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Um zehn Jahre gealtert fühlt sich Geertje, 47, nach ihrer Rückkehr Foto: privat

Wanderung durch GrönlandDie Eisbrecherin

Fast zwei Jahre lang hat Geertje Marquardt sich auf ihre Grönland-Expedition vorbereitet. Nun ist sie zurück. Mit Verletzungen, die noch heilen. Und Erfahrungen, die sie selbst noch nicht fassen kann.

B is zum Horizont ist alles weiß. Und manchmal darüber hinaus. Dann weißt du nicht mehr, wo die Erde aufhört und der Himmel anfängt. Du kämpfst dich durch dieses Weiß, schläfst jede Nacht kaum mehr als fünf Stunden. Das Eis lässt dich Jahre altern, vor Erschöpfung frieren.

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Und in dem Moment, in dem du glaubst, du hast es gleich geschafft, Grönland tatsächlich durchquert, in dem Moment steht alles auf der Kippe. Musst du kurz vor Schluss doch noch den Rettungshubschrauber rufen? Obwohl du an alles gedacht, Monate trainiert hast? Und selbst wenn du es schaffst, tatsächlich schaffst, hat sich das alles hier wirklich gelohnt?

Himmel und Hölle

Am 15. April bricht Geertje Marquardt in Grönlands Osten auf, um das Inlandeis zu durchqueren, die zweitgrößte Eisfläche der Welt. 560 Kilometer Strecke, auf Skiern. Mehr als einen Monat wird es dauern, bis sie wieder den Rand des mächtigen Eisschilds sieht, auf dem sie sich täglich bis zu 12 Stunden voranschiebt.

Das grönländische Eis

Das Land Die größte Insel der Welt (sechsmal so groß wie Deutschland) grenzt im Norden an den Arktischen Ozean und ist ein selbstverwalteter Teil Dänemarks. Die knapp 60.000 Einwohner*innen leben nur an den Küsten.

Das Eis Das Inlandeis liegt wie ein Schild auf Grönland und ist mit 1,7 Million Quadratkilometern nach der Antarktis die zweitgrößte permanent vereiste Fläche der Welt. Falls es komplett abschmilzt, wird der Meeresspiegel weltweit um 7 Meter ansteigen.

Der Klimawandel Tatsächlich verliert das Inlandeis seit der Jahrtausendwende immer schneller an Masse. In den letzten Sommern wurden wiederholt Temperaturrekorde gemessen, auch direkt auf dem Inlandeis.

Ich kenne Geertje schon länger, habe die Eiskünstlerin und Abenteurerin in den Monaten vor der Abreise begleitet, um zu fassen, was sie antreibt. Einen Tag bevor die Expedition beginnt, für die sie fast zwei Jahre hart trainiert, Geld gespart und den ersten Kredit ihres Lebens aufgenommen hat, erscheint der Artikel in der taz.

Jetzt ist Geertje zurück, einen Monat nach ihrer Heimkehr treffen wir uns das erste Mal wieder. Ich brauche einen kurzen Moment, um die beiden Personen zusammenzubringen – Geertje davor und Geertje danach. Sie sieht ausgezehrt aus, die aufgesprungene Lippe heilt noch, tiefe Falten im sonnenverbrannten Gesicht. „10 Jahre älter, ich weiß“, sagt sie lachend.

Wir essen eine ganze Schokolade, während sie von Grönland erzählt. Die Geschichte ihrer Expedition besteht da noch aus Fragmenten. „Zu viele Emotionen“, sagt sie. Wenn die Leute auf der Straße fragen, wie es war, sagt Geertje: „‚Himmel und Hölle‘, das habe ich mir vorher so zurechtgelegt.“ Es gibt keine kurze Version dieser komplexen Erfahrung. Anfang September hält Geertje den ersten größeren Vortrag über ihr Abenteuer, es kommen vor allem Freund*innen. Ihre linke Hand ist da immer noch taub, von der monotonen Bewegung im Schnee.

Am Anfang, erzählt Geertje, hat es sich angefühlt wie eine ganz normale Urlaubsreise. Nur eine große Reisetasche hat sie am Ostersonntag in Potsdam gepackt, bei strahlendem Sonnenschein und 14 Grad im Schatten. Den Großteil der Ausrüstung – die zwei Schlitten, Isomatten und Schlafsäcke, Schneeschaufel, Steigeisen, 30 Kilo Essen und Brennstoff – hatte sie schon im Januar in großen Kisten nach Grönland geschickt. Am Abend verabschiedet sie sich von den zwei Kindern und ihrem Mann. Ein letztes Zweifeln, kann ich hier jetzt wirklich weg?

