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Auto­blockade: Der Verkehr rollt nicht mehr, er läuft Foto: Felix Adler

Verkehrswende in StädtenDie Poller-Politik

In Leipzig sollen „Superblocks“ für weniger Autoverkehr und Platz für Begegnungen sorgen. Doch manche An­woh­ne­r:innen­ fühlen sich davon überfahren.

A riane Jedlitschka steht mitten auf der Straße zwischen Wohnblocks aus malerischen Altbauten. Vor ihr zehn diagonal aufgereihte Poller auf einer Kreuzung. Hinter ihr, „die umkämpftesten 60 Meter in Leipzig“, sagt sie: das Superblock-Pilotprojekt im Osten der Stadt.

Es ist ein lauwarmer Freitag Ende April und Jedlitschka präsentiert bei einer kleinen Konferenz den Verkehrsversuch vor Ort. Ein bronzefarbener SUV rauscht hinter ihr um die Kurve, er drosselt sein Tempo fürs Abbiegen kaum. Ein Radfahrer schlängelt sich durch die Poller.

Das Superblock-Projekt gibt es hier seit gut einem Jahr. Jedlitschka und ihr Verein, „Superblocks Leipzig“, haben es angeleiert und sich mit der Stadt zusammengetan. Der Autoverkehr, vor allem der Durchgangsverkehr durch das Wohngebiet, soll reduziert werden. Menschen sollen aber mobil und das Viertel zugänglich bleiben, deshalb herrscht keine vollständige Autofreiheit.

Trotzdem gibt es dagegen in Leipzig lauten Widerstand. Eine Petition fordert, das Projekt zu stoppen, Gewerbetreibende sorgen sich um Ladezonen und Parkflächen, An­woh­ne­r:in­nen fühlen sich übergangen. Am Vorabend hat eine deutliche Mehrheit im Stadtrat beschlossen, das Projekt schrittweise von den 60 Metern auf das ganze Wohnquartier auszuweiten, die Menschen im Viertel sollen sich daran beteiligen können.

Der Verkehr ist das Sorgenkind beim Klimaschutz

Emissionen im Verkehr

Im Verkehrssektor entstanden 2023 146 Millionen Tonnen CO2 und andere klimaschädliche Treibhausgase. Das entspricht laut Umweltbundesamt (UBA) 22 Prozent des Gesamtausstoßes in Deutschland. Das Klimaschutzgesetz erlaubte nur 133 Millionen Tonnen. Die bisher beschlossenen Maßnahmen reichen auch in Zukunft nicht: 2030 würden noch 29 Millionen Tonnen zu viel CO2 ausgestoßen.

Nötige Maßnahmen

Ein Tempolimit von 120 Stundenkilometern auf Autobahnen, 80 auf Landstraßen und 30 innerorts hat laut UBA das größte Potential, den CO2-Ausstoß zu senken. Bis 2030 könnten so 38 Millionen Tonnen eingespart werden, die Maßnahme würde aber schon kurzfristig wirken und Abgase reduzieren. Außerdem empfiehlt das UBA eine Reform der Kfz-Steuer, um den Kauf neuer Verbrenner unattraktiv zu machen. Und: den Abschied vom Dienstwagen- und Dieselprivileg. Dies würde vor allem langfristig wirken, bis 2030 aber auch zu einer Reduktion der Treibhausgase um weitere 65 Millionen Tonnen beitragen.

Ausstoß der Städte

Städte mit mehr als 50.000 Einwohner:innen sind laut Agora Verkehrswende für rund 20 Prozent der verkehrsbedingten CO2-Emissionen verantwortlich. Mit 5 bis 20 Prozent weniger Autoverkehr dort, ließen sich 2030 bis zu 3,5 Millionen Tonnen CO2 und andere Treibhausgase einsparen. Förderung von Nahverkehr, weniger öffentliche Parkplätze und ein Tempolimit könnten helfen. Allein durch die Stärkung von Rad- und Fußverkehr, ÖPNV und Carsharing könnten es bis 2030 rund 9 Millionen Tonnen CO2 weniger werden. (nbn)

Vorbild Barcelona

Die Idee der Superblocks kommt aus Barcelona. Viel Verkehr, dichte Besiedlung, wenig Grün, dreckige Luft, hohe Lärmbelastung: Damit kämpft die katalanische Großstadt schon seit Jahrzehnten. Mitte der 2010er Jahre sah sich die Stadtverwaltung gezwungen zu handeln und organisierte den Autoverkehr in Wohnvierteln um.

