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Gewalt gegen israelische GeiselnEine bessere Welt muss möglich sein

Die Israelin Amit Soussana hat Zeugnis abgelegt über ihre Geiselhaft in Gaza. Sie musste sexuellen Missbrauch, Folter und Demütigungen erleben.

Amit Soussana, am 7. Oktober von der Hamas entführt, spricht vor ihrem zerstörten Haus im Kibbuz Kfar Aza am 29. Januar 2024 Foto: Alexandre Meneghini/reuters

U m diese Kolumne drücke ich mich. Nicht aus Faulheit oder Langeweile, sondern weil sie mir Schmerzen verursacht. Ich will sie ausblenden, sie verdrängen. Also hänge ich Wäsche ab, koche mir Kaffee, einen nach dem anderen, gehe spazieren. Ich denke: Warum habe eigentlich ich Schmerzen? Nehme ich mich nicht viel zu wichtig? Mein Körper will wegrennen, aber meine Gedanken kreisen weiter um das, was ich gelesen habe und nicht vergessen kann.

Seit bald einem halben Jahr ist extreme Gewalt so präsent in meinem Alltag, dass ich manchmal vergesse, wie es vor dieser Zäsur war. Gewalt ist mit dem 7. Oktober Gegenstand meiner Arbeit geworden; ist da, mal weniger und mehr subtil, im öffentlichen Raum, weil Antisemitismus so alltäglich und zum Teil ­lebensbedrohlich werden kann; die Gewalt ist in Bildern präsent, die mein Unbewusstes in meinen Träumen abruft, nur erträumte Bilder sind es nicht, sondern reale, von Hamas-Terroristen produzierte, die einmal das Internet geflutet haben.

Ich lese diese Woche, was die Israelin Amit Soussana der New York Times geschildert hat. In ihrer Geiselhaft in Gaza musste sie sexuellen Missbrauch, Folter und Demütigungen erleben. Amit Soussana ist die erste Frau, die nach dem 7. Oktober öffentlich über sexuelle Gewalt durch die Terroristen der Hamas spricht.

In einem Privathaus, also dem Zuhause von Zivilisten in Gaza, hielten die Terroristen sie angekettet, erzählt sie. Ihr Wachmann zwang sie mit vorgehaltener Waffe, einen sexuellen Akt an ihm vorzunehmen, so formuliert die New York Times Soussanas Aussage. An einem anderen Versteck wird sie an Händen und Füßen gefesselt, Mund und Nase werden ihr zugeklebt, und sie wird geschlagen, immer und immer wieder, von mehreren Männern.

Die einzige Waffe

Am 7. Oktober kämpfte Amit Soussana gegen­ ihre Entführer. Ein Video, das diesen Über­lebenskampf zeigt, sah ich vor Wochen, es kursierte im Internet. Ich starrte damals erschüttert auf meinen Bildschirm, verstand nicht, woher diese Frau die Kraft und den Mut aufbrachte, sich mit ihrem Körper, der einzigen Waffe, die ihr in diesem Moment blieb, gegen sieben Männer zu stellen. Sieben Männer, so viele brauchte es, um Amit Soussana schlussendlich zu überwältigen. Sie schlugen sie so heftig, dass ihre Augenhöhle, die Wangenknochen, ihr Knie und ihre Nase brachen.

Von einer Sekunde auf die andere wurde Amit Soussana am 7. Oktober von einer gewöhnlichen Frau zu einer Geisel der Hamas, zu einer ehemaligen Geisel, zu einem Opfer sexuellen Missbrauchs, zu einer mutigen Frau. Menschen schreiben jetzt, wie mutig Amit sei. Und sie haben recht: Amit Soussana ist eine mutige Frau. Und doch befremdet mich diese Aussage. Nicht die Zuschreibung, dieses Adjektiv, sondern seine schiere Notwendigkeit.

Amit Soussana sagt, sie wolle mit ihrer Darstellung auf das Leid jener über 130 Geiseln aufmerksam machen, die noch in der Gewalt der Hamas sind. In einer besseren Welt würde sie diesen Mut nicht aufbringen müssen, denn es gäbe keine Geiseln. In einer besseren Welt könnte sie sich als israelische Frau der Solidarität aller Frauenrechtsorganisationen sicher sein, die ihr „Wir glauben dir“ entgegenbringen würden und kein „Aber“.

Eine bessere Welt verdient

Bis heute schreiben mir Menschen: Beweisen Sie, dass die sexuelle Gewalt stattgefunden hat! Oder: Wenn es wahr ist, warum sprechen die Opfer nicht? So als ob die Öffentlichkeit ein Recht auf die Zeugnisse der Überlebenden hätte. Als ob sie uns etwas schuldig wären.

Wenn ich solche Nachrichten lese, will ich wieder wegrennen. Meistens laufe ich dann ein paar Mal draußen im Kreis, räume zu Hause Dinge hin und her, und entscheide mich später doch zu bleiben, zu antworten, zu lesen. Weil ich gar nicht wüsste, wohin ich rennen soll. Und weil Amit Soussana eine bessere Welt verdient hat.

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Erica Zingher
Autorin und Kolumnistin
Beschäftigt sich mit Antisemitismus, jüdischem Leben, postsowjetischer Migration sowie Osteuropa und Israel. Kolumnistin der "Grauzone" bei tazzwei. Beobachtet antidemokratische Bewegungen beim Verein democ. Axel-Springer-Preis für jungen Journalismus 2021, Kategorie Silber. Freie Podcasterin und Moderatorin.
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11 Kommentare

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  • "Bis heute schreiben mir Menschen: Beweisen Sie, dass die sexuelle Gewalt stattgefunden hat!"

