Globale Chemikalien-Konferenz in Bonn: Detox-Programm dringend gesucht
Ein globales Abkommen soll den Einsatz von Chemikalien sicherer für Mensch und Umwelt machen. Mehr als 100 Staaten verhandeln.
„Bei der Weltchemikalienkonferenz (ICCM) sollen Ziele, Maßnahmen und Verantwortlichkeiten vereinbart werden, um Chemikalien und den Umgang mit ihnen weltweit sicherer zu machen“, heißt es aus dem Umweltministerium. Das trage dazu bei, die Verschmutzungskrise zu bekämpfen und damit unsere Lebensgrundlagen zu sichern.
Weltweit werden derzeit etwa 350.000 verschiedene Chemikalien hergestellt. Sie machen Kunststoff weich und Holz widerstandsfähig, Dosen außen bunt und innen geschmacksneutral, Blusen bügelfrei und Schlafsäcke schwer entzündbar. Feuerwehrausrüstungen, Lebensmittel, Verpackungen, Autos, Flugzeuge – ohne Chemikalien ist unser Alltag nicht mehr vorstellbar.
Doch die praktischen Stoffe haben Nebenwirkungen. „In den letzten Jahren verzeichnen wir immer massivere Auswirkungen von Chemikalien auf die Umwelt, wobei sich Chemikalien nicht an Ländergrenzen halten“, sagt Stefan Hahn vom Fraunhofer-Institut für Toxikologie und Experimentelle Medizin in Hannover und Vorsitzender der Fachgruppe Umweltchemie der Gesellschaft Deutscher Chemiker, „ein globales Regime wie das ICCM kann dazu beitragen, die Emissionen zu reduzieren“.
Im Bonn wird es darum gehen, wie Chemikalien generell besser überwacht und geprüft werden können, bevor sie Schaden anrichten. Es werden aber auch bestimmte Stoffe und Stoffgruppen im Fokus stehen, etwa Blei, das in vielen Ländern der Welt noch verkauft werden darf und beispielsweise in Farben die Gesundheit der Bevölkerung bedroht.
Afrikanische Staaten fordern mehr Regulierung von Pestiziden
Auch Pestizide werden thematisiert; die Gruppe der afrikanischen Staaten schlägt vor, eine Allianz für hochgefährliche Pestizide zu gründen; sie soll Wege für eine nachhaltige Landwirtschaft und Lebensmittelproduktion ohne hochgefährliche Ackergifte finden. Ebenfalls breit diskutiert wird die Stoffgruppe der PFAS. Diese poly- und perfluorierten Chemikalien finden sich in zahlreichen Alltagsprodukten von Pizzakartons und beschichteten Gemüsedosen über Bratpfannen bis zu Regenjacken.
Inzwischen finden sich die Stoffe überall auf dem Globus, selbst in zivilisationsfernen Gebieten wie der Arktis. Schon lange verdichten sich die Hinweise darauf, dass PFAS zahlreiche Krankheiten auslösen können, etwa Krebs, Fortpflanzungsstörungen und Diabetes. In Europa warnen Ärzteverbände seit Jahren vor den Stoffen, die Unternehmen wehren sich bislang erfolgreich gegen eine weitgehende Regulierung.
Allerdings enden in Helsinki am Dienstag die monatelangen Konsultationen zu einem möglichen Verbot von PFAS. Seit März konnte die Öffentlichkeit ein Verbot der Chemikaliengruppe kommentieren. Nun will sich die EU-Chemikalienagentur Echa zu ihren nächsten Schritten äußern.
„Mit der Regulierung Reach haben wir zwar schon ein vergleichsweise gutes Chemikalienmanagement in Europa“, sagt der Chemiker Hahn, „aber auch wir können von den Fehlern der Vergangenheit lernen und zukünftig noch besser werden“. Als ein Beispiel für Verbesserungspotential nennt er eben die aktuelle Diskussion über das PFAS-Verbot.
Langlebigkeit von Chemikalien ist ein Problem
Der Umweltverband BUND weist in einem aktuellen Positionspapier zu einer nachhaltigen Chemikalien- und Stoffpolitik darauf hin, dass vor allem die Langlebigkeit – die Persistenz – vieler Chemikalien problematisch sei. Einmal in der Umwelt oder im Organismus verbleiben etwa PFAS dort für lange Zeiträume und reichern sich an.
„Und wer hätte gedacht, dass Mikroplastik im Körper Entzündungen verursachen kann“, sagt der Chemiker Markus Große Ophoff vom Arbeitskreis Umweltchemikalien im BUND. Jahrelang galt Mikroplastik als unschädlich und inaktiv, „heute wissen wir es besser, aber die Partikel sind in der Welt“. Der BUND fordert, das Vorsorgeprinzip umzusetzen und Chemikalien zu entwickeln, die sich nicht langlebig in der Umwelt anreichern – auch dies ein Thema in Bonn.
Kanzler lädt zum Chemiegipfel
Der Verband der Chemischen Industrie (VCI) allerdings guckt in dieser Woche weniger nach Helsinki und Bonn als nach Berlin. Dort lädt der Kanzler zu einem Chemiegipfel der anderen Art, bei dem es nicht um bessere Produkte, sondern günstigere Produktionsbedingungen geht.
Der VCI hofft beim Chemiegipfel im Bundeskanzleramt am 27. September auf ein klares Zeichen zur Lösung der aktuellen Chemiekrise. An dem Termin mit Bundeskanzler Scholz nehmen Repräsentantinnen und Repräsentanten von Politik, Industrie und Gewerkschaften teil.
VCI-Hauptgeschäftsführer Wolfgang Große Entrup warnte im Vorfeld, die Lage der Chemie in Deutschland spitze sich weiter zu, „und wir brauchen ein klares Commitment im Kampf gegen die akute Krise. Wir wollen gemeinsam mit der Bundesregierung kluge Lösungen finden“. Die hohen Energiekosten seien existenzgefährdend, aber auch die Mauern aus Bürokratie und Regulierung müssten endlich eingerissen werden.
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