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Kli­ma­ak­ti­vis­t*in­nen für die EUWollen sie wirklich nach Brüssel?

Carola Rackete kandidiert für die Linken, auch die Letzte Generation will nach Brüssel. Den Abgeordnetenjob wollen nicht alle machen.

Im September saß Lina Johnsen noch auf der Straße. Ist sie bald im Parlament? Foto: dts/imago

Berlin taz | Spaß haben sie, die beiden. In einer Live-Schalte auf Instagram sieht man Nico Semsrott und Carola Rackete zusammen den Wahl-o-Maten für die anstehende Europawahl ausfüllen. Er aktuell Abgeordneter im EU-Parlament, sie Spitzenkandidatin für Die Linke. Er neben der Politik Kabarettist, sie Aktivistin für Klima und Menschenrechte.

Eine Gemeinsamkeit: Beide sind parteilos. „Wir machen einfach mal das, was Linke sonst nicht machen, und reden miteinander“, sagt das ehemalige Die Partei-Mitglied Semsrott noch.

Und was kommt nun raus beim Wahl-o-Mat? Mera25. Eine kleine Partei, die sich zugehörig fühlt zu Diem25, der Bewegung um den ehemaligen griechischen Finanzminister Yanis Varoufakis. Fünf Jahre ist es her, dass Bilder von Rackete um die Welt gingen, wie sie als entschlossene Kapitänin der Sea-Watch 3 Geflüchtete aus dem Mittelmeer rettete.

Als Naturschutzökologin engagierte sie sich für Klimagruppen wie Extinction Rebellion. Aber jetzt, als Spitzenkandidatin im EU-Wahlkampf, ist sie in ihrer Botschaft und Rolle plötzlich nicht ganz so klar wie sonst: Kann eine Spitzenkandidatin ein Video von sich ins Internet stellen, das zeigt, dass sie inhaltlich einer anderen Partei näher stehen würde?

Parteilos bei den Linken

Ja, erklärt die 36-Jährige im selben Video. Statt kleine Parteien zu wählen, solle man sich aus strategischen Gründen für eine größere Liste entscheiden. Was hängen bleibt: So richtig Die Linke ist Carola Rackete irgendwie nicht.

Rackete ist eine von mehreren Klimaaktivist*innen, die im Juni zur Europawahl antreten. Auch die Letzte Generation, die durch ihre Straßenblockaden berühmt geworden ist, will in das Parlament einziehen. Die Frage, ob es sinnvoll ist, als außerparlamentarische Protestgruppe umzuschwenken und in die Politik zu gehen, ist so alt wie Bewegungen und Parlamente.

„Die Möglichkeiten, die man auf der Straße hat, sind begrenzt. Das hat die Klimabewegung schmerzlich erlebt“, sagt Soziologe Simon Teune, Bewegungsforscher an der Freien Universität Berlin. „Irgendwann liegt es auf der Hand, nach anderen Wegen zu suchen und die Machtoptionen von Parlamenten auszutesten.“

Straßenproteste sind nicht ausgeschlossen

Das müsse nicht heißen, dass sich die Aktivitäten komplett von der Straße dorthin verschieben. Oft entwickle sich ein Zusammenspiel. „Das hat schon gut funktioniert, zum Beispiel bei der Anti-Atom-Bewegung“, meint Teune. „Der Atomausstieg selbst konnte nur über den Bundestag erreicht werden. Gleichzeitig haben die Leute auf der Straße die Grünen-Abgeordneten auf Trab gehalten.“

Eine ähnliche Strategie verfolgt Rackete, die eines der großen Gesichter einer neuen Linken sein soll: jung, bewegungsnah, öko-affin. „Die Linke befindet sich in einem Erneuerungsprozess, der für die Klimagerechtigkeitsbewegung anschlussfähig ist“, sagt die 36-Jährige. „Sie setzt den Fokus auf Umverteilung und soziale Gerechtigkeit in Verbindung mit den ökologischen Krisen.“ Der Schlüssel sei ein sozial gerechterer Umweltschutz.

Carola Rackete steht auf dem zweiten Listenplatz der Linken Foto: Sebastian Gollnow/dpa

Den will sie im Umwelt- und Agrarausschuss weiterentwickeln. Die Chancen für ihren Einzug stehen mit Listenplatz Zwei nicht schlecht, 2019 erhielten die Linken fünf Plätze. Warum in den Bürokratieapparat EU, wenn die Klimakrise drängt? Sie wisse selbst, dass das Parlament wenig Spielraum habe und auf Kommission und Rat reagiere – und trotzdem: Entscheidungen der EU müssten an die Klimabewegung weitergegeben werden, dafür will sie sorgen.