Als sich Geertje am Morgen des Ostermontags aus dem Haus schleicht, schlafen die anderen noch. Sie trägt die Hose, die sie die ganze Reise tragen wird – jedes Gramm will wohlüberlegt sein, wenn du es einen Monat im Schlitten hinter dir herziehen musst.

Wer nach Grönland fliegen will, musst erst nach Dänemark oder Island. Geertje trifft in Kopenhagen auf den Rest des kleinen Teams, mit dem sie sich seit Monaten vorbereitet hat: eine Frau aus der Schweiz und ein Mann vom Bodensee, der die Expedition leiten wird. Sie nehmen einen letzten Drink an der dänischen Hotelbar, verbringen dann noch zwei Tage in Grönlands Hauptstadt Nuuk. So richtig los geht die Expedition aber erst in Tasilaq, Ostgrönland. Bei einer Legende.

Tasilaq ist ein kleiner Ort mit bunten Holzhäusern, in dem die Winter so hart sind, wie wir es uns in Mitteleuropa nicht vorstellen können. Und in den ab dem Frühjahr Extremreisende pilgern. Hier lebt Robert Peroni, eine Ikone der Abenteurerszene. 1983 hat der gebürtige Südtiroler das grönländische Inlandeis an seiner breitesten Stelle durchquert, ein Weltrekord, den er bis heute hält.

Ihr erster Schuss – auf ein Pappwildschwein

Inzwischen ist er fast 80 und betreibt seit drei Jahrzehnten mit einheimischen Inuit das Hotel Redhouse in Tasilaq, in dem fast alle Grönlandexpeditionen beginnen oder enden. Es heißt, Peroni, der Extremsportler, habe ans Ende der Welt gehen müssen, um sich selbst und seinen Frieden zu finden.

Auch für Geertje und die anderen beiden wird das Redhouse zum Basecamp. Die Expeditionssaison hat Mitte April gerade erst begonnen. Sonst ist es zu gefährlich da draußen auf dem Eis, und zu kalt.

Von Peroni lässt sich Geertje noch einmal erklären, wie man einen Eisbären mit einem Schuss über den Kopf verschreckt. Mit einer Waffe, die man hier einfach ausleihen kann wie in Deutschland Skier oder Paddelboote. Daheim in Potsdam, im März, stand Geertje am Schießstand und hat das erste Mal überhaupt geschossen, auf ein Pappwildschwein in 50 Metern Entfernung. „Das geht durch und durch.“ Hier in Tasilaq, am Rand des Inlandeises, haben Einheimische tatsächlich in den Tagen zuvor Eisbären gesichtet.

Auf der Terrasse vom Redhouse packen die drei die Kunststoffschlitten, von denen jeder zwei hinter sich herziehen wird. Am Himmel erscheinen noch einmal die schönsten Nordlichter und Geer­tje telefoniert ein letztes Mal mit Deutschland. Dann kommt ein Hubschrauber und setzt sie auf dem Rand des Inlandeises ab. Es ist ein sonniger Nachmittag. Der Hubschrauber wird kleiner und kleiner, das Geräusch der Rotoren verstummt. Die Zivilisation ist verschwunden.

An die Stille gewöhnen

Und dann läufst du rein in diese Welt, in der der Horizont weiß ist. In der die Monotonie Schönheit und Zumutung zugleich ist. Du läufst bis zu 12 Stunden am Tag. Jeden Tag, außer wenn der Sturm dich ins Zelt zwingt und es umbraust, als wäre da draußen nichts anderes mehr außer Schnee. Es gibt die Momente großen Staunens, über das Glitzern dieser unendlichen weißen Fläche, über den leuchtenden Ring um die Sonne, den man nur in der Eiswelt sehen kann. Öfter noch gibt es die Momente, in denen für jedes Staunen die Kraft fehlt.

„Am Anfang hatte ich so ein Fiepen im Ohr“, erzählt Geertje. Eine Woche dauert es, bis sich das Gehirn daran gewöhnt, dass es die meiste Zeit still ist. Keine Maschinen, Motoren, Straßenbahnen, Schlagen von Türen, Stimmengewirr. Kein Rauschen von Bäumen, kein Knistern von Blättern, kein Vogelzwitschern. Keine ferne Autobahn knapp über der Wahrnehmungsschwelle. Hier auf dem Inlandeis ist nur der Wind und der Schnee, der die eigenen Schritte verschluckt.

