Rechte Hetze gegen Journalisten: Freiheit im Fadenkreuz
Seit Jahren wird der Journalist Alexander Roth wegen seiner Berichterstattung von Rechten attackiert. Er macht weiter – trotz Morddrohungen.
E r steht an der Seite wie ein Passant, einer der Einkaufenden in der Stuttgarter Innenstadt, der zufällig stehen geblieben ist, an diesem Abend des 5. Oktober 2022, um der kleinen Kundgebung zuzuhören. Aber dann geht es plötzlich nicht mehr um das „Corona-Unrecht“ und die „Pandemie“, sondern um die verhasste Presse. Und Alexander Roth, 33 Jahre, Journalist bei der Waiblinger Kreiszeitung, ist kein Passant am Rand mehr, sondern steht im Mittelpunkt.
Er freue sich, dass die linke Presse gekommen sei, „die uns schon im Vorfeld verurteilt hat als Rechtsextreme, Schwurbler, Querdenker, Alu-Hut-Träger“, sagt der Redner am Mikrofon. Sein Name ist Alfredo G., er wendet sich in Richtung Roth, der äußerlich ungerührt dasteht. Tatsächlich seien hier „würdige“ Menschen versammelt, die „alles geben, um ihr Recht zu verteidigen“, sagt G. Wer sich hier als „rechtsextrem“ einschätze, möge die Hand heben, fordert er die Demonstrierenden auf. Niemand meldet sich. Gejohle. „Herr Roth, schauen Sie mal, wie viele Rechtsextreme es hier gibt,“ ruft G. „Schauen Sie hin, bevor Sie in Ihrem Blatt wieder diese Lügen verbreiten. Hören Sie auf zu hetzen.“ Eine Frau sagt amüsiert über Roth: „Seine Hand zittert“. „Lügenpresse, Lügenpresse“, rufen die Demonstranten. So zeigen es Video-Aufnahmen von der Demonstration.
„Die Situation schien für große Belustigung zu sorgen“, sagt Roth der taz später über den Abend. Er sei „gefilmt, fotografiert, von der Bühne herab mehrfach als Feind markiert, angebrüllt und verunglimpft“ worden. Beim Zug durch die Innenstadt zeigten Passant:innen ihm immer wieder ihren Mittelfinger. „Zeitweise wirkte es fast, als sei es eine Demo gegen mich.“
Seit dem ersten Jahr der Pandemie berichtet der junge Journalist Alexander Roth über die Querdenker im Raum Stuttgart und deren Verstrickungen mit der lokalen Reichsbürgerszene – genauer, ausdauernder, profunder schreibt bundesweit kaum jemand zu diesen Themen. Zu tun hat er genug: Die bundesweite Protestbewegung gegen die Coronapolitik hat in der Gegend ihre Ursprung. Zeitweise gab es im Waiblinger Rems-Murr-Kreis über 30 Querdenker-Kundgebungen an einem einzigen Tag. Doch nur wenige Journalist:innen berichteten vor Ort über das Thema. Roth wurde schnell bekannt – und zum Ziel von Anfeindungen. Erst sind es Posts in Sozialen Medien, Videos, in denen gegen ihn gehetzt wird. Dann kommen Morddrohungen. Ein Nutzer etwa schreibt, er werde „diesen Roth verschwinden lassen“. Heute muss Roth sich mit der Polizei absprechen, wenn er bei einer Veranstaltung eingeladen ist.
Nach der Stuttgarter Demo postet ein Aktivist auf der Social-Media-Plattform Telegram Fotos von Roth, schreibt, der habe die „Ehrenmitgliedschaft bei Anitfa-Terrorgruppen“. „Jetzt weiß man zumindest, wie diese Kreatur aussieht,“ antwortet ein Telegram-Nutzer.
