Vielfach ausgezeichnete Jenny Erpenbeck: Kein Sehnsuchtsort, sondern Gefängnis

Jenny Erpenbeck hat den renommierten Booker Prize erhalten. Obwohl nicht nur ihre Reden, sondern auch ihre Bücher durch Ostdeutschtümelei verblüffen.

Jenny Erpenbeck steht vor einem Spiegel, der sie im Profil zeigt

Erhielt mit dem Booker Prize die wichtigste literarische Auszeichnung der englischsprachigen Welt: Jenny Erpenbeck Foto: Wolfgang Schmidt/imago

Ich kenne ziemlich viele gute Autor*innen, die noch nie einen Preis erhielten. Jenny Erpenbeck erhielt in Deutschland bereits sehr viele. Dennoch jammern ihre ostdeutschen Un­terstüt­ze­r*in­nen und nun auch sie selbst und beklagen, sie habe noch nie einen der drei großen deutschen Buchpreise erhalten und das läge daran, dass in den Jurys keine Ostdeutschen säßen.

Was für ein Humbug! Saßen denn in der International-Booker-Jury Ostdeutsche? Und wer zeichnete Volker Braun, Durs Grünbein, Sarah Kirsch, Wolfgang Hilbig, Reinhard Jirgl, Elke Erb (alle Büchner-Preis), Uwe Tellkamp, Julia Franck, Eugen Ruge, Antje Ravik Strubel (Deutscher Buchpreis), Ingo Schulze und Clemens Meyer (Preis der Leipziger Buchmesse) oder Lutz Seiler aus, der gleich alle drei großen Preise erhielt?

Jenny Erpenbeck gilt mittlerweile weltweit als DDR- und Osterklärerin. Ist es zu erklären, dass in ihren Statements und Büchern nie jene vorkommen, die 1989/90 gewonnen haben, die befreit wurden, die endlich ankommen konnten? Bei ihr gibt es „1989“ als Freiheitsfest nicht. Sie glaubt nämlich: „Wir haben gegen uns selbst gewonnen, deshalb sieht die Freude darüber manchmal wie Hass aus.“

Tatsächlich haben „wir“ gegen „die“ gewonnen und es ist auch im Rückblick für so manche Ostdeutsche nicht einfach zu sagen, zu welcher Gruppe sie gehör(t)en – die meisten, in meiner Perspektive, waren „die“, jene also, die das System trugen, verteidigten oder einfach nur bis zuletzt erduldeten. Jenny Erpenbeck jedenfalls hat durch „1989“ verloren – etwa ihre Hoffnungen, ihre Utopien, ihr Warten auf das Bessere, wie sie 2014 Abiturientinnen erzählte.

Sehr kommunistische Herkunft

Jenny Erpenbeck kommt aus einer sehr kommunistischen Familie. Ihr Großvater Fritz Erpenbeck kam relativ spät mit 30 zur KPD (1927), wurde aber schnell als Journalist eine wichtige Größe im Propagandaapparat der Partei. Die Nazi-Diktatur überlebte er in der Sowjetunion und kam als Mitglied der berühmten „Gruppe Ulbricht“ 1945 zurück nach Deutschland. Er zählte zu den eifrigen Hardcore-Propagandisten des Regimes. In Berlin-Pankow ist immer noch eine Straße nach ihm benannt – warum auch immer.

Seine Ehefrau, Hedda Zinner hinterließ als Künstlerin und Funktionärin wenigstens ein Buch, anders als ihr Mann, das auch heute noch erwähnenswert ist: In der 1989 erschienen „Selbstbefragung“ schaut sie auf ihr Leben zurück und berichtet für DDR-Verhältnisse kritisch über die Exiljahre in der Sowjetunion. Insgesamt zählte jedoch sie wie ihr Mann zu dem großen kommunistischen Schweigekartell über die Jahre des Terrors in der Sowjetunion.

Ihr Sohn John Erpenbeck ist 1942 in der Sowjetunion, in Ufa, wohin die Kommunistische Internationale und das berühmte „Hotel Lux“ von Moskau aus evakuiert worden sind, geboren worden. Er wurde in der DDR nach einem Physikstudium ein leninistischer Philosoph, für den es trotz Mauer keine Reisebeschränkungen gab.

Als Schriftsteller trat er in die Fußstapfen seiner Eltern, seine Bücher waren beliebter und auch anspruchsvoller als die seiner Eltern. Einige Jahre war er mit Doris Kilias verheiratet, der Mutter von Jenny Erpenbeck. Sie war eine habilitierte Romanistin und übersetzte aus dem Arabischen.

Leben mit Privilegien

Jenny Erpenbeck, geboren 1967, wuchs nicht nur in dieser kommunistischen Parallelwelt mit allen möglichen Privilegien auf. Sie hatte sogar das Privileg, mit ihrer Mutter vor dem Mauerfall etwa ein Jahr lang in Italien leben zu können. Das sind Erfahrungen, die Perspektiven und Wahrnehmungen prägen. Das DDR-Gefängnis erscheint in einer solchen Perspektive wohlfühliger, annehmbarer.

Als sie den International Booker Prize erhielt, gab sie viele Interviews. In einem sagte sie der „Tagesschau“: „Und die, sage ich jetzt mal, falsche Sprache hat, glaube ich, auch einen Großteil dazu beigetragen, dass die DDR untergegangen ist, weil es einfach keinen wirklichen Austausch mehr gegeben hat.

