfühlte, weil im Gehirn eine neurobiologische Disbalance vorherrscht. Dass das, was ich habe, einen Namen hat und behandelt werden kann.
Natürlich wusste ich, was ADHS ist. Schließlich schien es in den vergangenen Jahren eine Art Hype um diese Krankheit zu geben, vor allem in den sozialen Medien, auf Tiktok und Instagram. Hier teilen Betroffene in Videos und Beiträgen ihren Weg zur Diagnose, sprechen über ihre Symptome.
Eigentlich finde ich es gut, dass Leute online der Stigmatisierung rund um das Thema mentale Gesundheit entgegenwirken, aber damals befremdete mich der Umgang mit ADHS. Ich war der Ansicht, dass Kinder ja grundsätzlich „mal“ laut, unkonzentriert oder hyperaktiv sind, öfter mal die Hobbys wechseln und selbstverständlich nicht gleich als „gestört“ gebrandmarkt und mit Medikamenten ruhiggestellt werden sollten. Und ich gebe zu, dass ich auch das dachte, was viele denken, die sich mit dem Thema noch nicht auseinandergesetzt haben: Bisschen impulsiv und drüber ist doch jeder mal. Zu dieser Zeit drang es nicht zu mir durch, dass auch ich eine ADHS haben könnte.
Das Gefühl überrolt mich – auf positive Weise
Bis zu jenem Tag im Juni 2023. Bis zu der Pille, die ich von einem Freund bekam. Dieser Freund hat übrigens keine ADHS. Aber eine Freundin von ihm, und die hat ihm irgendwann eine Elvanse zum Lernen angeboten.
Ich bin erst überrascht und zögerlich, als er mir dasselbe Angebot macht, aber dann denke ich: Was hast du zu verlieren? Viel schlechter können Motivation und Antrieb nicht werden. Zu diesem Zeitpunkt trinke ich vier bis sechs Red Bulls am Tag, um irgendwie einen Funken Fokus zu erhaschen. Da kann ich sie auch an einem Tag durch eine Pille ersetzen.
Dann dauert es nur noch vierzig Minuten, bis ich zum ersten Mal diese angenehm-ungewohnte Ruhe in meinem Kopf spüre. Klarheit. Es überrollt mich. Auf positive Weise.
Ich setze mich trotzdem nicht an meine Masterarbeit, sondern fange an zu googlen. „ADHS“, dann „ADHS“ in Kombination mit „Frauen“, „Mädchen Symptome“, „Depression“.
Viele Kinder mit ADHS haben schon in der Schule Schwierigkeiten. Laut Bundesgesundheitsministerium sind zwei bis sechs Prozent der Kinder und Jugendlichen von der Störung betroffen. Etwa 60 Prozent der im Kindesalter Betroffenen haben auch später noch Symptome. Mädchen werden viermal seltener diagnostiziert als Jungen. Das liegt laut dem Magazin Spektrum daran, dass Mädchen mit ADHS seltener hyperaktiv seien, weniger durch störendes Verhalten auffielen und Defizite im Durchschnitt besser kompensieren könnten. An klinischen Studien, auf deren Basis die Kriterien für die Diagnose erstellt wurden, nahmen zudem überwiegend Jungen teil. Daher seien die meisten Bewertungsskalen auf männliche Patienten geeicht.
Ich habe keine ADHS – ich doch nicht
Der Psychologe Thomas E. Brown schreibt im Buch „Smart but Stuck“ über normal- bis hochbegabte junge Menschen mit ADHS: „Es ist für die meisten schwer zu verstehen, wie ein Mensch sich auf bestimmte Aufgaben konzentrieren kann oder sich unter dem Druck eines bevorstehenden Termins mobilisieren kann …“ Das kenne ich gut, mit extremem Zeitdruck und Versagensangst klappt einiges. Dann lese ich weiter: „… und dennoch nicht in der Lage ist, sich zu zwingen, dieselben Fähigkeiten in angemessener und rechtzeitiger Weise einzusetzen, insbesondere bei offensichtlich wichtigen Aufgaben.“ Jemand spricht das aus, was ich so lange fühlte.
All das hat mit einem Ungleichgewicht der Botenstoffe Dopamin und Noradrenalin zu tun. Und führt dazu, dass Betroffenen der Antrieb zum Loslegen oft fehlt. Sie gehen Aufgaben nicht an, sondern schieben sie auf. Nur wenn der Zeitdruck immens oder der Wunsch stark genug ist, etwas zu erledigen, schüttet man genügend Botenstoffe aus.
