Kinder- und Jugendbücher zum Verschenken: Starke Bilder aus Birnenholz
Die Neuerscheinungen dreier Autorinnen erzählen von der Kindheit in der chinesischen Provinz, von ungleichen Freundinnen und unbequemen Fragen.
Gehen wir noch einmal zum Fluss … Steigen wir noch einmal auf den Kirschenberg … Spielen wir noch einmal das Prinzessinnenspiel“. In dem chinesischen Bilderbuch „Damals, im Sommer“ nehmen drei Geschwister wehmütig Abschied von ihrem Leben auf dem Land, von Onkel Liu, den Tieren im Wald und den Freundinnen aus der Nachbarschaft. Ein letztes Mal schlendern die Kinder über die vertrauten Pfade. Im Haus ist schon alles verpackt, die Zimmer sind leer geräumt und wirken fremd. Sehr bald wird die Familie umziehen. Der Vater hat in der Stadt Arbeit gefunden.
Der Schweizer Verlag Baobab Books hat die ausdrucksstarke Bildgeschichte in deutscher Übersetzung herausgegeben. Er publiziert bereits seit dreißig Jahren Kinder- und Jugendbücher aus aller Welt, inhaltlich differenziert, den Dialog mit anderen Kulturen befördernd.
In „Damals, im Sommer“ erinnert Autorin WEI Jie, die heute in Shanghai lebt, an die eigene, prägende Kindheit zwischen Bergen und Bächen in einem weit entfernten kleinen Dorf in der Provinz Shaanxi. Für die Darstellung dieser verschwundenen, ländlichen Welt hat Illustrator LI Xiaoguang auf eine traditionelle chinesische Drucktechnik zurückgegriffen und zu WEI Jies Erzählung achtzehn Bildtafeln aus Birnenholz geschnitzt. Eine große Herausforderung, die Herstellung fordert viel Geduld, der Holzdruck verzeiht keine Fehler. Das Ergebnis ist überwältigend, detailreich und präzise.
Jeweils über die Breite einer Doppelseite entwickelt LI Xiaoguang abwechslungsreiche Szenen. Sie zeigen Kinder beim Baden am Fluss, auf dem Markt oder umgeben von einer Vielfalt von Pflanzen. „Gehen wir noch einmal die Familie oben auf dem Berg besuchen. Dort gibt es die schönen Dampfbrötchen. Wenn man den Dampfkorb öffnet, kommen farbige Hasen, Wasserbüffel, Vögel oder Fische zum Vorschein.“
WEI Jie (Text) / LI Xiaoguang (Illustration): „Damals, im Sommer“. Aus dem Chinesischen von Brigitte Koller Abdi. Baobab Books, Basel 2023. 40 Seiten, 22 Euro. Ab 5 Jahren
Anne Becker: „Luftmaschentage“. Beltz & Gelberg Verlag, Weinheim 2023. 173 Seiten, 13 Euro. Ab 11 Jahren
Kathrin Schrocke: „Weiße Tränen“. Mixtvision Verlag, München 2023. 240 Seiten, 17 Euro. Ab 13 Jahren
Einfühlsam schildert die Autorin in knappen Sätzen die letzten Tage in dem idyllischen Dorf – aus der Perspektive der Schwester zwischen Ausgelassenheit und banger Erwartung. Lebendig illustrieren die von LI Xiaoguang monochrom schwarz gestalteten Panoramaseiten WEI Jies Erzählung und erweitern diese kunstvoll um eine weitere narrative Dimension.
Guerilla Crochet
Bunt umhäkelte Laternenmasten, Geländer oder Baumstämme. Zuweilen begegnen einem diese aus Wolle gearbeiteten Interventionen im Stadtbild. Wer hat sich bloß so viel Mühe gemacht? In „Luftmaschentage“, dem jüngsten Roman von Anne Becker, ist es Matea, die in nächtlichen Guerilla-Aktionen Bäume farbenfroh umhäkelt. Eigentlich ist das dreizehnjährige Mädchen nicht für ihren Mut bekannt. Nur zu Hause mit der Familie oder einzelnen Vertrauten wie der alten Frau Lose spricht sie. Da kann sie aber sehr schlagfertig sein.