Zwischen der Regierung und den Leuten hat es keinen wirklichen Dialog mehr gegeben. Das ist viel schlimmer, als man denkt. Die Wirtschaft war natürlich auch marode, aber auch diese Sprache hat die Idee des Aufbruchs, die es am Anfang gab, nach dem Krieg, wirklich ruiniert.“

Diese Sätze zeigen sehr gut, warum es nötig ist, auf den familiären Hintergrund von Erpenbeck hinzuweisen. Denn hier kommen gleich mehrere Mythen zum Tragen, die in diesem systemtragenden Milieu bis heute wiedergekäut werden: Die Idee des Aufbruchs am Anfang sei durch die Sprache ruiniert worden.

So erzählen die sich das und ignorieren, dass die kommunistische „Diktatur des Proletariats“ unter Führung der „Partei neuen Typus“ keine Verheißung auf Gerechtigkeit, Freiheit, Demokratie und Gleichheit darstellte, zu keinem Zeitpunkt, sondern immer eine unfreiheitliche und antidemokratische Herrschaftsform einer Minderheit über eine Mehrheit meinte.

Ein Land voller Mauern

Und natürlich hat auch nicht die Sprache das System „ruiniert“, sondern Terror, Gewalt, Unterdrückung, Militarisierung sowie die fehlende Einhaltung der Menschenrechte, alles gebündelt im Mauersystem, haben immer eine Mehrheit das nicht nur symbolisch eingezäunte Land – überall im Land stieß man auf Mauern, in jeder Schule, Bibliothek, Zeitung, Universität, LPG, auf jedem Arbeitsplatz – ablehnen lassen.

Jenny Erpenbeck ging schon vor Jahren noch einen Schritt weiter. In einem Gespräch mit dem Tagesspiegel beklagte sie Anfang 2019, Postkarten über den Osten würden immer nur die Mauer zeigen, aber nicht den Alltag. Ich weiß ja nicht, wo sie lebte (na ja, ich weiß es schon), aber in dem Ostberlin, in dem ich fast auf den Tag genauso lange lebte wie sie (nur bei mir gab es keine Westerholungsaufenthalte), war die Mauer ein Ding, das meinen Alltag bestimmte.

Und zwar nicht, weil ich weg wollte. Ich wuchs ja gar nicht so anders auf, auch ich wurde kommunistisch erzogen und geprägt. Und doch erinnere ich mich anders, denn die Mauer war täglicher Gesprächsgegenstand, Sehnsuchtsort, Hoffnungsort, Angstort, Todesort, der Ort, der nicht nur mir verwehrte, zu sprechen, zu lesen, zu hören, zu tun, was ich will, der mich Tag für Tag begrenzte, einschränkte, verwundete, wütend und hoffnungslos machte, sondern auch der Ort, der meinen Alltag wie kaum etwas anderes bestimmte – das wurde mir erst allmählich bewusst. Auch das hing mit der Mauer zusammen – der Mauer von alltäglicher Dummheit, Borniertheit, Gewalt, Ideologie, Hass.

Jenny Erpenbeck hat vielbeachtete Romane vorgelegt. Mir gefällt ihre „Schreibe“, ich lese sie nicht ungern. Aber bei mir blieb immer ein merkwürdiger Unterton hängen. In ihrem letzten Roman „Kairos“ gibt es irgendwie nur Ver­lie­re­r*in­nen (und einen schrecklich pervertierten Westen). Selbst der Auflösung des verhassten DDR-Rundfunks wird hier nachgejammert, als ginge mehr als ein Propagandaapparat verloren.

Der Osten als Sehnsuchtsort

Bezeichnend ist eine Passage über die Umbenennung der Dimitroffstraße 1990 in Danziger Straße im Prenzlauer Berg. Das war eine unmögliche Entscheidung – das wird auch in diesem Roman so angeprangert. Allerdings erfährt niemand in diesem Buch, warum nun Dimitroffstraße die bessere Bezeichnung gewesen sein soll. Dafür gibt es nämlich keine Argumente – Dimitroff war ein blutrünstiger Diktator Bulgariens.

Sein einbalsamierter Leichnam wurde 1990 aus dem Sofioter Mausoleum entnommen (und das Mausoleum 1999 gesprengt) – aber in Ostberlin soll weiter eine Straße nach ihm benannt werden? Das ist ein Geschichtsumgang, den Erpenbeck nicht nur als künstlerische Freiheit pflegt, sondern den sie auch in ihren Interviews und Reden verbreitet.

Bei ihr erscheint der Osten als Sehnsuchts- und Hoffnungsort, als Zukunftsverheißung, während der Westen als Gegenteil, als dumpf, hoffnungslos, oberflächlich, ganz und gar schrecklich vorkommt. Im Kontext der Ostdeutschlanddebatte bedient sie damit jene nostalgischen und antifreiheitlichen Gefühle, jene blödsinnige Ostdeutschtümelei, die historisch haltlos, politisch irrelevant sind, aber im Grunde einer Sehnsucht nach einem Gestern Platz geben, das auch durch die damit verbundenen Gefühle weder besser noch humaner wird: Mauer bleibt Mauer.

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