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Holocaust-VergleicheSchwarze Milch der Frühe

Caspar Shaller
Kommentar von Caspar Shaller

Angesichts des Massakers der Hamas in Israel vergleichen auch nichtjüdische Deutsche die Ereignisse mit dem Holocaust. Warum das keine gute Idee ist.

Gedenkstätte des ­ehemaligen Konzentra­tionslagers Auschwitz-Birkenau Foto: Karsten Thielker

W ir leben in einer Zeit, die nach langen Jahren der Entpolitisie­rung und der Aushöhlung traditioneller gesellschaftlicher Strukturen wie Gewerkschaften, Kirchen oder auch Vereinen abrupt in eine Phase der extremen politischen Agitation übergegangen ist. Der belgische Historiker Anton ­Jäger nennt das in einem gerade bei Suhrkamp erschienenen Buch „Hyper­politik“.

Heute, wo alle im 20. Jahrhundert so prägenden grand narratives weggebrochen sind, bleibt in unserem politischen Imaginarium nicht mehr viel, wonach die meisten Menschen greifen können, um die Welt um sich herum in Worte zu fassen. Das „Dritte Reich“ und der Holocaust sind fast der einzige Referenzpunkt, der noch bleibt. In deutschen Schulen und Zeitungen, in Hollywoodfilmen und Computerspielen, in Reden von so unterschiedlichen Politikern wie Frank-Walter Steinmeier und Wladimir Putin wird der ­Holocaust als der schlimmstmögliche Zivilisationsbruch, werden die ihn ausführenden Nazis als das ultimativ Böse beschworen.

Die deutsche Wachsamkeit gegenüber Gewalt und Anfeindung gegen Juden ergibt sich zwangsweise daraus, dass Deutschland den Holocaust verbrochen hat. Wir hatten in den letzten Jahren zu Recht viele Diskussionen über die Unzulässigkeit von Vergleichen oder Relativierungen des Holocaust, über die Einzigartigkeit der Shoah. Ein von einer modernen staatlichen Bürokratie mitorganisierter industrieller Massenmord an sechs Millionen Menschen ist einzigartig.

Doch nach dem Massaker der Hamas am 7. Oktober in Israel scheint diese Diskussion hierzulande wie weggewischt. Der deutsch-französische Journalist Nils Minkmar, Redakteur im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung, postete in seinem Social-Media-Kanal den Satz: „Der Tod ist ein Meister aus Gaza.“ Das ist eine Abwandlung der berühmten Zeile aus Paul Celans Gedicht „Die Todesfuge“: „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland.“ Das Gedicht verfasste Celan noch während des Zweiten Weltkriegs.

Anfänglich verteidigte Nils Minkmar seinen Post gegen Kritik auch jüdischer Nutzer. Dann löschte er ihn doch. Immerhin. Doch diese öffentliche Äußerung eines bekannten deutschen Journalisten ist emblematisch für den Umgang vieler Deutscher mit ihrer Schuld: Abspalten und projizieren nannte man das mal in der Psychoanalyse.

Die Vorgänge an einem Ort weit weg, auf den man keinen Einfluss hat, bieten eine Leinwand, auf die man seine eigene Befindlichkeit werfen kann. Denn wie man sich in deutschen Zeitungen oder deutschen Instagram-Accounts positioniert, hat so gut wie keinen Einfluss darauf, was im Nahen Osten wirklich passiert. Es ist einfach und wohlfeil, seine moralische Entrüstung kundzutun, wenn das keine Konsequenzen hat. Viel schwieriger ist es, im eigenen politischen Kontext für Gerechtigkeit und gegen Antisemitismus zu kämpfen.

Am Tag nach den grausamen Angriffen der Hamas auf Juden in Israel fanden in Bayern Wahlen statt. Die guten Deutschen im wohl allerbesten und allerdeutschesten aller Bundesländer gaben den Freien Wählern 15,8 Prozent ihrer Stimmen. Der größte Aufreger der vergangenen Monate war die Enthüllung, dass Hubert Aiwanger, Vorsitzender der Freien Wähler und stellvertretender Ministerpräsident, in den 80er Jahren als Schüler in seinem Rucksack Flugblätter herumtrug, die dazu aufforderten, „Vaterlandsverrätern“ einen „Freiflug durch den Schornstein von Auschwitz“ zu gönnen.