Weite Teile Barcelonas bestehen aus quadratischen Häuserblocks. Für einen Superblock, Katalanisch Superilla, werden dort drei mal drei dieser Häuserblocks zusammengefasst. Die Hauptstraßen um den Superblock herum werden wie vorher befahren. Innerhalb des Blocks führen Diagonalsperren an Kreuzungen, Einbahnstraßen und Tempolimits dazu, dass Autos nicht mehr mit voller Geschwindigkeit geradeaus durch das Wohngebiet abkürzen können. Fuß­gän­ge­r:in­nen und Radfahrende haben Vorrang.

Stadtgestalter:innen: Jörg Reichert, Ariane Jedlitschka, Cornelia Bischoff und Lukas Refle kämpfen für weniger Autoverkehr Foto: Felix Adler

Zweispurige Straßen werden einspurig, auf der äußeren Spur wird Platz gemacht für Parkbänke zum Kaffeetrinken, für Hochbeete und Bäume. Der erste Superblock entstand 2017 im Stadtviertel Poblenou. Anfangs war der Widerstand groß – auch hier vor allem in den Reihen der Gewerbetreibenden. Das befürchtete Geschäftssterben blieb jedoch aus.

Nach Barcelonas Vorbild haben sich deutschlandweit Initiativen für ähnliche Projekte gegründet. In Berlin gibt es zum Beispiel Kiezblocks, in Darmstadt sogenannte Heinerblocks, in Wuppertal und Stuttgart setzen sich Menschen für einen Superblock ein. Die Idee: Autoverkehr verringern, Lärm und CO2-Emissionen in der Stadt senken, Hitze bekämpfen, Platz für Pflanzen und An­woh­ne­r:in­nen schaffen. Letztlich auch: die Klimakrise angehen.

Ziel: weniger Autos

„Ein Superblock ist die Verkehrswende im Kleinen“, sagt Hans Hagedorn. Der Stadtplaner ist für Changing Cities aktiv – eine Organisation, die sich für einen Verkehrswandel stark macht, der klima- und menschenfreundlich ist. Changing Cities hat dafür 2023 Richtlinien erarbeitet, an denen sich Städte orientieren können, wenn sie einen Superblock wollen. Hagedorn hat sie maßgeblich mitverfasst.

In schwarzer Jacke und schwarzer Hose sitzt er auf einer Parkbank, nur ein paar hundert Meter entfernt vom 60 Meter langen Verkehrsversuch in Leipzig. Die Ak­ti­vis­t:in­nen um Ariane Jedlitschka haben ihn zum Netzwerken eingeladen. „Superblocks sind zwar nicht komplett autofrei“, erklärt er, das rechte Bein über das linke geschlagen.

Wenn Pkw aber nur noch langsam und schleifenförmig durch Wohngebiete fahren, werde der Verkehr nicht nur verlagert. Die Menschen in der Stadt würden nach einer Weile doch lieber ein anderes Verkehrsmittel nehmen, um an ihr Ziel zu kommen. „Dadurch wird in absoluten Zahlen weniger Auto gefahren.“

Das Pilotprojekt in Leipzig liegt in der Hildegardstraße, die direkt die bekannte Eisenbahnstraße im Osten der Stadt kreuzt. Vor etwa einem Jahr malte der Verein dort mitten auf den Asphalt drei bunte Kreise: anderthalb Meter Radius, einer rosa, einer grün, einer gelb. Darauf landeten runde Sitzbänke in den gleichen Farben, mit Blumenkübeln in der Mitte und einem bunten Lampenschirm obendrüber. Spielstraßenschilder sollen die Autos bremsen, damit Nach­ba­r:in­nen zusammenkommen können. So die Idee.

Ein Superblock ist die Verkehrswende im Kleinen

Hans Hagedorn, Stadtplaner

Die Kaffee auf der gelben Bank

Aber wie kommt das an? An diesem Freitag Ende April erwidert ein Mann mit einem Fahrradanhänger die Frage mit einem nervösen Lächeln. Er wohnt in einem der sechs Häuser, die direkt im Superblock-Pilotprojekt liegen und schließt die Tür auf. Das Projekt, sagt er, sei „eine gute Idee, weniger Autos ist ruhiger und sicherer für die Kinder.“

Während er seinen Anhänger die Treppe zum Haus hochzieht, erzählt er, dass er sich auch hin und wieder auf die Bänke setze. Nur abends, da werde es jetzt lauter, weil mehr Menschen auf den Straßenmöbeln Alkohol trinken. Er verzieht das Gesicht. Trotzdem: Das Projekt könne man auch in anderen Straßen machen. Der Klimawandel sei ein großes Problem. Das könne er auf Deutsch aber nicht so gut erklären, entschuldigt er sich lächelnd und zieht den Anhänger die letzte Stufe hoch ins Haus.