„Und weil das so viele wissen, ist für mich eine Demo-Beobachtung immer mit Schwierigkeiten verbunden“, sagt Roth. „Ich werde erkannt, verleumdet, beleidigt und eingeschüchtert. Ich soll meine Arbeit nicht machen können.“
In einer einjährigen Recherche hat die taz die Kampagne gegen den Waiblinger Journalisten rekonstruiert, hat vor Ort recherchiert, Beteiligte mit ihrer Hetze konfrontiert und das Social-Media-Netzwerk analysieren lassen, in dem sich der Hass verbreitet.
2023 belegt Deutschland Platz 21 in der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen. Vor der Pandemie war es Platz elf. Die physischen Angriffe auf Journalist*innen sind auf einen Höchststand gestiegen. Ein Großteil findet in verschwörungsideologischen, antisemitischen und extrem rechten Kontexten statt. Die Attacken gegen Roth zeigen, wie sich in dem Milieu der Hass auf die Presse immer weiter steigert.
Der eingangs erwähnte Demo-Redner Alfredo G. betreibt ein kleines Lebensmittel-Importgeschäft in einem Vorort von Stuttgart. Seit 2020 ist er als Aktivist bei den Coronaprotesten dabei, hat viele Kundgebungen angemeldet. 2022 etwa wurden auf einer „Filmmahnwache“ am Stuttgarter Schlossplatz Videos gezeigt, in denen der Arzt Sucharit Bhakdi Falschbehauptungen zur Pandemie aufstellen konnte. In einer „Galerie des Grauens“ wurden Fotos angeblicher Impfopfer ausgestellt. Gegendemonstranten wurde gesagt, sie hätten „Gift in der Maske“.
Auch am 14. Juni 2023 hat G. eine Kundgebung in der Stuttgarter Innenstadt angemeldet. Auf einem kleinen Platz nahe des Schlosses sammeln sich die Menschen, optisch alle aus dem Alternativmilieu, es ist ein warmer Spätnachmittag. Transparente werden entrollt, auf denen die „Aufarbeitung des Corona-Unrechts“ verlangt wird. G. spricht mit Polizisten die Route ab.
Auf Roth angesprochen sagt G. an diesem Nachmittag, dass die Demonstrierenden ein „Recht auf Kritik“ hätten, ohne „tendenziös beleidigt“ zu werden, wie Roth es getan habe. Die Presse müsse sie „nicht bejubeln“, dürfe sie aber auch nicht als „Schwurbler“ beleidigen. Roth allerdings hatte den Begriff „Schwurbler“ nur ein einziges Mal verwendet, und zwar als Zitat der Eigenbezeichnung einer Datingplattform für das Querdenker-Milieu.
Alfredo G. sagt, er lehne auch die Bezeichnung „Querdenker“ ab. „Selbstdenker“ sei ihm lieber. Dabei hatte die Bewegung – vor allem in Stuttgart – den Begriff ab 2020 als Eigenbezeichnung gewählt. Die Art, wie die Presse gegen die Coronademonstranten gehetzt habe, sei ein „Verstoß gegen die Menschenwürde“, den er nur in einer Diktatur erwarten würde, sagt G. Er glaube, dass die Presse so schreibe, weil sie gekauft sei. Sie hoffe auf „Subventionen, Investitionen oder Sponsoren, vom Staat oder aus anderen Ecken, vielleicht aus der Pharma-Industrie“.
Es sind Versatzstücke von Verschwörungstheorien, die in der Pandemiezeit immer populärer wurden.
Dann läuft der Demozug los, durch die Innenstadt, bis vor die Landeszentrale der Grünen. Nach einer kurzen Ansprache macht G. über den Demo-Lautsprecher Musik an. Erst kommt „Aber bitte mit Sahne“ von Udo Jürgens, dann der Track „AfD“, den der rechtsextreme Rapper Kaia Boehm, Künstername SchwrzVyce, nach eigener Aussage als „Wahlwerbespot“ für die Partei geschrieben hat. Die AfD hat sich allerdings davon distanziert. „Ich bin es so leid, eure grün-versiffte woke scheiß Agenda hier in diesem Land“, heißt es in dem Song. Boehm nennt die grünen Ministerinnen „häßliche F....., die dieses Land angeblich regieren, aber es verraten jeden Tag aufs Neue“. Er als „Patriot“ müsse „kotzen, wenn ich diese Missgeburten seh“, heißt es über die Ampel-Regierung.