Weithin wurden diese Zeilen als Verharmlosung des Holocaust und damit antisemitisch gewertet. Zeugen berichteten, dass Aiwanger zu der Zeit Ansichten geäußert habe, die man als rechtsextrem werten könnte. Das alles seien Jugendsünden, ließ Aiwanger verlauten, und ohnehin, das Flugblatt habe sein Bruder verfasst, der diese Schuld auf sich nahm. Ministerpräsident Markus Söder entschloss sich nach einigem Zögern und dem Stellen einiger schriftlicher Fragen, Aiwanger nicht fallen zu lassen. Damit war die Sache gegessen. Sieht so eine zufriedenstellende Auseinandersetzung mit Antisemitismus im Deutschland des Jahres 2023 aus? Die Bürger Bayerns haben Aiwangers Freien Wählern auf jeden Fall eine Zunahme von 4,2 Prozentpunkten gegenüber dem Jahr 2019 beschert. Und jetzt?

Sicher, es ist etwas fundamental anderes, ob eine Gruppe Mörder ein Massaker begeht oder ob eine Gruppe Wähler rechts Kreuze auf einem Wahlzettel macht.

Aber die Gefahr des deutschen Antisemitismus sollte angesichts der Taten der Hamas nicht verharmlost werden.

Die Wahl in Bayern war diesen Monat nicht die einzige Gelegenheit, über die noch immer drohende Gefahr des deutschen Antisemitismus zu reflektieren. Anfang Oktober jährte sich der Anschlag auf die Synagoge in Halle zum vierten Mal. Ausgerechnet am höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur hatte ein Terrorist versucht, in den Tempel einzudringen und die versammelte Gemeinde zu ermorden. Stattdessen erschoss er zwei Passanten. Der Terrorist ist Deutscher. Laut dem jüngsten Bericht des Bundeskriminalamts zu politisch motivierter Kriminalität sind die allermeisten antisemitischen Übergriffe hierzulande dem deutschen rechten Spektrum zuzuordnen. Der Tod ist also noch immer ein Meister aus Deutschland. Für Juden in Israel geht eine Gefahr von der Hamas in Gaza aus. Aber für Juden hier in Deutschland geht die größte Gefahr nicht von Gaza aus, sondern von Bayern, von Sachsen, von Baden-Württemberg, von Brandenburg.

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Caspar Shaller
Redakteur taz2, zuständig für Medienthemen. Interessiert sich auch für Arbeitskämpfe und sonstiges linkes Gedöns, aber auch queere Themen und andere Aspekte liederlichen Lebenswandels. Vor der taz einige Jahre Redakteur im Feuilleton der Zeit und als freier Journalist in Europa, Nordamerika und dem Nahen Osten unterwegs gewesen. Ursprünglich nicht mal aus Deutschland, aber trotzdem irgendwann in Berlin gestrandet. Mittlerweile akzentfrei.
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28 Kommentare

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  • "Aber für Juden hier in Deutschland geht die größte Gefahr nicht von Gaza aus, sondern von Bayern, von Sachsen, von Baden-Württemberg, von Brandenburg."

    Das stimmt so nicht. Politisch motivierte Gewalttaten mit rechtsextremem Hintergrund pro 100.000 Einwohner geht mit großen Abstand von allen ostdeutschen Bundesländern aus. de.statista.com/in...en-bundeslaendern/

    In Berlin bspw. ist diese Gewalt um das 6-7 fache höher als in Bayern. Spitzenreiter ist Brandenburg. Bayern steht da deutschlandweit eher mit am besten dar.

    Was soll also diese irreführende Sicht auf die Verteilung von rechtsextremer Kriminalität und Gewalt in DE bezwecken? Dass die Anzahl der Einwohner mit der Anzahl der Fälle korreliert und daher nur die Einwohnerzahl reduziert werden muss?

    Vielleicht sollte man sich mal anschauen, was in BW und BY besser läuft. Aber dafür sind Berührungsängste mit der CSU (BY) nd CDU (BW) dann wohl zu hoch

    • @Rudolf Fissner:

      Die Querdenker-Szene entstand in BW und in BY sind die Reichsbürger auf dem Vormarsch. Ständig auf dem Osten zu zeigen, ist zu einfach und führt zu rein gar nichts.

      • @Ludowig:

        Auch das stimmt nicht.