Die drei steigen auf die Skier und laufen los, nach GPS-Daten vergangener Expeditionen. Wer vorn läuft, hat den Kompass vor die Brust geschnallt, um die Richtung zu halten. Was du lernst in Grönland: Norden ist nicht gleich Norden. Je näher an den Polen, desto mehr zeigt die Kompassnadel auf den magnetischen Nordpol, nicht auf den geografischen. Missweisend nennen das die Geograf*innen.

„Beim Losgehen hat man das erste Mal so richtig das Gewicht der Schlitten gespürt“, sagt Geertje. In Potsdam hat sie Autoreifen durch den Wald gezerrt, um zu trainieren. Das war schwer genug. Hier auf dem Inlandeis geht es leicht bergauf. So wenig, dass du es nicht siehst. So viel, dass die Schlitten, die in einem Geschirr an Geertjes Hüften und Schultern hängen, nach hinten zerren. Das ist kein Gleiten über den Schnee, mehr ein Stapfen.

Ski, eat, sleep, repeat

Geertje fällt zurück. Die Schwächste in der Gruppe zu sein, war schon in der Vorbereitung ein großes Thema. Die anderen beiden sind erfahren in schweren Bergtouren, auf Skiern. Geertje hat in den vergangenen anderthalb Jahren versucht, sich an sie heranzutrainieren. Der Expeditionsleiter übernimmt den schweren Benzinkanister, den sie sich in Tasilaq noch auf den Schlitten geladen hatte, dann wird es leichter. Vier Kilometer schaffen sie an diesem ersten Tag. Alle kämpfen mit der Anstrengung. Dass irgendwann Geertje immer schneller wird, ahnt da noch niemand.

Die Gleichförmigkeit der Tage beginnt: „Ski, eat, sleep, repeat.“ 4.30 Uhr aufstehen. Trinkwasser zubereiten: Wenn du einen Topf voll Schnee schmilzt, bleibt darin nur eine Pfütze. Das Wasser fürs Frühstück, für die Thermoskannen, für das Abendessen zu schmelzen, dauert allein 2 Stunden pro Tag. Zum Frühstück gibt es Müsli mit Milchpulver, Erdnussbutter, Kakao oder Blaubeersuppe. Dann das Zelt zusammenbauen, Schlitten packen.

Gegen 7 Uhr brechen sie auf. In den ersten Tagen mit der Waffe um die Schulter. Eine Stunde laufen, dann ein Schluck aus der Thermoskanne mit Gemüsebrühe oder süßem Tee, ein Haferflockenriegel. Weiter. Wieder eine Stunde, wieder eine Pause. Wieder eine Stunde, wieder eine Pause. Sechs bis zwölf Etappen am Tag.

Und was siehst du, wenn du läufst? Abstufungen von Weiß, Schneeformationen, Lichtreflexe am Himmel. Manchmal überall nur Weiß, das sogenannte Whiteout, bei dem diffuses Sonnenlicht alle Kontraste und den Horizont verschluckt. „Die Schönheit der Monotonie“ hat es Wilfried Korth genannt, ein Potsdamer Polarforscher, mit dem Geertje eigentlich nach Grönland reisen wollte und der 2019 kurz vor der damals geplanten Tour verunglückte.

Tosende Stürme

Jeden Abend bauen sie gegen 19 Uhr die zwei Zelte auf, eins für die beiden Frauen, eines für den Mann. In den ersten Nächten umspannt eine dünne Schnur das Camp, die bei Berührung einen schrillen Alarm auslöst. Doch es kommt kein Eisbär, nicht einmal Spuren sind zu sehen. Eine Sorge, die in den Hintergrund tritt.

Je nach Wettervorhersage schaufeln die Reisenden eine Schneemauer um die Zelte als Windschutz, heben im Vorzelt einen Graben aus, um beim Kochen gut sitzen zu können. Es sind Stunden schwerer Arbeit, die am Tag darauf der Wind verwehen wird.

Es gibt ein Video, das Geertje aus dem halb geöffneten Zelt aufnimmt und das erahnen lässt, was ein Sturm auf dem flachen Eisschild bedeutet. Es braust und zerrt am doppelten Zeltgestänge. Die Schlitten sind so eingeschneit, dass sie am Morgen kaum zu finden sind. An manchen Tagen erzwingt so ein Sturm einen Ruhetag für die kleine Expedition.