Dann ist das Lied zu Ende. Die Corona-Kundgebung vor der Grünen-Zentrale geht weiter. Niemand scheint Anstoß an dem Text zu nehmen.
Die Situation ist beispielhaft für die Entwicklung der Corona-Leugner:innen. Zwar ist die Querdenker-Szene in Baden-Württemberg – anders als in Ostdeutschland – stärker durch ein alternatives, esoterisches Öko-Milieu geprägt. Doch auch im Ländle gab es eine Radikalisierung, bestehen längst inhaltliche Überschneidungen und Kontakte zu Rechtsextremist:innen.
Einer der wichtigsten Köpfe hinter den Attacken auf Roth ist der ehemalige AfD-Landtagsabgeordnete Heinrich Fiechtner. Der Onkologe mit eigener Praxis war einer der prominentesten Köpfe der baden-württembergischen Querdenker-Szene. Fiechtner attackiert Roth auf seinen Telegram-Kanälen über viele Monate – und triggert unter seinen Followern Gewaltfantasien gegen den Journalisten.
Im November 2022 nennt Fiechtner Roth auf Telegram einen der „blasiertesten, verlogenen, hetzerischsten, am tiefsten im NS- und Stalinsumpf suhlenden Schorrnalisten aus, direkt aus der Printbude für braune Soße“. Er schreibt dies am Vorabend einer Kundgebung, über die Roth berichten wird. In einem auf Fiechtners Telegram-Kanal veröffentlichten Video ist die Rede von „Nazi-Alex“, der „von Jourfaschisten eigens eingeschleimte Preise für Indoktrination und Propaganda erhält.“
Fiechtner spricht auf einer Kundgebung in Stuttgart, bei der Roth als Berichterstatter anwesend ist. Fiechtner liest dem Demo-Publikum einen Tweet Roths vor und hebt seinen rechten Arm, wie zum Hitlergruß. Das Publikum johlt.
Als Roth über das Auftreten Fiechtners auf einer Demo berichten will, schickt er Fiechtner vor Veröffentlichung des Artikels einige ihn betreffende Passagen mit der Möglichkeit, Stellung zu beziehen zu. Fiechtner postet die Anfrage auf Telegram – und nennt Roth einen „Schornazisten“ – eine Wortneuschöpfung Fiechtners für unliebsame Journalist*innen. Fiechtner veröffentlicht einen Screenshot des Artikels, inklusive Autorenfoto.
Immer wieder hat Fiechtner mit seinen Attacken Wellen von Hassnachrichten gegen Roth ausgelöst. Diesmal sticht ein Post in seiner Bedrohlichkeit heraus: „Ohne Kugeln in den Kopf wird nix passieren. Die Bewegung braucht einen Einzeltäter, der jedem Regierungspolitiker eine verpasst.“
Um ein Gespräch gebeten lädt Fiechtner im Juni 2023 in seine Praxis ein. Er trägt ein weißes Hemd mit einer blauen Fliege; er nimmt sich Zeit. Die Berichterstattung zur Pandemie und den Corona-Protesten in der Waiblinger Zeitung sei eine „absolute Katastrophe“ gewesen, sagt er. Roth sei ein „beinharter Ideologe“, der „nicht unterscheiden kann zwischen Meinungs- und Sachbericht“. Dass er die Corona-Proteste als „rechts“ und als „vom Verfassungsschutz beobachtet“ bezeichnet habe, habe „Stimmung erzeugen“ sollen. Dabei sei der Verfassungsschutz, der die Querdenker beobachtet, eine „weisungsgebundene Behörde“. Man müsse dies erwähnen, wenn man über den VS spreche. Denn der werde benutzt, seitdem er „in ihren Dienstbereich“ gekommen sei – mit „ihren Dienstbereich“ meint er die schwarz-grüne Regierung in Baden-Würtemberg.
