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Hamburger Initiative für G9-AbiturKein Bock auf Elterngespräche

Die Volksinitiative stellte im Rathaus ihre Wünsche vor. Die Regierungskoalition sagt ihr Danke für nichts – zuvor warnte die Behörde vor den Folgen.

Rot-Grün in Hamburg empfiehlt der Volksinitiative von Eltern zum Thema Abi: Bitte Klappe halten! Foto: Matthias Bein/dpa

Hamburg taz | Die Fraktionen von Grünen und SPD in Hamburg wollen mit „G9 Hamburg“ keine Verhandlungen führen. Die von Eltern gegründete Volksinitiative war am Donnerstag in den Schulausschuss eingeladen, um ihr Anliegen zu präsentieren. Dabei wurde rasch deutlich, dass weder die rot-grünen Abgeordneten noch SPD-Schulsenatorin ­Ksenija Bekeris dafür etwas übrig haben.

Obwohl die drei Vertrauensleute Sammar Rath, Gunnar Matschernus und Iris Wenderholm, die am langen Sitzungstisch im Kaisersaal ganz in der Ecke neben einer Armada von Behördenleuten platziert waren, von den Abgeordneten mit Lob überschüttet wurden. Es sei toll, dass sie sich ehrenamtlich engagieren.

Die Eltern wollen ein Jahr mehr Lernzeit für die Schüler an den 63 Gymnasien. Sie hatten von Juni bis Dezember die für eine Volksinitiative nötigen 10.000 Unterschriften gesammelt. Der Wunsch entstand nach der Coronazeit, in der die Schulen zu waren und Lernlücken entstanden, die sich in der auf acht Jahre verkürzten Gymnasialzeit (G8) schwerer aufholen ließen.

Sie hätten beim Sammeln auf Märkten und Straßen viel Zuspruch erfahren, berichteten die drei und verwiesen auf eine NDR-Umfrage, nach der 75 Prozent der Hamburger für das neunjährige Abitur (G9) sind.

Andere Länder kehrten zurück zum G9

Das vor 15 Jahren erklärte Ziel der auch Turbo-Abitur genannten Reform, dass junge Menschen ein Jahr früher in den Beruf starten, sei nicht erreicht worden, sagt Matschernus. Häufig legten die jungen Abiturienten ein Pause-Jahr ein und sie wechselten häufiger ihr Studienfach. Den Schülern fehle Zeit für forschendes Lernen und die Ausbildung der für das 21. Jahrhundert nötigen „Soft Skills“, ergänzte Wenderholm. Sie verwies auch darauf, dass große Länder wie Niedersachsen, Schleswig-Holstein, Nordrhein-Westfalen (NRW), Bayern und nun auch Baden-Württemberg zum G9 zurückgekehrt sind. Zudem soll ab 2027 das Abi­tur aller Länder einheitlich sein. „Wie kann man davon reden, wenn sich die Bedingungen so unterschieden?“

Die Eltern rechneten vor, dass die anderen Länder nicht nur mehr Zeit, sondern auch insgesamt in den neun Jahren bis zum Abitur mehr wöchentliche Unterrichtsstunden bieten. In Schleswig-Holstein 277, in NRW 282, in Bayern gar 285. In Hamburgs G8 sind es nur 265. Hinzu komme, dass an den Gymnasien viel Unterricht ausfalle und Schüler oft mit Arbeitsblättern nach Hause geschickt würden. Das sei bei ihr Zuhause Alltag, sagte Sammar Rath. Das 2019 vom Senat gegebene Versprechen, diese Praxis zu halbieren, sei nicht erfüllt worden. Rath verwies dafür auf die Antwort des Senats auf eine Anfrage der CDU-Fraktion, derzufolge im Schuljahr 2022/23 nur 81 Prozent der Stunden an Gymnasien nach Plan erteilt wurden.