Keinem einzigen Lebewesen begegnen die drei in den ersten Wochen. Theoretisch kommt ihnen eine Frauenexpedition entgegen. „Berechne mal mit dem Satz des Pythagoras, wie weit man hier schauen kann“, schreibt Geertje in einer der kurzen Nachrichten, die sie via Satellit nach Hause schicken kann. Es sind kaum 5 Kilometer, rechnet die 16-jährige Tochter daheim in Potsdam aus.

Die beiden Gruppen begegnen sich nicht. Nur ein kleiner Vogel verirrt sich irgendwann in das Camp der drei. Vielleicht ein Polarfink. Wahrscheinlich hat ihn der Wind hierhergetragen. Er inspiziert die bunte Ausrüstung, bevor er wieder im Weiß verschwindet.

Eingeschneit: Manchmal erzwingt ein Sturm einen Ruhetag für die kleine Expedition Foto: Geertje Marquardt

Nach 20 Tagen erreichen Geertje und die anderen den höchsten Punkt ihrer Reise. 2.500 Meter über dem Meeresspiegel. Es wird eine der schwersten und kältesten Etappen.

Du kennst diese Kälte, davor hast du keine Angst. Aber dann sitzt du da, nachts um 10, am Rande deiner Isomatte, völlig erschöpft. Und dieser verdammte Kocher, den du schon ein Dutzend Mal auseinander und wieder zusammengefummelt hast, funktioniert nicht. Eigentlich willst du nur in den Schlafsack, aber du musst vernünftig sein, alles auf die Reihe kriegen, was du für den nächsten Tag brauchst. Den Kocher reparieren, Schnee schmelzen. Mit diesen zerschundenen, aufgeplatzten Fingern.

„Mama, du bist eine starke Frau und ein Vorbild“

Die Tochter hat der Mutter einen Kalender aus zusammengefalteten kleinen Zetteln mit auf die Reise gegeben, für jeden Tag der Expedition einen. Geertje öffnet sie am Morgen und schreibt die Sprüche in ihr Tagebuch. „Mama, du bist eine starke Frau und ein Vorbild“, steht auf einem. Am Abend notiert Geertje daneben: „Ich schaffe es vor Erschöpfung kaum in meinen Schlafsack.“

Die Nacht auf 2.500 Meter Höhe, mit dem kaputten Kocher, physisch und mental verausgabt, bei minus 33 Grad, „das war eine Situation, die so hart ist, das konnte ich mir vorher nicht vorstellen“, erzählt Geertje. „Das war das einzige Mal, das ich gefroren habe, vor Erschöpfung.“

Die Expedition zehrt an den Kräften aller. Immer die kurzen Nächte, weil das Tagespensum sonst nicht zu schaffen ist. Die Kälte greift die Haut im Gesicht und an den Fingern an. Zwei von ihnen laufen sich einen Wolf, offene Stellen zwischen den Oberschenkeln. Hier auf dem Eis heilt nichts, die Wunden werden sie alle mit nach Hause nehmen.

Und der Hunger. Zu Hause kommt Geertje auf 2.500 Kalorien am Tag, hier schaufelt sie 4.500 in sich hinein. Mit Riegeln, Maltodextrin, Schokolade, Nüssen, hochkalorischer Expeditionsnahrung, Pudding zum Dessert. „Aber du kannst nicht so viel essen, wie du verbrauchst, du hast immer Hunger.“ Bis zu 10 Kilo werden sie am Ende alle abgenommen haben.

Sie fühlt sich „wie beschenkt“

Auch den Monstern des Inlandeises ist Geertje begegnet. Alle sind übermüdet, die Probleme mit der Ausrüstung, die Wunden, unterschiedliche Vorstellungen von Gemeinschaft, die Monotonie der Landschaft – Es gibt in diesen Wochen nur diese drei Menschen auf dem Inlandeis, kaum Ablenkung, kein aus dem Weg gehen. „Vielleicht ist es besser, sich noch intensiver zu kennen, bevor man auf so eine extreme Tour geht“, sagt Geer­tje heute.

Bei ihr kommt irgendwann der Punkt, „da habe ich mich reintrainiert. Obwohl mein Freund Wilfried immer gesagt hat, ab 30 geht das nicht mehr.“ Geertje ist 47. Und muss sich plötzlich bremsen, wenn sie vorne läuft – damit die anderen noch hinterherkommen.

