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Bedeutung des Labour-WahlsiegsHoffnungsschimmer von der Insel

Dominic Johnson
Kommentar von Dominic Johnson

Wirren in Washington, Panik in Paris – und ein Lichtblick aus London? Die Hoffnungen westlicher Demokraten liegen auf Keir Starmer. Aber der geht geschwächt ins Amt.

Labour hat es geschafft: Keir Starmer und seine Frau beziehen Downing Street 10, aber wo ist die Katze? Foto: Kin Cheung/ap

L abour kehrt an die Macht in Großbritannien zurück. Keir Starmers Partei hat vierzehn Jahren konservativer Herrschaft ein Ende gesetzt und einen fulminanten, historischen Sieg hingelegt: Von 202 Sitzen im Unterhaus bei den letzten Wahlen 2019 auf 412 Sitze heute – während die Konservativen von 365 Sitzen vor fünf Jahren auf 121 abstürzen.

Den Zeitpunkt hat sich Starmer nicht ausgesucht, und als Sunak im Mai den Wahltermin 4. Juli ausrief, war auch noch nicht klar, wie tief die Krisen anderswo bis dahin sein würden. Joe Biden stand noch nicht vor dem Aus und die französische Rechte noch nicht vor den Toren der Macht. Aber heute: Wirren in Washington, Panik in Paris – kommt nun ein Lichtblick aus London?

Auf Keir Starmer richten sich jetzt die Blicke als neuer Anführer progressiver westlicher Demokratien insgesamt. Schon Anfang nächster Woche fliegt er nach Washington zum Nato-Gipfel, wo eine Marschroute für den Umgang mit dem möglichen zukünftigen US-Präsidenten Donald Trump gefunden werden muss. Eine Woche später ist er im eigenen Land Gastgeber der Europäischen Politischen Gemeinschaft, wo sich die EU-Mitgliedstaaten mit allen europäischen Ländern außer Russland verständigen – seine Chance, in Europa Akzente zu setzen, während in der EU gerade die Rechte erstarkt.

Im Wahlkampf sprach Starmer bereits von der Notwendigkeit, dass progressive Kräfte in ganz Europa zusammenarbeiten. Labour-Schatten­außenminister David Lammy erläuterte in einer Grundsatzrede im Januar eine Doktrin des „progressiven Realismus“, die interessen- und wertegeleitete Außenpolitik zusammen denkt mit dem Ziel eines „Reconnect“ mit Gleichgesinnten – gerade gegenüber der Bedrohung durch Putin, dem „Anführer eines neuartigen Faschismus“.

Das sind deutliche und willkommene Worte, und sie bedeuten zunächst einmal außenpolitische Kontinuität im Gegensatz zum innenpolitischen Bruch. Man kann den abgewählten Tories vieles vorwerfen, aber diplomatisch hinterlassen sie einiges von bleibendem Wert.

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Unter Boris Johnson war Großbritannien Vorreiter der tatkräftigen Ukraine-Unterstützung noch vor dem russischen Überfall im Februar 2022; ohne die damals bereits gelieferte britische Panzerabwehr hätte Russland den Krieg möglicherweise in der ersten Runde für sich entschieden. Das Militärbündnis Aukus mit den USA und Australien zur atomaren Rüstungskooperation im Pazifik und die zunehmend enge Zusammenarbeit mit Japan bilden die Grundlagen für eine über die Nato hinausgehende weltumspannende Allianz gegen Autokraten in Moskau, Peking und anderswo.

Es wird nötig sein, dies zu stärken und EU-Staaten darin einzubinden, gerade angesichts der Gefahr einer Wiederkehr Trumps. Weder London noch EU-Hauptstädte sollten daher der Versuchung erliegen, vergangene Brexit-Schlachten neu auszufechten. Dafür ist keine Zeit. Stattdessen müssen sie zukunftsweisende Kooperationsformen ausloten. Die Aussicht auf das britisch-deutsche Sicherheitsabkommen in diesem Sommer ist ermutigend.