Etwas weiter trinken zwei Frauen Kaffee auf der gelben Bank. Die Farbe ist nach einem Jahr deutlich ausgeblichen. Wie ihnen der Superblock gefällt? Eine antwortet prompt. Sie sei Bühnen- und Kostümbildnerin, ihr Atelier liege direkt um die Ecke. „Ich find’s scheiße!“

Die Bühnenbildnerin versichert: „Klar ist die Verkehrswende wichtig.“ Aber sie befürchte zum einen, dass die Mieten steigen, wenn das Viertel durch einen Superblock aufgewertet werde. Und zum anderen, dass sie ihr Material nicht länger zum Atelier liefern könne. „Am Ende wohnen nur noch Leute hier, die sich eine Alternative zum Auto leisten können.“ Während sie spricht, fährt ein weiterer, weißer SUV dicht und zügig an der gelben Bank vorbei.

Entlastung für die Entlastungsstraße

Wie genau und warum lenkt die Stadt Leipzig hier den Verkehr? Der Superblock-Abschnitt auf der Hildegardstraße grenzt im Norden an die Ludwigstraße und südlich an die Eisenbahnstraße. Letztere ist eine der Hauptverkehrsadern in Leipzigs Osten, mit Tramschienen in beide Richtungen, Radwegen und jeder Menge Ampeln. Die Ludwigstraße zieht sich parallel dazu direkt durch das Wohnquartier, etwas enger, aber ohne Tram, ohne Ampeln.

Wenn es Stau auf der Eisenbahnstraße gab, kürzten einige Au­to­fah­re­r:in­nen über die Ludwigstraße ab. Das verhindert jetzt der Superblock: Vor einem Jahr, zur gleichen Zeit wie die Sitzbänke, hat die Stadt die zehn weiß-roten Poller installiert. Sie verlaufen auf der Kreuzung am Ende der Hildegardstraße einmal diagonal über die Ludwigstraße. Das stoppt die Autos – aber Fahrräder und Fuß­gän­ge­r:in­nen kommen weiter durch.

Am anderen Ende des Superblocks röhrt am Freitag die Tram auf der Eisenbahnstraße vorbei. Von dort biegen immer wieder Autos in die Hildegardstraße, fahren an den Superblock-Bänken vorbei, bleiben vor den Pollern stehen. Sie könnten jetzt noch nach rechts abbiegen. Aber sie wenden und rollen den Weg zurück, den sie gekommen sind. Die meisten sind dabei deutlich schneller als die sieben Stundenkilometer, die in der Spielstraße erlaubt sind.

Sitzbank statt Parkplatz. Manche fühlen sich davon provoziert. Szene in der Leipziger Hildegard­straße Foto: Felix Adler

Auf dem Gehweg läuft derweil eine weitere Frau entlang und beäugt die bunten Bänke auf der Straße. Sie arbeite in der Nähe und kritisiert: Bei der Entscheidung über das Pilotprojekt seien An­woh­ne­r:in­nen und Gewerbetreibende nicht einbezogen worden. Ihren Namen wolle sie nicht sagen. Die Stimmung sei zu aufgeheizt.

Immobilien, Kunst und Stadtentwicklung

Etwa 500 Meter weiter steht Ariane Jedlitschka draußen unter hohen Bäumen, gegenüber einer Schule. Ab und an bahnen sich Sonnenstrahlen den Weg durch die dünne Wolkendecke. Jedlitschka trägt ein Stirnband, trotz der Temperaturen, einen türkisfarbenen Baumwollmantel und einen Rucksack, dunkelorange und funktionell. An einem ihrer Ohrläppchen hängt ein knallgelber, mondsichelförmiger Ohrring. „Eigentlich ist das Viertel ruhig“, sagt die 45-Jährige. „Aber der Pendlerverkehr morgens und abends ist enorm.“

2015 ist sie mit Mann und drei Kindern in die Hildegardstraße gezogen – also dorthin, wo es jetzt verkehrsberuhigt ist. Sie hat Immobilienwirtschaft studiert. Heute organisiert sie Kunstprojekte und ist in mehreren Vereinen für kulturelle Bildung aktiv. Seit sie in dem Quartier wohnt, engagiere sie sich für die Entwicklung des Stadtteils und die Einbindung der Anwohner:innen, sagt sie.

2021 haben sie und ihr Mann den Verein „Superblocks Leipzig“ mitgegründet. Inzwischen hat der Verein zehn feste Mitglieder. Von Oktober 2021 bis April 2024 förderte eine Initiative des Bundesbauministeriums den „Superblocks Leipzig“ und das Pilotprojekt.