„Die Faszination, dass der Körper und der Geist das mitmachen, ist eine der größten Belohnungen. Dass durch Training und Lebenserfahrung so etwas möglich ist“, sagt Geertje. Und dass die Schönheit dadurch viel tiefer wird. Die in Schnee gepressten Verwehungen, das Licht, die Stille. „Das habe ich noch nie irgendwo so erlebt, ich fühlte mich jeden Tag beschenkt.“

Es ist eine Schönheit im Kleinen, im Reduzierten. Ein Mittagsschlaf im Biwaksack auf dem Schnee, im Windschutz des Schlittens. Die Sonne scheint gedämpft durch den Stoff. „So muss es sich im Mutterleib anfühlen“, sagt Geertje. „Ich hätte nie gedacht, dass mir ein Mittagsschlaf im Eis so viel Freude machen kann.“

Sie schaffen um die 30 Kilometer am Tag. Die Expedition neigt sich dem Ende zu. Genau wie das Essen und der Brennstoff. Und dann kommt Tag 33.

Das ist der letzte Tag, so weit bist du schon gelaufen. Bald wieder Land, nach 33 Tagen auf diesem Meer aus Eis und Schnee. Irgendwo dort drüben wartet einer mit heißem Kaffee und Sandwiches und einem Fahrzeug, in dem es warm wird. Es sind doch nur noch diese paar Schritte, noch ein bisschen Kraft … Und dann bricht das Eis.

Es gab Ereignisse auf dieser Expedition, die hätten den Abbruch bedeuten können. Die Probleme mit dem Brennstoff und den Kochern. Der Husten, der eine der Mitreisenden plagt und sie tagelang schwächt. „Wenn einer abbricht, hätten wir bei so einer kleinen Gruppe alle abbrechen müssen. Ich finde das auch richtig so, für die Gruppe wäre alles andere schlecht“, sagt Geertje.

So muss es sich im Mutterleib anfühlen. Ich hätte nie gedacht, dass mir ein Mittagsschlaf im Eis so viel Freude machen kann

Abbrechen, das bedeutet: Den Rettungshubschrauber rufen. Es nicht bis zum Ende schaffen. „Klar gab es das Ziel, das zu schaffen. Aber für mich war die Expedition im Geiste immer erfolgreich, auch wenn wir vor dem Ende des Eisrandes hätten aufhören müssen.“

An Tag 33 sieht es so aus, als liegen diese Überlegungen hinter ihnen. Es ist Mitte Mai und inzwischen geht die Sonne über dem Inlandeis gar nicht mehr unter. Es gibt die Vereinbarung, dass sie abends um 22 Uhr an einem festen Punkt von einem Gletscherfahrzeug abgeholt werden.

Der letzte Tag bricht an

4.30 Uhr aufstehen, ein letztes Mal Schnee schmelzen, frühstücken, die Thermoskannen für den Tag vorbereiten. Ein winziger Rest Brennstoff bleibt noch übrig. Ein letztes Mal das Camp zusammenpacken und auf die Schlitten laden. Geer­tje hat inzwischen rund 30 Kilo weniger zu schleppen, so viel ist an Brennstoff und Essen verbraucht. Ein letztes Mal Aufbrechen auf dem Eisschild. Die letzten 20 Kilometer. Das muss zu schaffen sein.

Die Landschaft verändert sich. Meterhoch ist der Schnee aufgeworfen und bildet ein dichtes Labyrinth. Blankeis wird sichtbar, das magischerweise vom gleichen tiefen Blau ist wie das Meer der Karibik. Endlich etwas Abwechslung fürs Auge und mehr als einfach nur geradeaus gehen. Aber das Durchnavigieren kostet Zeit, immer wieder steigt der Leiter der Expedition auf einen der Hügel, um zu sehen, ob sie auf dem richtigen Weg sind.

Gegen 20 Uhr gehen ihnen die Reserven aus, kein Tee mehr in den Thermoskannen. Es wird klar: Bis 22 Uhr werden sie es nicht schaffen. Die Firma, die den Fahrer schickt, ist nicht zu erreichen. Das Gelände wird noch unübersichtlicher. Immer wieder müssen sie die Skier abschnallen und die Schlitten einzeln über die Hügel heben. „Die Kraft ging mir aus und da war so eine Hoffnungslosigkeit.“

Dann endlich wird es flach, gegen 22 Uhr verlassen sie das unwegsame Gelände. Hoffentlich wartet der Fahrer noch ein bisschen. Da blitzt es aus der dunklen Moränenlandschaft vor ihnen hell auf. Der Fahrer sendet Lichtsignale – hier müsst ihr lang.