Den Eltern wurde im Anschluss in verschiedenen Varianten von den Politikern fast aller Parteien eine Frage gestellt: Warum sie ihr Kind nicht auf eine der 59 Stadtteilschulen schicken? Das ist die Schulform, die bereits das G9-Abitur anbietet. Weil es um alle Kinder am Gymnasium ginge, um die Struktur, antwortete Matschernus. „Alle jungen Menschen haben ein Recht auf mehr Zeit.“

Es war die zweite Sitzung des Schulausschusses, seit Ksenija Bekeris Senatorin ist. Anders als ihr Vorgänger Ties Rabe (SPD), der oft viel redete, fasste sie sich kurz. Hamburgs Schulsystem habe sich unter Rabe sehr gut entwickelt. „Das möchte ich nicht kleingeredet wissen.“ Die Stadt habe bundesweit die höchste Abiturquote und liege beim jüngsten Bildungsranking auf Platz vier. Der Vorschlag der G9-Initiative werde die Situation für „mehrere Jahre verschlechtern“, sagte sie und erteilte ihren Beamten das Wort.

Behörde schießt nur in eine Richtung

Es folgte eine Präsentation, die kein gutes Haar an dem Gesetzentwurf der Initiative lies. Zuerst malte eine leitende Beamtin aus, welche Probleme entstünden, wenn wie dort vorgesehen für eine Übergangszeit den Schülern die Wahl zwischen G8 und G9 bleibt. Es mache die Schaffung weiterer Klassen nötig, auch drohe ein Riss durch die Elternschaft, und eine Reform des Unterrichts sei „auf Jahre“ blockiert.

Für den Schulbau wäre ein sofortiger Stopp der aktuellen Planung nötig, fuhr ein Vertreter von Schulbau Hamburg fort. Das ginge auf Kosten aller Schulen und verzögere massiv dringliche Bauprojekte. Man bräuchte Raum für bis zu 7.500 Schüler. Da es angesichts hoher Schülerzahlen kaum Reserven gebe und für mobile Bauten der Platz fehle, drohten enge Klassen mit mehr als 30 Schülern oder eine Aufhebung des Klassenraumprinzips.

Ferner wären acht Millionen Euro für zusätzliches Personal, sowie weitere Millionen für IT-Ausstattung und Unterrichtsmittel nötig, ergänzte ein dritter Beamter. „Dieses Geld fehlt im Gegenzug an anderer Stelle.“ Und schließlich trugen weitere Behördenfachleute vor, dass Hamburgs Gymnasiasten in der 9. Klasse 2022 beim Ländervergleich in „Deutsch Zuhören“ und „Englisch Hörverstehen“ schon fast an der Spitze lagen, und dass besagte 265 Stunden reichten, um auch 2027 die von den Kultusministern verabredeten Anforderungen zu erfüllen.

Als alle fertig waren, platzte der Schulpolitikerin Sabine Boeddinghaus von der Linken der Kragen. Warum Senatorin Bekeris mit keinem Wort auf die Unzufriedenheit Bezug nehme, die die Eltern im Raum und auch Schulleiter an anderer Stelle artikulierten. Schulentwicklung sei nicht abzukoppeln von Schulstruktur. Es sei unklug, die Kritik gar nicht aufzunehmen. Und es sei ärgerlich, wenn Behördenmitarbeiter dem Parlament vorhalten, wie das Geld auszugeben sei.

Und schließlich stellte Boeddinghaus der Senatorin zwei Fragen. Wie die Stadt es denn schaffen wolle, die Schüler unterzubringen, wenn tatsächlich von den 60.000 Gymnasiums­eltern 10.000 ihre Kinder zur Stadtteilschule schicken, um Anspruch auf das neunte Schuljahr zu erwerben. „Würde das dann räumlich funktionieren?“ Sie finde es unfair, hier nur in eine Richtung zu schießen. Und warum Bekeris den Eltern nicht wenigstens einen Schulversuch vorschlage, etwa ein G9-Gymnasium pro Region, das zugleich seine Schüler nicht mehr abschult? Dass nicht einmal das passiere „bestärkt Politikverdrossenheit“. Dazu Bekeris: „Schulversuche sehe ich skeptisch.“

Nun muss die Bürgerschaft entscheiden, ob der Vorschlag der Volksinitiative so oder auch abgewandelt übernommen wird. Dafür wären Verhandlungen nötig. Für die sehe er „keinen Raum“, sagte der schulpolitische Sprecher der SPD, Nils Hansen, der taz auf Nachfrage. Die Beiträge der Behörde hätten gezeigt, dass das Vorhaben der Initiative nicht zum Wohle der Schüler sei. Auch laut Grünen-Fraktionschefin Jennifer Jasberg wird es „keine Verhandlungen von Rot-Grün mit der Volksinitiative“ geben.