Im Auftrag der taz hat das Center für Monitoring, Analyse und Strategie (CeMAS) die Online-Angriffe gegen Roth analysiert. Das CeMas beobachtet rund 2.800 Telegram-Kanäle und rund 1.900 Gruppen aus dem verschwörungsideologischen und rechtsextremen Spektrum. Eine Auswertung ergab, dass die bis Juli 2020 zurück reichenden Attacken auf Roth von Kanälen ausgingen, die entweder eine starke Verbindung in die rechtsextreme Szene haben oder bundesweit als Brücke zwischen dieser und der sogenannten Querdenken-Bewegung dienen. Besondere Nähe der Kanäle gebe es etwa zum Compact-Magazin und zur rechtsextremen Identitären-Bewegung. Von Sommer 2020 bis Frühjahr 2023 fanden die CeMAS-Expertinnen mehr als 250 Nachrichten über Roth, mit einer Reichweite von insgesamt rund 480.000 Views.
Die meisten Kanäle behandeln den Raum um Waiblingen – entsprechend sei auch die Bedrohung durch lokale Akteur:innen groß. Mit steigender Anzahl der Nachrichten, könnte auch „die Wahrscheinlichkeit von tätlichen Angriffen steigen“, vermutet man bei CeMAS: „Das Feindbild, das Kanalbetreiber und Gruppenmitglieder schaffen und personifizieren, kann und wird vor Ort bedrängt und bedroht“. Der Lokaljournalismus werde so „zum konkreteren Ziel als der abstraktere ‚Hauptstadtjournalismus‘ – die Arbeitsräume des Journalisten sind bekannt, möglicherweise auch Wohnort und Hobbytätigkeiten.“ Neben dem Kanal Fiechtners hebt CeMAS besonders den Kanal „Antifa & Aufklärung von Remstal Rebell“ hervor.
Als sich Roth Ende 2021 auf Twitter über die ständige Bedrohung durch die Querdenker-Szene beklagt, veröffentlicht Michael S., ein lokaler rechtsextremer Aktivist aus Fellbach, dies auf seinem Telegram-Kanal: „Uuuh der kleine Alexander hat Angst“. Roth nennt er „Menschenverachtender Radikal-Rassist“. Der Beitrag zieht weite Kreise auf Telegram. Der Kanal „Antifa & Aufklärung von Remstal Rebell“ wiederum ist mit S. verbunden. Der macht auf Telegram Stimmung gegen Flüchtlinge und organisiert Demos unter dem Motto: „Fellbach wehrt sich“.
Die taz trifft S. in einem Café am Rande Fellbachs. Michael S. erzählt davon, wie ein Freund ihm 2014 Alex Jones empfohlen habe, einen rechtsextremen Radiomoderator aus den USA. Von da habe er sich immer weiter geklickt. Vorher sei er „Mainstream“ gewesen. Es ist der klassische Weg der Radikalisierung, vor dem Expert:innen seit Jahren warnen: Bei Youtube etwa ist der Algorithmus darauf ausgelegt, immer krassere Videos anzubieten, um die Konsument:innen bei der Stange zu halten. Das kann den Weg in den Rechtsextremismus, in eine politische Radikalisierung befördern.
S. referiert bei der Begegnung mit der taz ungefragt fast die komplette Bandbreite rechter Erzählungen: Er relativiert den menschlichen Einfluss auf den Klimawandel, hält Migration nach Deutschland mindestens indirekt für gesteuert, schwadroniert über die Psychologie von Menschen aus Afrika.
Alexander Roth sei ein Denunziant und für viele ein „rotes Tuch“, sagt er und relativiert die Verbindungen der Querdenker-Szene zum Rechtsextremismus, über die Roth schreibt. Laut S. nennt Roth Leute rechtsextrem, nur weil sie vor Jahren mal ein Rechtsrock-Konzert organisiert hätten. Dabei wisse Roth nicht, was diese Leute heute dächten.
Auf den Umstand angesprochen, dass seine Telegram-Posts zu Gewalt gegen Roth animierten, streitet S. zunächst eine Verantwortung ab. Dann spricht er von einer „Grauzone“.