Labours Wahlsieg ist hohl

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Auch im eigenen Land könnte Kontinuität wichtiger werden, als es momentan erscheint. Die gigantische Dimension des Umschwungs im Parlament verbirgt eines: Labours Wahlsieg ist hohl. Keir Starmers Partei hat bei ihrem Wahltriumph 2024 weniger Stimmen geholt als Jeremy Corbyn bei seinem Wahldebakel 2019 – ihr Stimmanteil von 33,8 Prozent liegt nicht einmal 2 Prozentpunkte über dem von 2019; die Wahlbeteiligung ist stark gesunken.

Dass trotzdem die Anzahl der Labour-Sitze im Unterhaus von 202 auf 412 explodiert ist, liegt in erster Linie am Kollaps der Konservativen, die nicht nur zwei Drittel ihrer Sitze verloren haben, sondern auch fast 20 Prozentpunkte Stimmanteil. In einem Wahlkreis nach dem anderen war in der Wahlnacht allerdings zu beobachten: Die verlorenen Tory-Stimmen gehen nur zu einem Drittel an Labour – und zu zwei Dritteln an die rechtspopulistische Partei Reform UK von Nigel Farage, die fast überall die höchsten Stimmzuwächse erzielt. Auch Grüne und Liberale legen zu. Zum ersten Mal seit 100 Jahren holen Parteien jenseits von Labour und Tories gemeinsam über 40 Prozent.

Die britische Öffentlichkeit ist zersplittert und schlecht gelaunt. Labour kommt an die Macht mit dem schlechtesten Ergebnis eines neuen Wahlsiegers seit Einführung des allgemeinen Wahlrechts. Keir Starmer wird der Premier­minister mit den negativsten Sympathiewerten seit Beginn der Umfragen. Kann Großbritannien mit dieser Ausgangslage jetzt eine Insel der Stabilität werden, die dem aufgewühlten Westen Orientierung bietet? Die Erwartungen sind immens. Die Last ebenfalls.

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Dominic Johnson
Ressortleiter Ausland
Seit 2011 Co-Leiter des taz-Auslandsressorts und seit 1990 Afrikaredakteur der taz.
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11 Kommentare

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  • Kaum das die Briten ordentlich Labour wählen - sofort klappt's auch mit dem Fussball. Unterhauswahl 1966: 48,1 % Labour.



    Das lässt hoffen, denn wir wissen alle wie das 1966 ausgegangen ist.



    Haben eigentlich die Bälle heute auch Sensoren, ob sie tatsächlich und vollumfänglich hinter der Linie sind....?

  • ""Labours Wahlsieg ist hohl."" oder aber ""Aus dem krummen Holz der Menschheit ist nie etwas Gerades gemacht worden“, (Zitat Immanuel Kant)



    ==



    Entgegen aller Vorhersagen nach Labours Wahlschlappe 2019 ist dies das erste Mal, dass eine Partei in einer Amtszeit nach einer Erdrutschniederlage einen absoluten Sieg errungen hat. Schritt für Schritt formte Starmer die Partei um und näherte sich dem großen Wendepunkt im Dezember 2021, als Labour die Führung in der politischen Zustimmung übernahm - um nie wieder zurückzublicken.

    Nach Camerons verlotterter Selbstzufriedenheit, Boris Johnsons egozentrischer Schurkerei und nach Liz Truss ideologischem Trauma einer Schurkin welches UK fast nicht nur wirtschaftlich gegen die Wand gefahren hatte zählte Starmers Solidität und Entschlossenheit weitaus mehr. Keine Partei gewinnt, ohne sich das Vertrauen in ihren Vorsitzenden und Kanzler zu sichern um die Wirtschaft, die Verteidigung, den NHS, die Bewältigung der Klimakrise und alles andere erfolgreich zu leiten.

    Wer glaubt Vertrauenswürdigkeit nach der Enttäuschung sei leicht zu erringen hat während der letzten 14 Jahre Herrschaft der Schurken und der bösartigen Traumtänzer gepennt.