        Die Covidioten-Szene war bundesweit vorhanden. Wenn man da überhaupt einen regionalen Bezug herstellen will, dann ist es Stuttgart (BW) mit den Mahnwachen. Bayern ist da speziell außen vor. de.wikipedia.org/w...schland#Entstehung

        Und nein, die Statistik zu rechten Gewalttaten ist kein Bäumchen-wechsel-dich Spiel, bei dem jedes Bundesland mal an erster Stelle steht. Ostdeutschland hat da nunmal eine unrühmliche Spitzenposition.

  • „Es ist einfach und wohlfeil, seine moralische Entrüstung kundzutun, wenn das keine Konsequenzen hat. Viel schwieriger ist es. im eigenen politischen Kontext für Gerechtigkeit und gegen Antisemitismus zu kämpfen.“



    „Der Tod ist also immer noch ein Meister aus Deutschland. Für Juden in Israel geht eine Gefahr von der Hamas in Gaza aus. Aber für Juden hier in Deutschland geht die größte Gefahr nicht von Gaza aus, sondern von Bayern, von Sachsen, von Baden-Württemberg, von Brandenburg.“



    Danke für die klaren Worte. Es ist wohltuend zu lesen, dass ich hierzulande offenbar nicht der einzige bin, der Schwierigkeiten mit der argumentativen „Schieflage“ in der Debatte um die Wahrnehmung von Antisemitismus ist.



    Selbst wenn in Israel-Palästina Juden und Palästinser wie Löwe und Lamm friedlich nebeneinander lägen, kein einziger muslimischer Migrant hier leben würde, gäbe es in Deutschland diese antisemitischen Angriffe auf Synagogen, müsste jüdisches Leben unter Polizeischutz gestellt werden.



    Und es gäbe auch dann jede Menge sogenannter Israel-Freunde und selbsternannter Antisemitismus-Jäger aus dem konservativen und rechtspopulistischen Spektrum unserer Gesellschaft.

  • Wann hört dieser Holocaust-Vergleichswahnsinn endlich mal auf. Es läuft am Ende immer auf eine wie auch immer geartete unzulässige Relativierung des Holocaust hinaus.

    • @Ulrich Haussmann:

      Reminder: Auch die jüdische Bevölkerung bedient sich mit Vergleiche mit dem Holocaust.



      Wenn die das dürfen, dürfen nichtjüdische auch.

    • @Ulrich Haussmann:

      Wenn erwähnt wird, dass Israel derzeit die größte Zahl an Opfern seit dem Holocaust zu beklagen hat, ist das noch längst kein Holocaust-Vergleich. Dieser Logik folgend, müsste man die Erwähnung des "rechten" Antisemitismus, den Herr Shaller ja offensichtlich als größte Gefahr für Juden in Deutschland in Bayern etc. verortet, als ebenso relativierend betrachten. Nein relativierend ist auch das nicht. Es ist viel schlimmer, aber möglicherweise lebt Herr Shaller in einer Parallelwelt.

      • @Jutta57:

        „Es ist viel schlimmer, aber möglicherweise lebt Herr Shaller in einer Parallelwelt.“



        Das glaube ich nicht. Möglicherweise kommt es lediglich darauf an, ob Sie sich dieser Tage eher in der Sonnenallee oder am Hermannplatz in Berlin aufhalten oder am bayerischen Stammtisch bzw. im Bierzelt. Ersteres ist der Ausnahmezustand und daher strafbar (wegen der Solidarität mit Israel als Staatsräson!*), zweiteres (bürgerliche) Normalität.



        Antisemitismus ist also “normal” im Land der Täter, sofern er nicht von Palästinensern und Muslimen ausgeht. Wer den weiter bestehenden historischen Antisemitismus der “Augochthonen” skandalisiert, muss damit rechnen, dass dieser - in einer Art regressiv-aggressiver Trotzreaktion (“Das wird man ja wohl noch mal sagen dürfen!”) - beispielsweise in bayerischen Landtagswahlen noch bestätigt wird. Das reißt dem Fass der Heuchelei und Doppelmoral den Boden aus.



        *Ich habe mich immer gefragt, wie von Antiziganismus betroffene Sinti, Roma und Jenische, die schließlich über KEINEN eigenen Staat verfügen, sich überhaupt gegen rassistische Übergriffe wehren können. Zu Holocaust-Vergleichen: nur etwa 10% aller europäischen “Zigeuner” im Machtbereich der Nazis haben Auschwitz überlebt.