Im Laufe des Jahres 2021 haben es noch weitere lokale Querdenken-Akteure auf Roth abgesehen: Auch Heiko M. und Markus H. hetzen auf ihren Telegram-Kanälen regelmäßig gegen den Journalisten. Im April 2021 droht Heiko M. Roth dabei mit einer „Neuauflage der Nürnberger Prozesse“ – er soll also nach einer rechten Machtübernahme vor Gericht gestellt werden. Roth hatte zuvor zu Heiko M. und dessen Vernetzung in die Reichsbürger-Szene recherchiert. Im Juli 2021 tauchen Heiko M. und Markus H. vor Roths Arbeitsplatz, dem Gebäude des Zeitungsverlags Waiblingen, auf. Später veröffentlichen sie ein Video davon auf Telegram. Man wolle Alexander Roth auf ein Bier einladen, heißt es darin.
Einige Wochen später kommen die beiden Querdenken-Akteure unter einem Vorwand in das Verlagsgebäude. Am Empfang sagen sie, sie würden einen Kaffee mit Roth trinken wollen. Er habe sie eingeladen, jederzeit vorbeizukommen. Die Einladung ist erfunden. Sie werden am Eingang abgewiesen, aber Roths Bedrohungsgefühl steigt.
Im Januar 2022 mobilisiert die Querdenken-Szene gegen eine öffentliche Veranstaltung, auf der Roth über Rechtsextremismus in der Region spricht. Es wird über Telegram dazu aufgerufen, die Veranstaltung zu „besuchen“. Nikolai Nerling, ein bekannter rechtsextremer Videoblogger und Holocaustleugner, auf Youtube bekannt als „der Volkslehrer“, teilt den Aufruf ebenfalls in seinem Telegram-Kanal – verbunden mit der Behauptung, Roth sei Jude. Damit entfacht er eine Welle antisemitischer Kommentare gegen Roth.
Die Online-Angriffe weiten sich zu einer ständigen Bedrohungslage aus. Als Lokaljournalist läuft Roth Gefahr, auf der Straße erkannt zu werden – von den Personen, über die er berichtet. Von denjenigen, die es auf ihn abgesehen haben. Roth berichtet der taz, er sei in regelmäßigem Austausch mit der Polizei über Fragen zu seiner Sicherheit. Bei jedem öffentlichen Auftritt muss diese das Risiko bewerten, ob Polizeischutz nötig ist.
Alexander Roth auf Twitter
Auf Twitter schreibt er: „Ich gehe keinen Schritt, ohne mich zu fragen, wie sicher ich bin. Wenn ich mich meiner Wohnung nähere, drehe ich mich alle paar Sekunden um. Wenn ich privat unterwegs bin, habe ich die Demo-Termine im Hinterkopf – um nicht aus Versehen in eine hineinzulaufen“. Auch diese Nachricht wurde auf Telegram-Kanälen genutzt, um weiter gegen Roth zu hetzen.
Auf Demonstrationen, von denen er berichtet, muss er mit Angriffen rechnen. In der Redaktion sei es ständig Thema, welche Termine er überhaupt noch wahrnehmen könne.
Bei einer Veranstaltung im Sommer 2023, auf den die taz ihn begleitetet, ist eine Sicherheitsabwägung und Rücksprache mit der Polizei nötig. Roth wechselt das Auto und nutzt einen Dienstwagen.
Als er 2022 einen Lokaljournalistenpreis gewinnt, muss die Preisverleihung unter hohen Sicherheitsvorkehrungen stattfinden: Geheimhaltung der Örtlichkeit und Polizeischutz mit Bombenspürhunden. Das Ausloten, welche Sicherheitsvorkehrungen zu treffen sind, kostet Zeit. In der Vorbereitung auf die Preisverleihung habe er eine Arbeitswoche in die Sicherheitsplanung investiert, sagt Roth.