„Die ganze Kreuzung war mit Autos vollgeparkt“, erzählt Jedlitschka. „Die Straßen sind nicht so breit, aber man konnte sie trotzdem nicht sicher überqueren.“ Vor allem Kinder hätten Mühe, zwischen den großen parkenden Wagen den Verkehr zu überblicken.

Lieferverkehr frei

Warum ein Verein für Superblocks – und nicht etwa für Zebrastreifen, Bodenwellen oder Einbahnstraßen? Nach der Coronapandemie sei das Konzept der Superblocks in aller Munde gewesen. Man könne es vergleichsweise einfach umsetzen „und von da aus weiterdenken“, sagt Jedlitschka und deutet mit den Armen eine Bewegung nach vorne an.

Weiterdenken, das heißt für die Künstlerin, dass der Superblock mehr sein kann als Verkehrsplanung. Sie wolle das Viertel mitgestalten. Auf der Straße sollen Menschen zusammenkommen, da soll ein Kulturraum, ein gutes Leben entstehen, da soll die Gesellschaft krisenfest werden.

Und weiterdenken, das bedeutet auch: Der Superblock hier in Leipzig wird tatsächlich ausgeweitet. So hat es der Stadtrat am Vorabend überraschend eindeutig beschlossen, mit Stimmen von Grünen, Linken, SPD und Freibeutern. „Hier sollen Poller stehen“, sagt Jedlitschka, auf Zehenspitzen, und zeigt auf eine Straßenecke. „Und hier“, direkt neben der Liefereinfahrt der Schule. Lieferfahrzeuge hätten so immer noch freie Fahrt. In den Händen hält sie einen Plan des Viertels, der zeigt, wie es in ein paar Jahren aussehen soll.

Zuerst sollen die Durchgangssperren vor der Schule aufgestellt werden, später dann an voraussichtlich sieben weiteren Kreuzungen. Der nächste Schritt ist eine Fahrradstraße, parallel zur Eisenbahnstraße auf der Ludwigstraße. Danach könnten noch mehr Spielstraßen kommen, genau wie in der Hildegardstraße mit bunten, runden Sitzbänken und Hochbeeten.

Sie haben einen Plan für den Kiez: Aktivistinnen schauen, wo die Superplocks sinnvoll sind Foto: Felix Adler

Sind alle gefragt worden?

Und: Vor allem für Lieferfahrzeuge und Pflegedienste sollen Kurzzeitparkplätze und Ladezonen entstehen. Im Verkehrskonzept, über das der Stadtrat entschieden hat, ist die Rede von 280 bis 320 Stellplätzen, die innerhalb der nächsten Jahre „umgewidmet“ werden könnten. Sicher ist bisher nur: Mit den Pollern vor der Schule fallen erst mal neun Parkplätze weg. Neue Carsharing-Parkplätze sollen Abhilfe schaffen. Bis Ende 2024 will die Stadt die An­woh­ne­r:in­nen weiter beteiligen und so schrittweise ausloten, wie das Konzept tatsächlich Realität werden kann.

Bisher steht die Beteiligung stark in der Kritik. „Die Menschen und Unternehmen, die dort leben oder arbeiten, die wurden zum Teil entweder ganz spät oder überhaupt nicht involviert“, sagt Falk Dossin, CDU-Stadtrat. Der Verein hatte zwar etwa kleine Kundgebungen in der Hildegardstraße angemeldet, mit denen er die An­woh­ne­r:in­nen über das Projekt informieren wollte. Das wisse Dossin. Doch die hätten sich größtenteils an die eigene Blase gerichtet, bemängelt er, die meisten An­woh­ne­r:in­nen habe das nicht erreicht.

Der langfristige Superblock soll nördlich der Eisenbahnstraße entstehen, die sich durch die Stadtteile Neustadt-Neuschönefeld und Volkmarsdorf zieht. In den vergangenen 20 Jahren hat sich deren Ein­woh­ne­r:in­nen­zahl verdoppelt, mittlerweile wohnen mehr als 28.000 Menschen dort. Trotzdem gibt es noch viel Leerstand. Die Mieten sind günstig, das Durchschnittsalter ist am niedrigsten und der Migrationsanteil mit am höchsten im Leipziger Vergleich.

Das führt auch zu einer Stigmatisierung der Gegend. In hochgejazzten Reportagen berichteten ARD, Pro7 und Focus-TV über Kriminalität: Drogen, Schlägereien, Schießereien. Im Alltag prägen die Viertel aber eher belebte Gassen, verschiedene Geschäfte, Restaurants, Cafés, Bars, Spätis.