Die Initiative selbst hatte am Freitag noch kein offizielles Statement erhalten. „Wir prüfen für uns die nächsten Schritte und warten, ob es Verhandlungsbereitschaft gibt“, sagt Rath. „Und wir sammeln Geld für das anstehende Volksbegehren.“

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14 Kommentare

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  • Liebe Frau Kutter, danke für Ihren sehr differenzierten Artikel.



    Nein, so einfach ist es eben nicht mit der Aussage: „dann schicken Sie das Kind halt zur Stadtteilschule“. Die Entscheidung, welche Schulform für das Kind das Richtige ist, wird im Halbjahr der 4. Klasse getroffen. Das Kind ist dann ca. 9 Jahre alt. Kinder verändern sich und entwickeln sich ganz unterschiedlich. In der 4. Klasse sich bereits zu entscheiden, welche Schulform die Richtige ist, ist kaum möglich und die Schulempfehlung der Grundschule hilft nur bedingt. Ein Durchbrechen der Schulform ist danach nahezu ausgeschlossen, sofern man nicht auf die Abschulung nach der 6. Klasse setzt.



    Man kann hinsichtlich der Volksinitiative ja anderer Meinung sein, sollte sich aber trotzdem mit den vorgetragenen z.T. wissenschaftlich belegten Argumenten einmal auseinandersetzen und in Gespräche gehen. Warum nutzt man das Angebot nicht?



    So wie dies im Schulausschuss letzte Woche durch die Fraktionen der SPD/ Grünen und deren Schulsenatorin gelaufen ist, geht man nicht mit Eltern und deren Kindern um. Das ist überheblich und führt nur zu noch mehr Politikverdrossenheit. „Danke für nichts“ ist hier das passende Statement.

    • @M. Otto:

      Gerade dass sich Kinder verändern und unterschiedlich entwickeln, ist doch ein Argiment dafür, die Stadtteilschule nicht zu schwächen. Übrigens ist auch für Schüler von Gymnasien ein Wechsel in die Oberdtufe der Stadtteilschule möglich.

  • Die Politik hat keinen Bock neue Schulen zu bauen und mehr Personal einzustellen. Die Schulbehörde macht sich zum Büttel der Politik-

    • @Lindenberg:

      Es werden doch an allen Ecken neue Schulen gebaut und vorhandene ausgebaut, und alles was man an Personal kriegen kann wird auch eingestellt. Was soll dieser Kommentar?

    • @Lindenberg:

      Die Eltern haben die Wahl des Gymnasiums getroffen, das endet in Hamburg nach 12 Jahren. Diese Eltern könnten auch nach der 10. Klasse ihre Kinder auf die Oberstufe einer Stadtteilschule schicken. Da ginge ihnen wahrscheinlich der Vorteil des Gymnasiums, ca. 1,5 bis 2 Jahr weiter als die Stadtteilschüler zu sein, verloren. Darum fordern sie sehr schlauf 13 Jahre bis zum Abi, dann hätten sie gegenüber der Konkurrenz von den Stadtteilschulen wahrscheinlich noch mehr Vorteile.

  • Und Danke an Frau Kutter für den sehr informativen Artikel.

  • Die höchste Abiturquote und der Bildungsrang mit Platz 4 sagt nicht viel aus. Ohne ein Zentralabitur für ganz Deutschland sind diese Zahlen mit Vorsicht zu genießen.