  • „Ein von einer modernen staatlichen Bürokratie mitorganisierter industrieller Massenmord an sechs Millionen Menschen ist einzigartig.“

    Präzedenzlos ist der Holocaust, weil in ihm die Vernichtung Selbstzweck war, was ihn von genozidalen Verbrechen, denen eine ökonomische oder kriegsstrategische Motivation zugrunde liegt, unterscheidet. Ideologische Grundlage für die Shoah war der Erlösungsantisemitismus, der Jüdinnen und Juden als „spaltendes Element“ in einer an für sich der Harmonie zustrebenden (Volks-)Gemeinschaft imaginiert. Dabei dienen Jüdinnen und Juden als Projektionsfläche für die der Moderne inhärenten Verwerfungen. Es besteht die irrsinnige Vorstellung mit ihrer Vernichtung das Gleichgewicht in einer zerrütteten, Gefühle der Ohnmacht evozierenden Gesellschaft wiederherstellen zu können.



    Problematisch ist in Hinblick auf die Singularität nicht der Vergleich, sondern die immer wieder mit dem Mittel des Vergleichs betriebene Relativierung. Die These, dass es irgendeine Tabuisierung des Vergleichs gäbe (so bekanntlich Rothberg und Zimmerer), ist vollkommen hanebüchen. Teile der Holocaustforschung machen nichts anderes als zu vergleichen und kommen dann schlussendlich zu der Konklusion, dass die Shoah präzedenzlos ist, was im Übrigen nicht bedeutet, dass sie sich nicht wiederholen könnte.



    Wenn nun eine Bande von Antisemiten, die in ihrer Charta von „unser[em] Kampf mit den Juden“ schwadroniert und „Die Protokolle der Weisen von Zion“ für eine zitierfähige Quelle hält, ein barbarisches Pogrom an Israelis anrichtet, dann drängt sich der Vergleich durchaus auf. Den kann man nämlich sehr wohl ziehen, ohne dabei die Verbrechen der Nationalsozialisten zu relativieren.

    • @Taugenichts:

      Weil ich eben gerade eben hier noch einen entsprechenden Kommentar geschrieben und ehrlich an Ihrer Meinung interessiert bin (nicht aus polemischen, sarkastischen Gründen): wie erklären Sie sich die systematische und ebenso wie der der europäischen Juden industriell erfolgte Vernichtung von Angehörigen der Sinti und Roma in deutschen Konzentrationslagern?



      Sie sprechen von Erlösungs-Antisemitismus, der Juden als “spaltendes” Element in einer sich als homogen verstehenden Volksgemeinschaft definiert. Dass eine solche Ideologie geradewegs in die zivilisatorische Sackgasse führt, dürfte allen klar sein, die bei Verstand sind und sich wenigstens einen Rest an Humanität erhalten haben.



      Aber gilt das nicht für alle - auch heutzutage - auftretenden Formen von menschenbezogenen Hass sowie die ihm zugrundeliegenden Ideologien wie Rassismus, Nationalismus, Faschismus?

      • @Abdurchdiemitte:

        Auf Sinti und Roma wird genau wie auf von Rassismus betroffene Menschen heruntergeblickt, sie werden in der Ideologie für minderwertig gehalten. Jüdinnen und Juden gelten hingegen im Antisemitismus als die Herrschenden, sie werden als Personifizierung bestimmter Strukturprinzipien kapitalistischer Herrschaft bekämpft.



        Darin liegt auch die Affinität der Linken zum Antisemitismus begründet: Rassismus und die meisten anderen Formen des Ressentiments werden sie auf der linken Seite des politischen Spektrums nur äußerst selten finden, Antisemitismus ist hingegen diejenige Form des Ressentiments, die sich auch Linke gestatten. Der „ehrbare Antisemit“ (Amery) hält sich für einen aufrechten Freiheitskämpfer. Hier würde ich Ihnen und Caspar Shaller entschieden widersprechen: es besteht im öffentlichen Diskurs gerade die überaus problematische Tendenz Antisemitismus auf ein genuin rechtes Phänomen zu reduzieren.



        Während auch von Rassismus betroffene Menschen als „spaltendes Element in der (Volks-)Gemeinschaft“ wahrgenommen werden, gelten sie nicht in dem gleichen Maße als Personifizierung der Verwerfungen der Moderne. Rassismus oder Antiziganismus können zur Vernichtung führen, Antisemitismus läuft seiner immanenten Logik entsprechend zwangsläufig auf die Vernichtung hinaus.