Beide Welten haben sich mittlerweile so angefeindet, dass es schwer ist, einen Kompromiss zu finden

Falk Dossin, CDU-Stadtrat

Und das Gebiet, das künftig Superblock werden soll, ist eben vor allem eine Wohngegend. Dossin berichtet, er habe von An­woh­ne­r:in­nen gehört, der Superblock bringe Krach und Müll. Bei ihm habe es Beschwerden über Ruhestörungen gegeben und er habe Fotos gesehen „von Bierflaschen, die rumlagen und auch Spritzen“.

Dossin sagt, er finde politisches Engagement grundsätzlich gut. Aber die Stadt habe das Pilotprojekt zu schnell ausgeweitet und sei dabei intransparent gewesen. „Wie viele Parkplätze bis zum fünften Schritt genau entfallen, steht nirgendwo. Das wurde immer nur weggeschwiegen“, klagt er. Die Verkehrsberuhigung sei zwar da, aber auf Kosten der Anwohner:innen, die ihre Autos bräuchten, um zur Arbeit zu pendeln oder den Einkauf für die Familie zu erledigen.

Gewerbetreibende in der Gegend haben auch die IHK und die Handwerkskammer zu Leipzig gegen den Superblock mobilisiert. Auf Nachfrage der taz versichert die IHK, eine Transformation des Verkehrs sei notwendig, „sollen die ambitionierten Klimaziele erreicht werden“. Das heiße allerdings auch, „weiterhin einen reibungslosen Wirtschaftsverkehr“ zu gewährleisten.

Der Stadtrat hat Kritik in den Beschluss des Superblocks aufgenommen. Doch es gibt Anwohner:innen, die sich trotzdem vollkommen übergangen fühlen. Denn: Der Superblock kommt, das steht fest.

Zweifel an der Demokratie

Ein Gewerbetreibender, mit dem die taz sprechen wollte, klingt erschöpft. Es sei zu spät, er wolle sich nicht mehr äußern. Eine Anwohnerin sprach zwar mehrere Stunden mit der taz. Doch sie will nicht, dass daraus zitiert wird: Die taz verstehe sie nicht und setze die Kritik nicht genug in den Fokus.

Das Gefühl, nicht mitbestimmen zu können, ist in Sachsen verbreitet. Laut dem Else Frenkel Brunswik Institut der Uni Leipzig halten es 65 Prozent der Menschen in Sachsen für sinnlos, sich politisch zu engagieren. Eine wachsende Mehrheit ist laut dem Sachsen Monitor 2023 unzufrieden damit, wie die Demokratie in Deutschland funktioniert.

Studien zeigen zudem: Mit Einkommen und dem Bildungsabschluss steigt die Demokratiezufriedenheit. Das könnte etwa daran liegen: Wer die Strukturen besser kennt und nicht tagtäglich seinen Lebensunterhalt verdienen muss, kann sich einfacher beteiligen.

In Leipzig behaupten Be­für­wor­te­r:in­nen und Geg­ne­r:in­nen des Superblocks jeweils, die Mehrheit in den betroffenen Stadtteilen auf ihrer Seite zu haben. Es gibt zwar mehrere Petitionen, aber keine valide Befragung. Sie werfen sich außerdem gegenseitig vor, mit Unwahrheiten zu argumentieren. Auch, dass vor allem Weiße den Verein prägen, spielt in der Kritik immer wieder eine Rolle.

Nicht alle kriegen, was sie wollen

Dossin sagt, „beide Welten sind so fern voneinander und haben sich mittlerweile so angefeindet, dass es auch schwer ist, irgendwie einen Kompromiss zu finden“.

Doch auch die CDU nutzt nun den Superblock im Wahlkampf um den Stadtrat. Am 9. Juni geben die Leip­zi­ge­r:in­nen dafür ihre Stimmen ab. Auf CDU-Plakaten steht: „Wir stoppen den Superblock!“ Dabei weist der Verein darauf hin, er habe alle Parteien, auch die Konservativen, vor zwei Jahren zu Beginn des Projekts um Mitwirkung gebeten.

Bisher zeigte vor allem „Superblocks Leipzig“ Gesicht für das Projekt. „Es wurde eingefordert, dass wir uns als Stadt deutlich stärker positionieren“, sagt Thomas Dienberg, Leipziger Bürgermeister für Stadtentwicklung und Bau. „Zu Recht.“

Die Beteiligung aber werde zu Unrecht kritisiert, meint er. Der Verein Superblocks Leipzig habe immer wieder Veranstaltungen organisiert, um die Leute vor Ort einzubinden – auch direkt auf der Straße. Flyer, mit denen Infos über das Projekt verbreitet werden sollten, habe die Stadt in mehreren Sprachen verteilt.