Auch Lina Johnsen gehört zur radikaleren Ecke der Klimabewegung, will ihr Ticket nach Europa jedoch anders nutzen. Als eine von zwei Spit­zen­kan­di­da­t*in­nen der Letzten Generation will die Studentin der interdisziplinären Umweltwissenschaften den politischen Alltag dort mit Protesten stören.

Keine Fünf-Prozent-Hürde

Anders als Rackete, die bei den Linken andockt, tritt die Letzte Generation als eine von vielen kleinen Listen an. Da es im Europaparlament keine Fünf-Prozent-Hürde gibt, ist es hier für sie einfacher, einen oder mehr Sitze zu erringen als etwa bei der Bundestagswahl.

„Leute warfen uns immer vor: Hört auf, auf der Straße zu kleben und geht in die Politik wenn ihr etwas verändern wollt“, sagt die 26-Jährige Vollzeitaktivistin. Genau dem nehmen wir uns jetzt unter anderem an, aber auf unserem eigenen Weg.“

Das EU-Parlament wäre eine neue Bühne für die Letzte Generation. Und so eine sucht sie, seit sie ihre viel beobachteten, aber äußerst unbeliebten Straßenblockaden aufgegeben hat. Proteste an Tagebauen und Blockaden von Privatjets brachten bisher nicht die gewünschte Aufmerksamkeit.

Nun also das EU-Parlament als Ort des Protests. Aber auch die im Wahlkampf mobilisierten Spenden und im Erfolgsfall eine Förderung aus dem EU-Haushalt können einer Gruppe, deren Mitglieder ständig wegen illegaler Aktionen vor Gericht stehen, nicht ungelegen kommen.

Die Ak­ti­vis­t*in­nen sind alarmiert

Die Hinwendung zum Parlamentarischen ging schnell. Die Letzte Generation gibt es schließlich erst seit 2021. Doch die Frustration ist rasch gewachsen. Während die globalen Emissionen weiter steigen, passiert das gleiche mit den Temperaturen.

Im Februar meldete das EU-Erdbeobachtungssystem Copernicus: Erstmals war die Erde zwölf Monate in Folge durchschnittlich um mehr als 1,5 Grad heißer, als es vor der Industrialisierung normal gewesen wäre – die gefürchtete Marke, zumindest temporär ist sie geknackt.

Bewegungsforscher Teune kann deshalb den schnellen Wandel der Bewegung nachvollziehen. „Beim Kampf um den Atomausstieg kam es nicht auf jeden Tag an, bei der Klimakrise drängt die Zeit“, so der Wissenschaftler.

So sieht das auch Johnsen: „Wir können keine Kompromisse machen, wenn es um unser physikalische Grenzen geht“. Für die Letzte Generation gehe es darum, jederzeit an die Krise zu erinnern. Falls sie selbst gewählt werde, sei sie für jegliche Art von friedlichem Protest im Parlament offen. Auch das Symbol der Gruppe, die orangefarbene Warnweste, werde sie in Strasburg und Brüssel tragen.

Erste Aktion in Brüssel

Konkrete Details zu Aktionen nennt die Spitzenkandidatin nicht. Man plane bis zur Wahl und noch nicht weiter. „Wie so vieles bei der Letzten Generation ist auch die EU-Wahl für uns sehr ambitioniert, etwas größenwahnsinnig und gar nicht so unrealistisch“, sagt sie.

Einen Probelauf gab es bereits. Mitte Mai protestierten Johnsen und ein paar Mit­strei­te­r*in­nen mit Aufschriften wie „Klima­krise“ und „Aussterben“ auf der Haut im Sitzungssaal – noch von der Zuschauer*innentribüne.

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8 Kommentare

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  • 'Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt!' Wer sich aber dagegen wehrt, von einer elitären Wahloligarchie beherrscht zu werden, der muss mit strafrechtlicher Verfolgung rechnen.

    Der breiten Mitte der Gesellschaft, reicht es, wenn der Staat ihren Wohlstand und ihre Sicherheit organisiert und sie überlässt ihre Mitbestimmungsrechte leichthin gewählten PolitikerInnen. Die, so Kanzleramtschef Schmidt, machen es den Parteien immer schwerer, mit differenzierteren Wahlentscheidungen umzugehen.