Mit Druck und engen Deadlines habe ich schon einige Texte, Unikurse und meine Steuererklärung gerettet. Aber Wochen oder Monate vorher mit einer Aufgabe anfangen? Unmöglich. Säße ich in einem Auto, würde ich buchstäblich das Gaspedal rechtzeitig durchdrücken, doch es würde auf der Stelle bleiben. So lange, bis die Zeit gerade noch so reicht, um mit Vollgas und Vollbremsung ans Ziel zu kommen. Dann würde sich der Tank füllen und ich manchmal losrasen.
Ich lese und lese und denke nur: Das kann nicht sein. Das kann verdammt nochmal nicht sein. Ich bilde mir bestimmt nur ein, dass diese Symptombeschreibungen so gut auf mich passen. Ich habe keine ADHS. Ich doch nicht. Ich habe nur Depressionen.
Die typischen Anzeichen treffen zu
27. Juni, 23:41 Uhr: Drang, drüber zu reden, doch Angst, dass es mir abgesprochen wird. Dass mir nicht geglaubt wird. Dass ich nicht die Hilfe erhalte, die ich vielleicht bräuchte. Will schnell Gewissheit.
Irgendwann während meiner Recherchen lese ich einen Text der Psychologin Cordula Neuhaus mit dem Titel „Typische Anzeichen von ADHS bei Erwachsenen“. Dort steht: „Als Folge des Erlebens der eigenen ‚Selbstunwirksamkeit‘ entwickeln Erwachsene mit ADHS zum Teil starke Selbstwertprobleme, (…) (ver)zweifeln häufig an sich selbst.“ Dies würde unerkannt bei vielen Betroffenen zu symptomatischer Angststörung oder wiederkehrenden Depressionen führen. Ich denke an all die Selbstzweifel. Im Privaten, im Studium, beim Schreiben. An die nicht abgegebenen Texte und Seminararbeiten.
„Ebenfalls typisch für Erwachsene mit ADHS sind emotionale Ausbrüche mit regelrechtem Kontrollverlust“, heißt es auf der Website der Psychologin weiter. Ich erinnere mich an die vielen Streitigkeiten, in denen ich aus Überforderung losheulte. Dass ich Auseinandersetzungen mit anderen nur schwer loslassen konnte, die Gedanken an das, was im Streit gesagt wurde, immer wieder und tagelang, oft noch beim nächsten Treffen mit der Person für mich präsent waren. Ich hatte keinen Schalter, um die schlechten Gedanken auszuknipsen.
Ich lese weiter: „Betroffene Erwachsene (…) reagieren oft mit der ersten Spontanidee, die ihnen einfällt, wobei Betroffene dazu ohnehin zu einem sprunghaften Denk- und Wahrnehmungsstil neigen.“ Klingt nach mir. Im Frühjahr erst hatte ich mir morgens spontan für mittags einen Flug von Stockholm nach Stuttgart gebucht, um Fallschirm zu springen, obwohl ich die Woche eigentlich an der Masterarbeit schreiben wollte.
Neuhaus schreibt weiter: „Viele Betroffene sind geradezu von einem unkonventionellen Lebensstil angezogen, entdecken gerne ferne Länder, experimentieren leider auch gerne mal mit unterschiedlichen Drogen. Auch im sozialen Bereich zeigt sich das typische ‚Sensation Seeking‘ von Betroffenen, die in einer subjektiv als sympathisch empfundenen Gruppe von Menschen regelrecht „enthemmt“ wirken. Gleichzeitig fällt es ihnen auch im Erwachsenenalter schwer, bei einer als „langweilig“ empfundenen Umgebung dauerhaft (…) aufmerksam zu bleiben.“ Drogen? Check. Ein Leben zwischen Zügen und den Couches von Freunden? Check. Risiko? Check.
Ich weine, rauche, zweifle, hoffe für einen kurzen Moment, und weine wieder. Kann es wirklich sein, dass seit neun Jahren die Depressionen immer wiederkommen, weil sie nicht das Hauptproblem, sondern eine Folge einer nicht diagnostizierten psychischen Störung sind?