Die Geg­ne­r:in­nen hätten beklagt, dass der Superblock auf undemokratische Weise entstanden sei. „Aber Beteiligungen sind ein Aushandlungsprozess“, sagt der Grüne Dienberg. „Das kann am Ende bedeuten, dass nicht alle Belange komplett zu 100 Prozent, sondern eben nur zum Teil in die Planung eingehen.“

Scheindiskussion?

Die Diskussion um Parkplätze nennt der studierte Raumplaner eine „Scheindiskussion“: In dem Gebiet seien pro 1.000 Haushalten nur 160 Autos gemeldet. Aktuell gebe es 1.800 Parkplätze. Auch Dienberg betont, dass es beim Superblock um mehrere Dinge geht: darum, die Lebensqualität im Wohngebiet zu erhöhen, den Verkehr sicherer zu machen und das Klima zu schützen.

Bei den Veranstaltungen, die der Verein „Superblocks Leipzig“ in der Nachbarschaft organisiert hat, spielte der Klimaschutz keine große Rolle. Die CO2-Emissionen im Verkehrssektor sind aber besonders hoch. Das habe man im Hinterkopf, sagt ein Vereinskollege von Ariane Jedlitschka. Klima sei aber „noch so ein Reizthema“, der Konflikt sei sowieso schon so scharf.

„Superblocks Leipzig“ hat sich dazu verpflichtet, den Verkehrsversuch in der Hildegardstraße auszuwerten. Das Helmholtz Zentrum für Umweltforschung hat an verschiedenen Tagen Messungen gemacht und geprüft, wie sich die Durchgangssperre auf Luftschadstoffe, Lärm und Hitze auswirkt.

Die Messdaten sind noch nicht öffentlich, die For­sche­r:in­nen verweisen auf das Vorbild Barcelona. Laut einem Papier des Umweltbundesamtes aus dem Jahr 2021 ist die Stickstoffdioxidlast in der Luft im Bezirk Eixample um 33 Prozent gesunken. Im Bezirk Gracia gab es durchschnittlich 5 Dezibel weniger Lärm, in Poblenou „so gut wie keine Verkehrsunfälle mehr“.

Mit der Zeit überzeugt?

Gleichzeitig stieg im Superblock in Poblenou die Anzahl der Einzelhandels- und Gastronomiebetriebe innerhalb von zwei Jahren um 30 Prozent. Bis 2030 will Barcelonas Stadtrat privaten Auto- und Mopedverkehr um 21 Prozent reduzieren und die CO2-Emissionen pro Kopf verglichen mit 2005 um 40 Prozent drücken – unter anderem mit weiteren Superilles.

Durch die verkehrsberuhigte Zone in Leipzigs Osten schiebt sich ein dunkelblauer Mercedes-Sprinter. Er parkt mühelos zwischen zwei Pflanzenkübeln ein. Die bunten Bänke auf der anderen Straßenseite sind besetzt. Hans Hagedorn von Changing Cities erklärt: Auch in anderen Städten, in denen Kiez- oder Superblöcke entstanden sind, gebe es Protest von Anwohner:innen.

Oder von konservativen Politiker:innen, sagt er, die Hände verschränkt auf den Knien. Für die Städte könne es sich lohnen, diese Konflikte durchzustehen. Oft überzeuge der Superblock die Kri­ti­ke­r:in­nen vor Ort nach einer Weile dann doch.

Hagedorn steht auf, um sich weiter mit den Leipziger Ak­ti­vis­t:in­nen auszutauschen. Dann fällt ihm noch ein: „Superblöcke werden zwar im Kleinen umgesetzt.“ Bür­ge­r:in­nen könnten in ihren Wohngebieten aber merken, dass sie mit weniger Autoverkehr gut klar kommen. „Dann sind sie auch aufgeschlossener für große Hebel in der Verkehrswende, zum Beispiel für ein Tempolimit.“

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16 Kommentare

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  • @RUDOLF FISSNER

    es ist in der Städteplanung seit mindestens vier Jahrzehnten bekannt, dass zu den Pull- eben leider auch Push-Faktoren gehören.

    Der Leipziger Ansatz ist hier ausgewogen und gut.

    • @tomás zerolo:

      "...dass zu den Pull- eben leider auch Push-Faktoren gehören."

      Schön, dass Sie meiner Kritik zustimmen und es auch nicht für richtig empfinden, dass Pushen (Autofahrer rausdrängen) nicht ohne Pullen (in punkto Frequenz und Tempo Alternativen anbieten) nicht geht.