        Ich würde aber auch auf zentrale Unterschiede in der „Logik“ von Rassismus und Antiziganismus hinweisen. Etwa der Status der Sinti und Roma als „Volk ohne Nation“ hat Folgen für die spezifische Ausgestaltung des Ressentiments.

        • @Taugenichts:

          Da haben Sie die charakteristischen Merkmale eines linken Antisemitismus treffend herausgearbeitet, in dem Juden als „Herrschende“ markiert werden und somit für jene kapitalistischen Strukturprinzipien stehen, die bekämpft werden müssen.



          Die Zuordnung erfolgt in diesem Kontext eben nicht über biologistische Merkmale - wie im völkischen Antisemitismus - sondern unter dem Chiffre des Klassenkampfs. Zugleich ist diese Spielart sozusagen internationalistisch anschlussfähig und begründet somit die linke Unterstützung des palästinensischen Antizionismus, als Befreiungskampf einer unterdrückten Bevölkerung.



          Da passt es dann natürlich wunderbar ins Konzept, dass auch hier wieder mal Juden die „Unterdrücker“ resp. „Ausbeuter“ sind. Und warum es in diesem Kontext problematisch ist, von dem israelischen Besatzungsregime in Westjordanland als ein Apartheid-System zu sprechen, ungeachtet der tatsächlichen völkerrechtlichen Illegitimtät der Besetzung.



          Sofern ich Sie richtig verstanden habe, kann ich Ihnen auch folgen. Danke für Einsichten, die ich so einfach nicht auf dem Schirm hatte, da ich eher den entstehungsgeschichtlichen Zusammenhang des modernen völkischen Antisemitismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Blick hatte.



          August Bebel hatte allerdings recht, als er den Antisemitismus einst als den „Sozialismus der dummen Kerle“ bezeichnete. Vielleicht hat er schon geahnt, in welche ideologischen Richtungen dieser ursprüngliche, bei Adolf Stoecker noch bürgerliche, preußisch-protestantische Antisemitismus gehen, welche verhängnisvolle Dynamik er noch entwickeln würde.



          de.m.wikipedia.org/wiki/Adolf_Stoecker



          Hinsichtlich des Antiziganismus liegen Sie vermutlich auch richtig, wobei ich noch hervorheben würde, dass der prekäre Status als „Volk ohne Nation“ (zumindest in Zeiten vor der israelischen Staatsgründung) die Juden eher noch mit den Sinti und Roma verbunden hat, auch in den Negativ-Zuschreibungen durch die jeweiligen Mehrheitsgesellschaften.

  • In den Konzentrationslagern der Nazis wurden 11 Millionen Menschen ermordet.

    Vergleiche mit der Nazizeit und ihren Verbrechen sind regelmäßig verkehrt und nutzloses Futter für die Feuilletons.

    • @aujau:

      Nach meinem Verständnis geht es nicht um Vergleiche, sondern um Kontinuitäten, darum aufzuzeigen, dass Antisemitismus noch immer ein verbreitetes Problem ist dem man etwas entgegensetzen muss. Und das ist leider so richtig wie notwendig.

      • @Ingo Bernable:

        Das Aufzeigen des Problems Antisemitismus kann und muß auch ohne Vergleiche mit dem industriell organisierten Völkermord an Juden und Sinti und Roma sowie Massenmord an den anderen Opfergruppen möglich sein. Solche Vergleiche gehen wie auch der aktuelle regelmäßig daneben.

        • @aujau:

          Nun, dann sind wir uns ja einig.

  • Anstatt über das Flugblatt eines Jugendlichen in diesem Zusammenhang zu Philosophieren sollte mal darüber nachgedacht werden, was erwachsene Menschen in Artikel 7 der Gründungscharta der Hamas reinschreiben: ein Zitat eines Hadithe, aus dem antisemitischen Kern des Islam sozusagen: „ Die Stunde wird kommen, da die Muslime gegen die Juden solange kämpfen und sie töten, bis sich die Juden hinter Steinen und Bäumen verstecken. Doch die Bäume und Steine werden sprechen: „Oh Muslim, oh Diener Allahs, hier ist ein Jude, der sich hinter mir versteckt. Komm und töte ihn!“ Nur der Gharkad-Baum wird dies nicht tun, denn er ist ein Baum der Juden.“

    • @Arno Dittmer:

      "Zitat eines Hadithe, aus dem antisemitischen Kern des Islam sozusagen"

      NEIN. Das Sahlih Muslim ist nicht die Q-Quelle.