Ich schicke meiner Mutter unkommentiert den Link zu dem Text. „Muss sagen, dass das sehr zutrifft, wie du als Kind warst und jetzt bist. Wäre gut, wenn du das abklären lässt“, schreibt sie zurück.
Wartezeiten für eine ADHS-Diagnostik sind ähnlich lang wie bei Psychotherapieerstgesprächen
4. Juli, 23:37 Uhr: Würde gern den Kopf stiller haben.
Ich schreibe eine SMS an meine Therapeutin in Berlin, die mich und meine depressiven Episoden über die Jahre immer wieder aufgefangen hat. Sie antwortet, dass sie sich mit ADHS bei Erwachsenen zu wenig auskenne. Der Vorgänger der ADHS-Diagnose war im Jahr 1968 die hyperkinetische Störung der Kindheit. Im Diagnosehandbuch DSM der Amerikanischen Psychiatrie von 1980 wird erstmals von der Aufmerksamkeitsstörung (ADS) mit und ohne Hyperaktivität gesprochen, ab 1987 dann schließlich von ADHS.
Lange Zeit wurde man nur als Kind diagnostiziert oder gar nicht. Erst seit 2003 ist die Diagnose in Deutschland für Erwachsene anerkannt. So kommt es, dass nicht jeder Psychologe und Psychiater über Fachwissen zur Störung im Erwachsenenalter verfügt – viele mussten sich schlichtweg nicht damit beschäftigen, als sie anfingen zu arbeiten, weil die Diagnose noch nicht existierte. Einige wirkungsvolle Medikamente wie Medikinet oder Elvanse sind erst seit 2011 bzw. 2019 für Erwachsene zugelassen.
Ich recherchiere weiter und finde heraus, dass die Wartezeiten für eine ADHS-Diagnostik ähnlich lang sind wie bei Psychotherapieerstgesprächen. Weil ich nicht warten will, versuche ich es bei Privatpraxen, höre aber auch da am Telefon nur Sätze wie: „Versuchen Sie es im neuen Jahr nochmal“, „Die Warteliste ist voll“ und „Wir haben keine Kapazitäten“. Dann versuche ich es direkt bei der Psychologin Cordula Neuhaus. Wieder eine Absage. „Ich habe die ganze Website gelesen, es passt so gut, bitte: Ich brauche Hilfe“, bettle ich. Stille am anderen Ende der Leitung. „Wir schicken Ihnen Fragebögen zu und schauen dann weiter“, sagt die Sprechstundenhilfe. Ich schöpfe Hoffnung.
Meine Hoffnung springt durch die Decke
12. Juli, 0:10 Uhr: Immer wieder stoßen die Gedanken aneinander, finden ihre Richtung nicht, kommen vom Weg ab.
In den nächsten Wochen fülle ich rund 70 Seiten Fragebögen aus. Sie dienen auch zur Differenzialdiagnostik. Bedeutet: Einige Symptome von ADHS überschneiden sich mit denen anderer psychischer Erkrankungen. Beispielsweise treten eben sowohl bei Depressionen als auch bei ADHS innere Unruhe und Selbstzweifel auf. Deswegen wird geschaut, ob die Symptome in ihrer Kombination und Vielzahl zum entsprechenden Störungsbild passen. Das macht die Diagnose so komplex. Ende Juli schicke ich den Papierbatzen weg.
Im August klingelt mein Handy. Die Sprechstundenhilfe von Frau Neuhaus sagt: „Wir haben gute Nachrichten.“ Meine Hoffnung springt durch die Decke. „Sie können im November zur Diagnostik kommen.“ Drei Monate sind verdammt weit weg, denke ich kurz. Dann landet die Hoffnung wieder auf dem Boden der Tatsachen und die Erleichterung überwiegt. Mein Ziel bis November: Die Depression in Schach halten und mich ablenken. Ich mache einen Roadtrip, arbeite viel.
Psychostimulanzien lindern ADHS-Symptome bei 70 bis 80 Prozent der Betroffenen
18. November, 22:34 Uhr: Dunkle Tage, Gedanken rasen ziellos durch die Gegend, versperren die Sicht auf das, was wichtig ist. Kaffee rein, Koffeintabletten rein, Red Bull rein. Irgendwie Klarheit erzwingen, wenn auch nur für einen Moment. Kurz da, beweglich, der Paralyse entglitten, bevor sie wieder die Überhand gewinnt, jede Bewegung und Aufgabe mit einer Schicht Unmöglichkeit bedeckt.