  • Worum es wirklich geht: Eltern, deren Kinder mit G8 überfordert sind, die sich aber zu fein sind, ihre Kinder mit Kindern aus anderen Milieus auf die Stadtteilschule zu schicken.

    G9 am Gymnasium würde bedeuten, dass wirklich begabte Kinder nicht mehr die Möglichkeit haben schneller das Abitur zu machen. Vor allem aber würde vor es die Stadtteilschule entwerten, weil dort nur noch die ganz schwachen Kindr hingingen, die weder bei G8 noch bei G9 eine Chance aufs Abitur hätten. Das ist ein Projekt von Oberschichteltern, dass die soziale Spaltung vorantreiben würde

    Es ist gut, dass sich rot-grün da nicht beirren lässt. Dass die Linkspartei sich auf die Seite dieser Eltern schlägt, spricht Bände.

    • @Ruediger:

      Zum Glück wird es ja ein Wortprotokoll der Schulausschusssitzung geben, in dem Sie nachlesen können, dass DIE LINKE sich mitnichten auf "die Seite dieser Eltern schlägt", aber zu einer differenzierteren Sicht in der Lage ist und die sieht so aus: das 2- Säulen- Modell verstärkt die soziale Ungleichheit, deshalb muss es so weiterentwickelt werden, dass JEDE weiterführende Schule inklusiv ohne Abschulen arbeiten kann. Dazu gehört das Lernen im eigenen Takt und individuelle Förderpläne für ALLE! DIE LINKE hat dazu gemeinsam mit Expert*innen ein inklusives Schulgesetz vorgelegt, das Sie hier nachlesen können: www.linksfraktion-...rg.de/schulgesetz/ Dass die Initiative G9 zumindest wieder eine Debatte über Schulentwicklung anstößt, begrüße ich und dass die Behörde die derzeitige Lage an den Schulen schönredet, kritisiere ich.

    • @Ruediger:

      Ganz genau das haben sie sehr treffend formuliert. Ursprünglich wollte man ja eine Schule für alle, wogegen es damals in Hamburg ja auch einen Volksentscheid gab und diese Situation mit G8 an den Gymnasien und G9 an den Stadtteilschulen. Die lösung für diese Kinder und Eltern wäre einfach an einer Stadtteilschule das Abitur machen oder so fleißig und diszipliniert sein, dass es in weniger Zeit. Gymnasium klappt. Diese Haltung der Linkspartei kann ich auch gar nicht nachvollziehen, weil deren Position eigentlich auch mal eine Schule für alle war.

      • @Gurkenmann:

        unsere Position ist immer noch Eine Schule für Alle! Hier kommen Sie zu unserem inklusiven Schulgesetz: www.linksfraktion-...de/schulgesetz/Die spannende Frage ist ja, wie können Wege dahin konkret aussehen? Lassen Sie uns doch darüber diskutieren!

    • @Ruediger:

      Reichlich überheblich, dass Sie wissen, wie die Eltern tatsächlich ticken.

      "begabte Kinder nicht mehr die Möglichkeit haben schneller das Abitur zu machen" könnten jederzeit eine Klasse überspringen.

      "Dass die Linkspartei sich auf die Seite dieser Eltern schlägt, spricht Bände." Was für Bände spricht es denn? Dass es nicht von der Hand zu weisen ist, dass auch zusätzliche Räume benötigt werden, wenn die Kinder auf Stadtteilschulen gehen?

      Manchmal ist es auch gut, sich Fehler einzugestehen und rückgängig zu machen.

      • @Anna Bell:

        Welche Fehler? Wer möchte, dass sein Kind mehr Zeit zum lernen hat, kann sein Kind auf eine Stadtteilschule schicken.

      • @Anna Bell:

        Nur, wo ist hier der Fehler? Das System funktioniert ja. Es gibt in Hamburg G8 und G9, Eltern und Kinder haben die Wahl. Gleichzeitig wird sowohl die Stadtteilschule aufgewertet, weil sie einen Teil der stärkeren Schüler bekommt, und das Gymnasium auch, weil die Anforderungen höher sind.