      Die Hadithe haben ungefähr den Status von frühchristlichen Antilegomena oder den halachischen Midraschim.

      Das Gharqad-Hadith ist Teil einer Bibelexegese Mohammeds ("Dajjal"-Predigt), die namentlich unter Berufung auf Huraira und ibn 'Umar in etlichen Hadith belegt ist, aber in der umfassendsten Version von ibn Majah überliefert wurde (sunnah.com/ibnmajah:4077).

      Der Prophet synthetisiert Offb. 14-16 und die "genea"-Passage der synoptischen Evangelien: Nachdem nachdem Jesus 2.0 auf dem höchsten Minarett von Damaskus(?) gelandet ist ("Und ich sah, und siehe, eine weiße Wolke. Und auf der Wolke saß einer, der gleich war einem Menschensohn; der hatte eine goldene Krone auf seinem Haupt und in seiner Hand eine scharfe Sichel.") interpretiert Mohammed Offb. 14 , 14-20, die "Kelter des Zorns Gottes" - Glory Glory Hallelujah -, als "Schlacht von Ludd/Lod", wo Jesus mit Unterstützung der letzten "Araber"/Muslime von Jerusalem die 70.000 apostatischen Juden des Dajjal/Drachen/Armilus (Offb. 12) besiegt.

      Die 144.000 untadeligen Juden (die "Ersterwählten") besetzen währenddessen mit der Armee des Lamm Gottes/des Mahdi den Berg Zion (Offb 14, 1-5).

      Dass Hamas von allen Hadith ausgerechnet dieses als fundamental ansieht, und die Kurzversion zitiert, sagt eigentlich alles. Analog sind die einschlägig bekannten dubiosen Torah-Exegesen über goyim, oder auch die unter deutschnationalen Christen seit langem beliebte antisemitische Hetzschrift Luthers - da weiß man ja auch direkt, mit was für Schweinepriestern man es zu tun hat.

      • @Ajuga:

        Danke, habe Ihren Kommentar jetzt erst gelesen. Sehr gut dargelegt. Ich zweifle nur daran, dass nihilistische, völkisch argumentierende Antisemiten an detaillierten theologischen Herleitungen ihrer menschenfeindlichen Ideologie sonderlich interessiert sind.



        Zumindest nicht diejenigen unter uns. Dass die Hamas spezielle Koran/Hadithe-Auslegungen benötigt, um ihren barbarischen Terror zu legitimieren, spricht natürlich nicht für sie und macht es auch nicht besser.

    • @Arno Dittmer:

      "Anstatt"



      Das würde ich für einen schweren Fehler halten. Nur weil der Antisemitismus in anderen Gesellschaften akut noch krasser und mörderischer ist als der der eigenen, sollte man diesen eben nicht einfach als irrelevant, entschuldbar oder verzeihliche Jugendsünden ignorieren. Und mit welcher Glaubwürdigkeit wollen sie den Vernichtungsphantasien der Hamas eigentlich noch entgegentreten wenn im eigenen Land Aussagen über Schornsteine in Auschwitz wieder zum Repertoire des Sagbaren werden?

      • @Ingo Bernable:

        Gehören ja nicht zum Repertoire des Sagbaren, das ist doch im bayrischen Wahlkampf deutlich geworden. Es gab keinen, der dies zum Sagbaren erklärt hat oder erklären würde noch wollte. Von daher bedeutet das Anstatt sich darauf zu konzentrieren was ist und das habe ich beschrieben. Die Muslimischen Verbände müssen sich offen mit ihrem religiösen Antisemitismus auseinander setzen, ansonsten ist der Konflikt nicht lösbar und Deutschland kann diese Menschen hier nicht weiter dulden.

  • Nein Herr Shaller, mindestens Ihrem letzten Satz muß ich deutlichst widersprechen:



    Von den genannten Bundesländern geht für die Juden und Jüdinnen hierzulande weniger Gefahr aus (vor allem von irgendwelchen Provinzpolitikern hier in Bayern) als z.B. aktuell von sich als links(!) verstehenden Organisationen in Berlin welche den Massenmord der Hamas mit dem Verteilen von Süßigkeiten feiern!