      Den auch für Sie gleichzeitig mit notwendigen Ausbaus des ÖPNV hat aber weder der Artikel noch ihre kurze Lobhudelei aufzeigen können.

      Was hat sich für Pendler nach oder aus Leipzig verbessert. Etwa die Pünktlichkeit der Deutschen Bahn? 😂

  • In meiner Geburtsstadt läuft es ähnlich. Die Bürgerbeteiligung bei derartigen Verkehrsprojekten ist (gelinde gesagt) ein Witz. Valide Umfragen bezüglich Zustimmung/Ablehnung gibt es nicht (Abstimmungen darüber schon gar nicht). Beteiligt werden allenfalls Initiativen wie "Radentscheid", die (dem hochtrabenden Namen zum Trotz) formal überhaupt nichts zu entscheiden haben. Den Betroffenen wird dann das, was längst beschlossen ist, auf ein paar Infoveranstaltungen vorgestellt und danach durchgezogen, sofern niemand klagt und Gerichte es nicht stoppen (was auch immer wieder mal vorkommt).

    Das final Absurde dabei ist allerdings, dass viele dieser Maßnahmen Vorrang haben vor z. B. der Sanierung und/oder dem "Ertüchtigen" bestehender (und gut genutzter) Rad- und Fußwege. Warum? Weil es primär darum geht, den Raum des MIV (Fahrspuren, Parkplätze) weiter einzuschränken. Und wenn dann nach Fertigstellung einer solchen Maßnahme immer noch nur sechs statt zuvor drei Radfahrende pro Stunde die neue Strecke nutzen (weil es an dieser Strecke viel zu wenige Nahziele gibt, zu denen Menschen mit dem Rad fahren würden), dann wird das trotzdem stolz als hundertprozentige Steigerung verkauft.

    Ohne echte(!) Bürgerbeteiligung tragen solche Maßnahmen nur zur weiteren Spaltung der Gesellschaft bei.

  • Vielleicht zwei Dinge.

    1. Das Abstellen des Autos muss Geld kosten. Viel Geld, dann werden es weniger Autos. In Kopenhagen hat das funktioniert.



    In dieser Stadt wird Fahrrad gefahren. Dafür wurde aber auch die Stadt umgebaut. Es funktioniert. In Kopenhagen wird sogar zu 95% ohne Hilfsmotor gefahren.

    2. Luxus muss deutlich höher besteuert werden. Das Auto ist für viele Menschen ein Statussymbol. Masse und Leistung sind Daten, an denen sich eine Besteuerung bemessen ließe. Dann wird das auch weniger mit den Show-Fahrten. Oder der Staat bekommt mehr Einnahmen für die Förderung von Wohnungsbaugenossenschaften.

  • Kaum etwas spaltet so sehr, wie die Verwendung privater Autos in Städten.

    ..was im Übrigen in der Natur der Sache liegt, denn damit einher gehen zwei sehr unterschiedliche Realitäten.

    So ist die Wahrnehmung von Fußgängerinnen und Radfahrerinnen direkt an den Gegebenheiten ausgerichtet: man bewegt sich aus eigener Kraft, sieht, hört und riecht was um einen herum los ist.. Bewegt man sich hingegen im geschlossenen Setting eines Autos, nimmt man davon nur noch einen sehr begrenzten Teil wahr - man befindet sich in einer Blase, die nur noch eingeschränkt mit der unmittelbaren Realität zu tun hat. Gleichzeitig identifiziert man sich mit der Ausdehnung, der Masse und der Leistung des Fahrzeugs, das man kontrolliert. Und das ist ein Problem, denn wer nur mehr diese Seite der Realität kennt (oder über alles andere erhebt), wird dazu neigen, seine/ihre Sichtweise trotz eingeschränkter Einsicht für die mächtigere und überlegene zu halten. Was zu einer ganzen Reihe systematischer Fehleinschätzungen führt. Um nur ein Beispiel zu nennen: egal wo geplant ist Stadtviertel von zu viel Autos zu befreien, kommt garantiert.! das Argument, dann kämen weniger Kunden zu den Geschäften.. Nun die Erfahrungen, nicht nur aus Barcelona, zeigen das genaue Gegenteil. Denn wenn weniger Autos unterwegs sind, steigt die Attraktivität des Viertels insgesamt -> es kommen mehr Menschen und die Umsätze steigen. Die eingeschränkte Sicht aus dem Auto heraus, suggeriert aber das ein Geschäftesterben eintreten müßte...

    Dies ist aus psychologischer Sicht das größte Problem für eine Verkehrswende, die letztlich allen nützt.

