Bildungsgefälle in Schleswig-Holstein: Turbo-Abi schadlos beseitigt

2017 punktete die CDU in Schleswig-Holstein mit der Rückkehr zum neunjährigen Abi. Der Run aufs Gymnasium blieb aus, aber Bildungsgerechtigkeit fehlt.

Schülerin sitzt im Klassenraum an einer schriftlichen Arbeit

In Schleswig-Holstein dauert die Schulzeit für Gymnasiasten wieder 13 Jahre Foto: Julian Stratenschulte/dpa

HAMBURG taz | Im derzeitigen Schleswig-Holstein-Wahlkampf spielt Bildung kaum eine Rolle. Ganz anders war das 2017, als die CDU überraschend versprach, das Turbo-Abitur an den Gymnasien abzuschaffen und die Wahl gewann. Anders als befürchtet scheint dies die Gemeinschaftsschule jedoch nicht beschädigt zu haben, die Anmeldezahlen blieben unverändert. „G9 kommt an. Aber einen Run auf Gymnasien gibt es nicht“, sagt CDU-Bildungsministerin Karin Prien.

Die Zahlen wirken wie eingefroren. Rund 13.000 gehen in Schleswig-Holstein Jahr für Jahr auf die Gemeinschaftsschule, knapp 10.000 aufs Gymnasium. 2017 gab es 182 Gemeinschaftsschulen, heute sind es 181, damals hatten 43 von ihnen eine eigne Oberstufe, heute 44. Und die 99 Gymnasien im Land führen ihre Schüler mit einer Ausnahme wieder in 13 statt in zwölf Jahren zum Abitur und nehmen damit den Gemeinschaftsschulen, die das auch bieten, den Vorteil.

Das Thema war 2017 bei den Jamaika-Verhandlungen eine „Kröte“ für die Grünen, die für die Idee des gemeinsamen Lernens stehen. Doch Ministerin Prien versprach damals, sie werde „beide Schularten stark machen“. Die Kinder bekamen wieder eine Schulform empfohlen.

Die Entwicklung ist für Hamburg interessant, wo heute noch alle 63 Gymnasien konsequent beim Turbo-Abitur sind, weil das Abitur nach 13 Jahren den 59 „Stadtteilschulen“ vorbehalten ist, dem Pendant zur Gemeinschaftsschule. Das regelt ein „Schulfriedens“-Vertrag.

Mehr Durchlässigkeit

Doch beim genaueren Blick bietet Hamburgs System mehr Durchlässigkeit. Dort hat fast jede Stadtteilschule ihre eigne Oberstufe, dort gehen 47 Prozent der Zehntklässler in die 11. Klasse über. In Schleswig-Holstein hat nur jede fünfte „GemS“, wie die Schulen abgekürzt heißen, eine eigne Oberstufe. Sogar in der Statistik werden jene „mit“ und „ohne“ getrennt geführt. Und es kam unter der CDU-Frau Prien nur eine dazu.

„Es hätte in der Legislatur mehr für die Gemeinschaftsschulen passieren können“, sagt Thorsten Muschinski von Landeselternbeirat der Gemeinschaftsschulen. Er bedauert, dass der Oberstufen-Ausbau nicht weiter ging. Mit der Angleichung der Abiturzeit habe Jamaika der Schulform ihr Merkmal genommen. „Man könnte fragen, warum trennt man eigentlich noch.“

Dass alles nicht rosarot ist, zeigte der jüngst von Prien vorgestellte „Bildungsbericht 2020“. Denn die Chancen für flexible, wohnortnahe Bildungsentscheidungen sind „auf kleinräumiger Ebene nicht gleich verteilt“. So gibt es Landkreise, in denen ein Großteil der Gemeinschaftsschulen keine Oberstufe hat und wo es wenig berufliche Gymnasien als Alternative gibt.

Dabei wird ein Gefälle zwischen dem Nordwesten und dem Südosten des Landes sichtbar. In Dithmarschen hat gar keine Gemeinschaftsschule eine Oberstufe. Zugleich stellt der Bericht fest, dass ein höheres Angebot solcher Schulen vor Ort mit höheren Abiturquoten einhergeht. „Es gibt ein Gefälle der Abi-Quoten zwischen den Kreisen“, sagt die Grüne Schulpolitikerin Ines Strehlau.

„Keine Bildungsgerechtigkeit“

„Im Westen gibt es immer noch deutlich weniger Möglichkeit, auf eine Gemeinschaftsschule mit Oberstufe zu gehen“, sagt auch ­Astrid Henke, die Landevorsitzende der GEW. „Wir haben noch immer keine Bildungsgerechtigkeit erreicht“, heißt es im ersten „Wahlprüfstein“ der GEW, die von den Parteien wissen wollte, was sie dagegen tun.

Die SPD würde massiv in den Schulbau investieren, Ganztagsschulen ausbauen und jedem Schüler ab Klasse 8 ein digitales Endgerät stellen. CDU und Grüne würden ihr Programm für „Perspektivschulen“ in schwieriger Lage weiterführen und stärken.

Interessant sind die Wahlprüfsteine des Philologenverbands. Die Gymnasial-Lobby fragt, was die Parteien tun, um die Vergleichbarkeit des Abiturs der Schularten zu gewährleisten. Und hier holt dann die CDU ihre alten Pläne aus der Mottenkiste. Man wolle an den Gemeinschaftsschulen „ab Klasse 7 in den Hauptfächern“ die Schüler nach Niveau getrennt unterrichten.

„Ich kann diese Diskussion nicht mehr hören, dass das Abitur angeblich verschenkt wird“, sagt SPD-Schulpolitiker Martin Habersaat. „Und eigentlich sagt die CDU das auch nicht so laut.“ Auch wenn unter Ministerin Prien der „Geist des Sortierens“ wieder stärker geworden sei. Habersaat macht dies an einer leicht gestiegenen „Exklusionsquote“ fest von Kindern, die nicht in Regelschulen lernen. „Das hatten wir seit Jahren nicht.“

Angst vor neuen Strukturdebatten

Mit den Grünen wäre die Niveau-Trennung in der Gemeinschaftsschule als Vorschrift wohl nicht zu machen. Doch jüngste Umfragen deuten an, dass CDU und FDP allein regieren könnten. „Mit Schwarz-Gelb würde es wieder Strukturdebatten geben“, sagt GEW-Landeschefin Henke. Stattdessen bräuchten die Gemeinschaftsschulen mehr Differenzierungsstunden.

Doch es gibt noch ein anderes Fass, und hier verbindet die CDU mehr mit Grün als mit Gelb. Das neue Institut Shibb, das alle Teile der beruflichen Bildung unter einem Dach vereint, wurde auf Druck der FDP dem Wirtschaftsministerium unterstellt. „Wir wollen, dass das zurück ans Bildungsministerium geht“, sagt die Grüne Ines Strehlau. Und auch die CDU ist hier für „Bildung aus einem Guss“.

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