    • @Saile:

      Auszug aus der im Artikel zitierten BKA-Statistik: „Antisemitische Straftaten sind Teil der Hasskriminalität. Gegenüber dem Vorjahr ist im Phänomenbereich PMK -rechts- mit 1.898 Fällen im Jahr 2019, davon 62 Gewalttaten, ein Anstieg der antisemitisch motivierten Straftaten zu verzeichnen (2018: 1.603 Fälle). Damit sind die antisemitischen Straftaten nach wie vor weit überwiegend dem Phänomenbereich PMK -rechts- zuzuordnen (93,4 %).“

      Quelle:



      www.bka.de/DE/Unse...MKrechts_node.html

      Ihre Empörung über die geschilderten Bilder teile ich. Sie sollten uns nur nicht zu dem Fehlschluss verleiten, der hiesige Antisemitismus sei „importiert“, wie es auch die AfD immer wieder gerne versucht.

      • @Birgit Deter:

        Sie haben doch sicherlich die Statistik Diskussion mitbekommen. Der Antisemitismus der Zuwanderer wird in der Regel unter rechts zugeordnet.

        • @Arno Dittmer:

          Er IST ja auch rechts. Der moderne biologistische Antisemitismus steht in enger Verbindung und Wechselwirkung mit Nationalismus und weißer Suprematie sowie anderen Spielarten des Rassismus. Wenn DAS keine rechten Ideologien sind, dann weiß ich auch nicht.



          Natürlich gibt es eine noch längere Geschichte des religiösen Judenhasses, im Christentum wie im Islam. Kurioserweise aus den monotheistischen, abrahamitischen Religionen heraus, die dem Judentum am nächsten stehen.



          Der völkische Antisemitismus unserer Zeit konnte teils darauf aufbauen, die heutigen Antisemiten benötigen die religiöse Rechtfertigung allerdings überhaupt nicht, wie man an der NS-Rassenideologie erkennen kann. Bestenfalls liefert der NS eine pseudo-religiöse Begründung für seinen Rassenwahn, der während der Nazi-Herrschaft auch über Kreuz mit der christlichen Lehre der Kirchen geriet (Galater 3, 28).



          In den islamischen Ländern scheint der Antisemitismus - als israelbezogener, antizionistischer Antisemitismus - erst mit dem Aufkommen des modernen Nationalismus (als Gegenreaktion auf den westlichen Kolonialismus) virulent geworden zu sein.



          Wenn also im Zusammenhang von anti-israelischen Protesten in muslimisch-migrantischen Communities von “Antisemitismus-Import” gesprochen werden kann, dann doch wohl eher von der westlichen in die östliche Richtung.

  • Man könnte ja auch mal überlegen/fragen/ganz einfach nachlesen, was die hier angesprochenen Jüdinnen und Juden selbst zum Thema zu sagen haben. Klar, der Zentralrat spricht nur für alle von ihnen (insbesondere sehr linke, antizionistische Israelis in Berlin fühlen sich offenbar kaum repräsentiert). Aber: Josef Schuster, wie auch die Jüdische Allgemeine, sind tiefst erschüttert über die antisemitischen, islamistischen und islamo-relativierenden linken/postkolonialen/etc. pp. Hassveranstaltungen insbesondere in Berlin, die sich übrigens nicht mit der militärischen Antwort auf, sondern unmittelbar zu den ekelerregenden Hassverbrechen der Hamas und ihrer Fanboys vor einer Woche in Israel Bahn brachen. Ebenso, wie die JA und der Zentralrat zum gegebenen Zeitpunkt Aiwanger sowie die AFD scharf kritisiert haben. Das Reden über jüdische Stimmen hinweg und die Entschuldigung jener, die sie auslöschen möchten, die Unfähigkeit, Antisemitismus aus mehr als einer Richtung zu kritisieren - dies alles erscheint dann doch irgendwie besonders deutsch, Herr Schaller. Dass es im UK und in den USA gerade noch viel grausiger zugeht in Sachen Antisemitismus, ist da keine Entschuldigung.

    • @Jewels&Iron:

      Diese linken Israelis in Berlin sind nicht unbedingt antizionistisch, denn der klassische Zionismus gilt ja durchaus als ein linkes Projekt…es gibt allerdings antizionistische ultraorthodoxe Juden.

      • @Saile:

        Und - nebenbei - es gibt auch (jüdische) Kritik am Zionismus im Kontext von Ideologiekritik (s. Hannah Arendt), die nicht per se antizionistisch ist. Der „Drive“ scheint momentan nur in eine Richtung zu gehen, in der Differenzierung nicht mehr angesagt ist.