Er passe auf, wem er in seiner Nachbarschaft von seinem Job erzähle, um nicht versehentlich Personen gegen ihn aufzubringen: „Das ist eben ein Problem, das ich als Lokaljournalist habe – ich berichte über Menschen, die sehr nahe bei mir sind. Die mich auch mal auf der Straße sehen können, oder auf Festen“.
Dass ein Nutzer auf Facebook schrieb, er werde „diesen Roth verschwinden lassen“, erfährt Roth erst viel später. Eine Kollegin macht ihn Ende 2021 darauf aufmerksam. Sie meldet den Fall auch dem örtlichen Polizeipräsidium. Das Verfahren wird an die Staatsanwaltschaft Hamburg abgegeben, da der Beschuldigte dort wohnhaft ist. Ermittelt wird wegen Störung des öffentlichen Friedens durch Androhung von Straftaten. Im Juli stellt die Staatsanwaltschaft das Verfahren ein. Kein hinreichender Tatverdacht. Später zeigt Roth außerdem Michael S. wegen Beleidigung an. Auch dies bleibt ohne Folgen: Der Strafantrag wurde nicht im Rahmen der Drei-Monatsfrist gestellt.
In den meisten Fällen handele es sich bei Hasskriminalität im Internet um Beleidigungsdelikte, sagt Josephine Ballon. Ballon ist Anwältin und Leiterin der Rechtsabteilung bei HateAid, einer Organisation, die Betroffene digitaler Hasskriminalität berät und unterstützt. „Es ist eben nicht Aufgabe der Betroffenen zu identifizieren, welcher Straftatbestand in ihrem Fall vorliegt.“ In vielen Beleidigungsverfahren erlebe man zudem, dass Betroffene nicht wissen, dass sie in diesem Fall innerhalb von drei Monaten einen Strafantrag stellen und diesen in Papierform einreichen müssen. „Da wäre es hilfreich, wenn Polizei und Staatsanwaltschaften selbst darauf hinweisen oder auf Beratungsstrukturen verweisen würden, die Betroffene bei Rechtsfragen unterstützen“, meint Ballon.
Im November 2022 erstattet Roth Anzeige gegen Heinrich Fiechtner – dieses Mal über den Anwalt der Redaktion. Das Verfahren läuft aktuell noch. Fiechtner hetzt indes weiter gegen Roth. Dass Roth ihn angezeigt hat, teilt Fiechtner auf Telegram mit den Worten mit, Roths „fragiles hassbebendes Innere bebt so sehr, dass das Mimimi jetzt sogar die Polizei (…) aktiviert hat“.
„Bei uns gibt es mittlerweile einen sehr kurzen Draht zur Polizei“, sagt Roth. „Ich habe auch einen Ansprechpartner, dem ich regelmäßig Sachen weiterleiten kann, dem ich nicht immer erklären muss, wer ich bin und worum es geht. Dieser ist mit der Lage vertraut und kann direkt sagen, wie wir vorgehen.“
Freier Journalismus, mancherorts ist er in Deutschland nur unter Polizeischutz möglich.
Dieser Bericht ist Teil des Rechercheprojekts „Decoding the disinformation playbook of populism in Europe“, das vom International Press Institute in Wien geleitet und in Zusammenarbeit mit Faktograf und taz durchgeführt wird. Das Projekt wird vom European Media and Information Fund finanziell unterstützt, der von der Calouste-Gulbenkian-Stiftung verwaltet wird.
Eine ausführliche Fallstudie zu den Diffamierungen gegen Alexander Roth findet sich auf den Seiten des International Press Institute: https://tinyurl.com/dm5xz5r2
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um Termin für Bundestagswahl
Vor März wird das nichts
Bewertung aus dem Bundesinnenministerium
Auch Hamas-Dreiecke nun verboten
SPD nach Ampel-Aus
It’s soziale Sicherheit, stupid
Wirbel um Berichterstattung in Amsterdam
Medien zeigen falsches Hetz-Video
Energiepläne der Union
Der die Windräder abbauen will
Einigung zwischen Union und SPD
Vorgezogene Neuwahlen am 23. Februar