    Dies sollten alle, die bei diesem Thema mitargumentieren berücksichtigen und nach Möglichkeit regelmäßig die Perspektive wechseln..

    • @Wunderwelt:

      Es kommt sicher vor, dass Menschen, die Autos besitzen, sich selten oder gar nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln fortbewegen. Aber zu Fuß gehen auch sie immer wieder. Und viele von ihnen legen sogar regelmäßig Wege auf Fahrrädern zurück. Sie kennen somit keineswegs nur eine Seite der Realität. Sie beschränken sich allerdings auf individuelle Fortbewegung.

    • @Wunderwelt:

      Wichtig ist nicht nur ein Perspektivwechsel bei den normalos die meisten sind auch Mal Fußgänger:in.

      Wichtig ist vor allem eine vernünftige Planung des ÖPNV und die komplette Umstellung der Infrastruktur auf diesen + Rad /fußwege.

      Der Perspektivwechsel muss also in der Stadtplanung stattfinden.

      Eigene Bus und Tramlinien zum Beispiel, dann stehen nur die PKWs im Stau und auch Feuerwehr/polizei/Rettungsdienst kommen besser durch.

  • Welche Verkehrswende soll da in Leipzig stattgefunden haben? Es wurde von keinen einzigen neuen Bus, neuer Straßenbahn, einer höheren Taktung oder sonstigen Investitionen in Alternativen berichten. Die wenigsten Menschen haben zum Spaß ein Auto. So wird Mobilität nicht transformiert, so wird Mobilität nur erschwert. Das kann nur Ärger geben.

    • @Rudolf Fissner:

      Mag sein, daß viele Menschen sich aus Notwendigkeit ein Auto zulegen. Aber oft spielt auch eine große Portion Bequemlichkeit eine Rolle. Der ÖPNV muß im beschriebenen Viertel auch nicht durchfahren, da es z. B. auf der Eisenbahnstraße genügend Anbindungen gibt.

      • @S.R.:

        Leipzig hat 103.000 En- und 73.000 Auspendler.

        Eine Fahrt in das Umland von Leipzig dauert doppelt so lange wie mit dem Auto. Das können locker mal 1-2 Stunden die man täglich zusätzlich unterwegs ist. Auch von oder zur Eisenbahnstraße.

        Diesen Verlust an Lebenszeit kann man nicht mit Bequemlichkeit von Autofahren abtun.

        Eine Verkehrswende wird nicht funktionieren, wenn nicht auch Optionen für ein schnelles ÖPNV geschaffen werden.

        Mit den im Artike beschriebenen Konzepten wird der ÖPNV nicht verbessert und das nur Autofahren verschlechtert.

  • Bei uns kommt der Bus aus immer zu spät, weil er auf dem Weg vom Nachbarort jetzt an jeder Ampel abgestoppt wird. Im Nachbarort hat er kurz Pause, sodass er dort eigentlich immer pünktlich abfährt. Diese Form der Verkehrssteuerung verdoppelt künstlich die Emissionen. Außerdem kommen die Pendler jetzt zu spät zum S Bahn Anschluss und fahren mit dem Auto.

  • „Am Ende wohnen nur noch Leute hier, die sich eine Alternative zum Auto leisten können.“

    Studien haben ja gezeigt dass Autobesitzer die Kosten ihres Autos auf die Hälfte der tatsächlichen Kosten schätzen. Dazu kommen ja noch externe Kosten die die Gesellschaft für den Autobesitzer trägt. Die einzigen Alternativen zum Auto die sich niemand leisten kann sind Helikopter und Privatflugzeuge.

    • @Thomas Koll:

      Na ja, auch ein Bus der oftmals nicht vorhanden ist, kann sich niemand leisten. 🤪

  • Ich habe sowieso den Eindruck dass Leute die garnicht im Kiez wohnen sondern da bestenfalls einmal im Monat ein Bierchen zischen den Menschen die da wohnen das Dasein verbittern wollen...

  • ZITAT "Die Bühnenbildnerin: „Klar ist die Verkehrswende wichtig.“ [.. befürchtet.. ] Und zum anderen, dass sie ihr Material nicht länger zum Atelier liefern könne."

    An solchen Sätzen erkennt man die eigentliche Ablehnung. Keine Wohnung ist nach einer Diagonalsperre nicht mehr erreichbar. Nur der Weg dahin ist unter Umständen nicht mehr der direkte.

    • @Mopsfidel:

      Ich glaube das Hauptargument war hier auch die mögliche Preiserhöhung, weil die Lebensqualität steigt... Es ist halt das billigste Viertel in einer Ostdeutschen Großstadt, desshalb hat sie auch da ihr Atelier...und verdient halt auch nicht viel.mm