  • Er hat deutlich gewonnen. Immer muss künstlich etwas Kritisches konstruiert werden. Labour hat seine Kampagnen auf umkämpfte Wahlkreise fokussiert wegen dem Wahlrecht

    • @Bernd Käpplinger:

      "Er hat deutlich gewonnen. Immer muss künstlich etwas Kritisches konstruiert werden."

      Dann betrachtete wir etwas nicht konstruiertes: Dem Wahlrecht ist es auch zu verdanken dass Farage und seine Rechtsaußen mit knapp der Hälfte der Stimmen wie Labour nur ein achtzigstel an Parlamentssitzen erhalten haben. Damit haben deren Wähler nicht die große Bühne (wie z.B. RN oder AfD) - die verschwinden aber trotzdem nicht einfach so.

  • "Wirren in Washington, Panik in Paris – und ein Lichtblick aus London?" Erinnert sehr an Weiland Theo Sommer.

  • Sehr geehrter Herr Johnson,

    richtig ist, dass die Wahlbeteiligung um 10% gesunken ist, was vermutlich aufgrund der Prognose des Erdrutschsiegs Labours herrührt.

    Richtig ist auch, dass Labour es schaffte mit effektiv 21% der Wahlberechtigten 63% der Sitze um Unterhaus gewinnen konnte. Das entspricht nicht meiner Vorstellung der Demokratie. In Deutschland würde das eine heftige öffentliche Reaktion auslösen.

    Aber, so ist das System. Labour und die Liberaldemokraten haben das System optimal bespielt und beide haben gewonnen. Das kann man also weder Labour noch den Liberalsdemokraten vorwerfen.

    Das als Schwäche Labours auszulegen, ist ebenfalls übertrieben. Richtig ist eher, dass viele – einschließlich der Nichtwähler – eher gegen die Konservativen waren. Das ist Starmer auch bewusst. Er muss sich das Vertrauen der Öffentlichkeit erst noch erwerben.

    Aber die Grundlagen dafür sind da: in den Gemeinden und Städten, die von Labour geleitet werden.

  • ...leider ist mir meine Glaskugel vom Tisch gefallen während ich BBC verfolgt habe.



    Klüger bin ich also erst in fünf Jahren. Ein paar Vorschuss-Lorbeeren sollten möglich sein, finde ich.

  • Mehrheitswahlrecht ist schon toll - die einen erhalten 0,3 Abgeordnete je Prozentpunkt Stimmenanteil, die anderen 12,2. Wähle die Richtigen, damit deine Stimme auch Gehör findet.

  • Es ist und bleibt eine gute Nachricht aus London, insbesondere angesichts der Schlechten Entwicklungen in Italien, Frankreich und den USA, um nur einige Beispiele zu nennen.



    Es ist nachvollziehbar, dass sich Britinnen und Briten nach Lügnern und Kompetenzbefreiten im Amt nun einfach mal Verlässlichkeit gewählt haben.



    Leere Versprechungen haben in den Letzten Jahren ihr wahres Gesicht gezeigt.



    Ich wünsche Großbritannien mit Labour viel Glück für die Zukunft und würde auch eine Annäherung an die EU begrüßen.

  • Gemessen an den realen Stimmenzuwächsen müssen Farage und seine Reform UK als die eigentlichen Wahlsieger gesehen werden … ein Trend, der dem im übrigen Europa entspricht.



    Wer die Stimmung unter den britischen Wählern aufmerksam verfolgt hat, konnte erkennen, dass es so kommt … ironischerweise liesse sich jetzt sagen: glücklicherweise gibt es in UK das Mehrheitswahlrecht. Wäre das nicht der Fall, stände Starmer jetzt vor einer schwierigen Regierungsbildung.

  • Hohl, schmohl. Mit einer Mehrheit von knapp 90 und den LibDems als in vielen Dingen wohlgesonnenen 2. Oppositionspartei (plus die jetzt 4 Grünen) hat Sir Kier jetzt sichere fünf Jahre Zeit.