    Der absolute Hohn. Aber im Verschwörungswahn zählen Fakten nicht. Dabei kann eine Heilung/Versöhnung irgendwann in der Zukunft nur gelingen, wenn Fakten anerkannt werden.

  • Liebe Erica Zingher, danke, dass Sie die Kolumne trotz des Schmerzes und des eigentlich Wegrennenwollens geschrieben haben.

    Das Leugnen und die fehlende Solidarität hinterlassen oft ein Gefühl von Wut und Resignation, umso wichtiger ist es, immer wieder auf die sexualisierte Gewalt der Hamas und ihrer Sympathisanten aufmerksam zu machen. Amit Soussana ist mutig und verdient Hochachtung, dass sie den Schritt in die Öffentlichkeit gemacht hat.

  • Sehr geehrte Frau Zingher,



    danke für Ihre Mühe, denn eine andere Arbeit und Umgehung der unschönen Realitäten wären so viel einfacher.



    Es ist gut, dass sie die menschliche Seite des Dramas im Blick behalten .



    Auch die hat zwei Seiten: den 7. Oktober und das Leid im Gazastreifen.



    Es darf nicht zur "neuen Humanität" erhoben werden, beides gegeneinander aufzurechnen.



    Leider passiert das gerade im öffentlichen Diskurs.



    Dabei gab es diese Fehler bereits in der Vergangenheit.



    Die Verbrechen des dritten Reiches wurden beispielsweise mit den Säuberungsaktionen Stalins verglichen.



    Beides ist selbstverständlich zu verurteilen, ein "Aufrechnen" ist allerdings absurd!



    Unrecht sollte in jedem Fall veröffentlicht werden und Sie und die taz legen, an dieser Stelle, zu Recht den Finger auf die Wunde.



    Danke!

  • Frau Zingher, Sie sind ebenso mutig wie Frau Amit Soussana und viele andere jüdische Frauen, die sich angreifbar machen und angegriffen werden, weil sie immer und immer wieder an die Geiseln und das furchtbare Grauen erinnern.

    Hierzu



    "Bis heute schreiben mir Menschen: Beweisen Sie, dass die sexuelle Gewalt stattgefunden hat!"

    eine Bitte, die mir, ich weiß, nicht zusteht:



    Bitte lassen Sie die Zuschriften die Sie erhalten, von jemandem der Ihnen nahesteht durchsehen und filtern. Nicht (nur) aus Eigenschutz, sondern weil Sie die Absender aufwerten, indem sie ihre Pamphlete zur Kenntnis nehmen.

    • @*Sabine*:

      Sabine, ohne Kommentierende wie Sie könnte ich die Kommentarspalten der Taz und anderer Medien nicht ertragen. Vielen Dank für ihre Menschlichkeit.

  • Schmerzen zu empfinden, wenn andere Menschen Schmerzen erleiden, ist das nicht eines der Wunder, das uns zu Menschen macht? Menschlichkeit ist kein rein intellektuelles Konstrukt, es hat eine unverzichtbare Basis genau darin.



    -



    Wer sein Opfer entmenschlicht, tut dasselbe mit sich.

  • Vielen Dank Frau Zingher.

    Ich wünsche ihnen viel Kraft. Mich hat die ausbleibende Solidarität gerade mit den Frauen unter den Opfern erschüttert. Um wie viel mehr Sie das belasten muss, das kann ich nur erahnen.

    Was mir auch klar würde, die Linke ist nach dem 7. Oktober praktisch nicht mehr existent.

    • @Jim Hawkins:

      Ich frage mich, ob der intellektuelle Schlendrian (Buthler, Wagenknecht) für Linke auch immer moralische Konsequenzen entwickeln muss. Es kann doch kein Zufall sein, dass B. die Tatsächlichkeit der Taten von Hamas infragestellt, und dass W.s Äußerungen immer fremdenfeindlicher werden. Derlei Unbeweglichkeit scheint immer in dieselbe unwürdige Sackgasse zu führen.

      • @THu:

        Mir fällt da Ignazio Silone ein:

        "Der neue Faschismus wird nicht sagen: Ich bin der Faschismus. Er wird sagen: Ich bin der Antifaschismus."

        Ist natürlich etwas plakativ, die Äußerungen Wagenknechts und der Schulterschluss der Post-Kolonialen mit dem Islamismus deuten allerdings in diese Richtung.

        Vielleicht sollte man sich noch einmal Houellebecq zu Gemüte führen.

        Frankreich ist in Sachen Wahlen auch schon einen Schritt weiter:

        "Im ersten Durchgang der jüngsten Präsidentenwahlen hatten laut Umfrage 69 Prozent der Wähler, die sich als Muslime bezeichneten, für den Linkstribun Jean-Luc Melenchon gestimmt (zum Vergleich: Generell kam Melenchon auf 22 Prozent aller abgegebenen Stimmen)."

        www.hagalil.com/20...ahl-in-frankreich/

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    Es ist unerträglich, dieses ABER zu hören.

    Wo sind die anderen mutigen Frauen dieser Welt die eine Frsu wie Amit unterstützen?

    Es ist erschreckend diese Stille wahrzunehmen.

  • Wer die Vergewaltigung von unschuldigen Frauen als Kampfmittel einsetzt hat kein Mitleid verdient und auch keine Unterstützung der westlichen Ziervielgesellschaft.



    Diese Meinung habe ich als Vater von drei Töchtern