    Dass Menschen, die wirklich etwas ändern wollen, sich auch mal am 'Abgeordnetenjob’ versuchen, ist nicht neu und ebenso verständlich wie widersprüchlich: Sie wissen ja, dass sie als einzelne Abgeordnete nichts ändern können und schon mit ihrer Kandidatur ein im Kern undemokratisches System legitimieren. Die Erfahrung zeigt, dass man mit diesem Ansatz schnell scheitert, es sei den man passt sich an und dann macht man auch keinen Unterschied mehr.

    Aber, wie heißt es so schön: 'Die Hoffnung stirbt zuletzt'. Vielleicht findet ja mal eine Stimme für mehr Demokratie und Freiheit zur globalen Verantwortung mehr Widerhall bei WählerInnen, nachdem sie es in EU-Parlament geschafft hat.

  • Schöner Artikel,



    die Linken sind nun einmal überzeugender, wenn sie die internationale Solidarität und die Nachhaltigkeit mitbedenken. Dafür steht auch Rackete, deren Buch durchaus lesenswert war.



    Ob sie Politikerin werden kann oder will, ist dabei wohl wirklich offen. Manchen ist der Weg mehr oder weniger gelungen, hier hätte ich ein Fragezeichen.

    Und auch die Grünen müssen aufpassen, dass sie der Lage angemessen deutlich genug auf Ökologie setzen statt von den Springermedien geliebt werden wollen. Sonst würden sie durch andere ersetzt.

    • @Janix:

      *Und auch die Grünen müssen aufpassen, dass sie der Lage angemessen deutlich genug auf Ökologie setzen statt von den Springermedien geliebt werden wollen.*

      Die Grünen können machen was sie wollen, Ulf Poschardt - Chefredakteur von Springer-WELT - wird sie trotzdem 'niederschreiben'. Wenn die Grünen aber weiterhin ihre grünen Ideale an den Meistbietenden "verkaufen", dann braucht es gar keinen Ulf Poschardt mehr, denn dann werden sich die Grünen selbst demontiert haben.

      Ein Wahlplakat (Europawahl 2024) der Grünen lautet: "Klima schützen. Wirtschaft stärken."

      Wie soll Klimaschutz mit noch mehr klimaschädliches Wirtschaftswachstum eigentlich funktionieren? Um das zu verstehen, muss man wohl Politiker sein. Vielleicht sollten die Grünen lieber darüber nachdenken, weshalb viele Bürger die Grünen gewählt haben und wohin uns das klimaschädliche Wirtschaftswachstum schon gebracht hat. Wir brauchen ein umweltschonendes Wirtschaftssystem und keine weitere Ausbeutung von Mensch und Planet, nur weil Manager ihr Monopolyspiel weiterspielen möchten. Glauben die Grünen wirklich, dass sie mit so einer Politik eine Zukunft haben?

  • Warum genau sollte man Rackete wählen, wenn sie in Interviews sagt, dass sie keine Lust auf den Job hat? Sie tritt für die Linke an, kann sich mit deren Zielen aber nicht wirklich identifizieren. Klingt nicht wirklich überzeugend. Für die Linke hätte es sicher glaubwürdigere Kandidaten gegeben.

  • Hambühren.

  • Ich glaube, der parlamentarische Arm der Letzten Generation hat keine Aussicht auf Erfolg. Diese Gruppe ist, jenseits einer sehr lauten, aber auch sehr kleinen Minderheit, von denen noch dazu viele bereits politisch an andere Parteien gebunden sind, einfach zu unpopulär.

    Das Carola Rackete eigentlich die Linke gar nicht mal so toll findet, überrascht wenig. Hat sie ja auch nie behauptet, ist insofern nicht "ihr Problem". Für Die Linke ist es allerdings ein Armutszeugnis und wird aus meiner Sicht eher niemanden von der Partei überzeugen - mich als langjähriges Parteimitglied hat diese Kandidatur sogar davon überzeugt, meine Stimme bei einer Wahl erstmalig nicht der Linken zu geben.

  • Dieses Mal haben bei der Europawahl auch kleine Parteien eine Chance, da diesmal keine Sperrklausel gilt, weder 5 % noch 3 % ;-)

    • @stadtlandmensch:

      Ja, aber die Mindestprozentzahl für eins der Mandate muss trotzdem zusammenkommen. Die ist rasch abgeschätzt, jede Partei kommt da auch nicht rein.