In der Öffentlichkeit bleibt Matea stumm, möglichst unsichtbar. In der Klasse ist sie so eine Außenseiterin. Nur Riccarda, die neue Mitschülerin, findet Mats auf Anhieb interessant. Mit ihrer großen Klappe, roten Haarsträhnen und einem Glitzerstein auf dem Schneidezahn ist die im Stadtpark herumstreunende „Ricci“ das genaue Gegenteil der behüteten Pfarrerstochter.
Schon in „Die beste Bahn meines Lebens“, ihrem Debüt 2019, lässt die Autorin und Sonderpädagogin den dreizehnjährigen Jan mit dem Handicap einer schweren Lese-Rechtschreib-Störung ringen. Erst durch die Freundschaft mit der eigenwilligen Floh lernt der hervorragende Schwimmer seine Schwächen zu akzeptieren. Und seinen Stärken zu vertrauen.
In „Luftmaschentage“, Beckers jüngstem Roman, ahnt die schüchterne Erzählerin Matea bald, wie dringend die so selbstbewusste neue Freundin selber Hilfe benötigt, obwohl sie die prekäre Lebenssituation zu verheimlichen sucht. Mats, die von ihrer eigenen inneren Krake ausgebremst wird – oder von „Fräulein Schüchtern“, wie es die alte Frau Lose formuliert, gelingt in dieser Situation ein vorsichtiger Rollenwechsel.
Anne Becker findet für die Gefühle und Ereignisse, die ihre Protagonistinnen ereilen, eine altersgerechte Sprache und glaubwürdige Setzungen. Zusätzliche Fahrt nimmt Mats und Riccis Geschichte dann nachts auf dem Schulhof auf. Während einer spektakulären Häkel-Aktion bekommen die beiden Outsiderinnen überraschend Unterstützung von ihren Mitschülern Yasser und Leon.
“King Kong“
Auch in „Weiße Tränen“, dem temporeichen Roman von Kathrin Schrocke, wird Schule zum zentralen Schauplatz einer spannungsreichen Auseinandersetzung. Auf dem „Kant“, dem Gymnasium einer Kleinstadt im Schwarzwald, geht es recht entspannt zu. Rektor Regenmacher ist stolz auf die Anerkennung als „Schule ohne Rassismus“. Gerne sendet er über den Instagram-Account @KantSchuleFürVielfalt Grußbotschaften an die Schülerschaft.
Aus Kathrin Schrocke, „Weiße Tränen“
Seit kurzem gibt es dort eine queere Cheerleadergruppe und Herr Prasch leitet seit Jahren erfolgreich die Theater-AG. Bevor sich der beliebte Lehrer in den Ruhestand verabschiedet, will er in einer letzten großen Inszenierung das Musical „King Kong“ mit der Gruppe auf die Bühne bringen. Doch dabei wird es überraschend ungemütlich.
Als Prasch für die Hauptrolle Alex, den bekifften Sohn des Bürgermeisters, auswählt und Serkan, der talentierteste Sänger der AG, stattdessen den stummen Gorilla spielen soll, wirken einige Schüler überrascht von dieser Entscheidung. Doch nur Benjamin platzt der Kragen: „Sie geben dem einzigen Schüler, der nicht weiß ist, ernsthaft die Rolle des Affen?“ Seit Kurzem geht er als neuer Mitschüler mit Lenni und seinem besten Freund Serkan in die Klasse. Benjamin kommt aus Leipzig und er ist schwarz.
„Wir hockten wie vom Blitz getroffen da. Es war absolut unüblich, dass jemand Praschs Entscheidungen in Frage stellte. Und noch nie war jemand in der Theater-AG derart ausgeflippt.“ Wirkungsvoll entwickelt Kathrin Schrocke ihre sorgfältig dargestellte Geschichte über Alltagsrassismus aus Lennis Perspektive. Der mittelmäßige Schüler, dessen junge Eltern das Bestattungsunternehmen am Ort führen, kommt eigentlich mit allen gut klar. Auch mit Lehrer Prasch, der ihn mit seiner lockeren Art oft wieder für die Schule motivieren konnte.
Wie auch Luisa, Alex oder Marcel aus der Theater-AG findet Lenni Benjamins Vorwürfe zunächst übertrieben. Zu abwegig und unbequem erscheint ihm die Vorstellung, sogar sein eigenes Verhalten könnte diskriminierend sein. Doch spätestens als sich der Teenager in Serkans Schwester Elif verliebt und er an ihrer Seite etwas anders erlebt, dämmert es ihm, wovon Benjamin spricht.
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