Im November dann endlich die Diagnostik. Mehrere Stunden spreche ich mit einem Therapeuten – über meinen Lebensweg, Schwierigkeiten, die Kindheit. Es folgen ein IQ-Test und Aufmerksamkeitstests. Fünf Stunden dauert das. In zwei Wochen soll ich das Ergebnis erhalten.
Mit großer Angst kehre ich zur Praxis zurück. Diesmal empfängt mich die Psychologin Cordula Neuhaus. Ich kann den Moment schwer aushalten und bin dankbar, als sie meine Vermutung direkt zu Anfang der Sitzung bestätigt. Sie erklärt, wie sich ein Gehirn mit ADHS von anderen Gehirnen unterscheidet und schreibt zu der Diagnose eine Medikationsempfehlung: Elvanse, 30 Milligramm. Vor Erleichterung weine ich kurz danach vor der Sprechstundenhilfe.
Ziel der Therapie ist erst mal Psychoedukation. Lernen und verstehen, wieso ich wie funktioniere. Das Medikament muss mir ein Psychiater verschreiben. Mit großem Glück ergattere ich einen Termin und das Rezept. Fortan nehme ich täglich morgens eine Pille.
Wie wirkt so ein Medikament? Die meisten Medikamente zur Behandlung von ADHS – Kategorie Psychostimulanzien – sorgen dafür, dass die Botenstoffe Dopamin und Noradrenalin im Gehirn stärker freigesetzt und langsamer wieder abgebaut werden. Ihre Wirkung ist vergleichbar mit der von psychoaktiven Drogen wie Kokain oder Speed bei Menschen ohne ADHS, nur dass sie bei Menschen mit ADHS nicht aufputschen, sondern das biochemische Ungleichgewicht im Gehirn ausgleichen. Die simple Wirkung: Es fällt ADHS-Betroffenen leichter, Aufgaben anzugehen.
Mehr als 200 Studien haben nachgewiesen, dass Psychostimulanzien ADHS-Symptome lindern, und zwar bei 70 bis 80 Prozent der Betroffenen. Im Vergleich haben Antidepressiva bei Depressionen eine deutlich geringere Wirksamkeit. In einer Studie nahmen je 100 Depressive Antidepressiva und 100 ein Placebo. Das Ergebnis? Nach einigen Wochen fühlten sich 30 Menschen aus der Placebo-Gruppe besser, bei jenen, die das Antidepressivum genommen hatten, waren es gerade mal 50. Im Gegensatz zur „Erkrankung“ Depression ist die ADH-„Störung“ hingegen grundsätzlich nicht heilbar.
Ich werde nie wissen, ob mir die richtige Diagnose das Leben gerettet hat, es fühlt sich – rückblickend auf Gedanken, die ich hatte, – so an. Anfang Juni 2024 schreibe ich diese Zeilen. Vor knapp über einem Jahr hatte ich die Vermutung, eine ADHS zu haben. Seit einem halben Jahr habe ich Gewissheit, mache Therapie und nehme Medikamente. Seit einem halben Jahr bleibt die Depression fern. Der Blick in die Zukunft, ein zuvor so abstrakt und unerreichbar scheinendes Konstrukt, erscheint mir heute als möglich und ich spüre sogar etwas, von dem ich vergessen hatte, wie es sich anfühlt: Optimismus.
Jeder meiner Morgen beginnt nun mit einer Pille, und das erst mal auf unbestimmte Zeit. Endlich habe ich das Gefühl, selbst das Steuer in der Hand zu haben. 28 Jahre meines Lebens war es mir vorgekommen, als säße ich in einem auf Autopilot gestellten Auto, das regelmäßig – wenn ich nicht doch noch mit letzter Kraft gegenlenkte – gegen die Wand fuhr. Ich dachte, Gegenlenken sei die einzige Option. Ich wusste nicht, dass der Fahrersitz überhaupt existiert.
Klaudia Lagozinski, 29, ist Online-Nachrichtenchefin bei der taz. Seit einigen Jahren wirft sie vor dem Schlafengehen ihre Gedanken täglich in ein DIN-A6-Notizbuch. Sie hat in diesem Jahr bisher vergleichsweise wenig geweint.
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