Vor ihnen liegt nun nur noch diese zugeschneite Ebene mit einigen Bachläufen. Kurz vor Mitternacht sind es keine 100 Meter mehr, bis sie das feste Land erreicht haben werden. Endlich wieder einen Stein anfassen.

Die Kraft war aufgebraucht

Dann bricht Geertjes Mitreisende ein. Sekunden später auch der Mann. Bis zur Brust versinken sie in dem See, der unter dünnem Eis und Schnee verborgen lag. Der Mann kommt selbst wieder raus. Bei der Frau bricht immer wieder der Eisrand weg, bis Geertje ihr einen Ski reicht. Beide sind klatschnass, der Schock steht allen im Gesicht. Es droht Unterkühlung. „Es hätte passieren können, dass wir da noch den Helikopter hätten rufen müssen“, sagt Geertje.

Aber das realisieren sie erst viel später. Erst mal weiter, in Bewegung bleiben. Um Mitternacht kommen sie bei dem Fahrer an. Keine Zeit für Euphorie. Bevor sie sich trockene Sachen anziehen, endlich in den Truck mit der Heizung setzen, muss all die Last auf den Schlitten noch einzeln über den kleinen Berg zum Fahrzeug gewuchtet werden.

Um 3 Uhr nachts sitzen sie im Auto. Auf dem Weg zurück in die Zivilisation hält der Fahrer immer wieder an. Rechts und links ziehen Moschusochsen und Rentiere durch die Landschaft Westgrönlands. So viel Leben nach all dieser Kargheit. „Das war in dem Moment verschenkt“, sagt ­Geertje. Es gibt nur ein verschwommenes Foto aus dem Autofenster. Die Kraft war aufgebraucht.

Schnee, Schnee und Schnee: Muss man bis ans Ende der Welt gehen, um sich selbst zu finden? Foto: Geertje Marquardt

Was ist der Lohn? Für zwei Jahre Schinderei, Tausende Euros, so viele Gedanken, all die Gefahr. Lässt sich das überhaupt aufwiegen?

Warme Dusche und Süßspeisen am Hotelbuffet

Um 5 fallen sie in die Hotelbetten in Kangerlussuaq. Nach mehr als 24 Stunden auf den Beinen. „Aber wir mussten keinen Schnee mehr schmelzen.“ Geertje lacht. „Und dann lagen wir in diesen weißen Bettlaken und mussten uns immer wieder versichern, dass das alles, die ganze Expedition wirklich passiert ist.“ Wieder und wieder erzählen sie sich einzelne Situationen. „Ich konnte gar nicht glauben, dass ich das am Ende noch geschafft habe“, sagt Geertje.

Am Morgen folgen: die erste warme Dusche, Rührei, Sandwiches und dänische Süßspeisen am Hotelbuffet. Vom Frühstücksraum ruft ­Geertje ihre Familie an, mit Video, alle brechen in Tränen aus. Die Tochter erzählt später, dass es gut war, schon mal zu sehen, wie ihre Mutter jetzt aussah. „Das hat uns auf das Wiedersehen am Flughafen vorbereitet.“ Als Geertje wieder zu Hause ist, sagt die Tochter, „hatte sie endlich mal weniger Hummeln im Hintern“.

Im September, nach mehr als drei Monaten, sind noch nicht alle Wunden verheilt. Auch wenn Geertje äußerlich wieder aussieht wie vor der Expedition. „Das war keine ‚schöne Reise‘, das wäre viel zu simpel. Das war schmerzvoll und auch wundervoll.“ Zwei Jahre hat Geertje der Expedition bisher gewidmet und sie nimmt noch immer viel Raum ein – Geertje hält Vorträge, plant eine Ausstellung. „Vorbei ist es noch nicht.“

Diese extreme Reise über Grönlands Inlandeis wollte Geertje unbedingt wagen, bevor sie 50 ist. „Weil ich keine Frauen zwischen 50 und 60 Jahren kenne, die so was machen können“, hatte sie im März gesagt. Jetzt schüttelt sie den Kopf. „Auf so eine Tour kann ich mich auch wieder vorbereiten.“ Vielleicht ist es diese Selbstgewissheit, für die Geertje Marquardt 560 Kilometer übers ewige Eis gehen musste.

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20 Kommentare

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  • So sehr der schöne Bericht die once-in-a-lifetime Erfahrung beleuchtet, so sehr es der Reisenden zu gönnen ist, so wenig passt es in die heutige Zeit, mit täglichen Berichten über Klimakatastrophen, Überschreitung von planetaren Grenzen etc.



    Klar, eine Einzelne macht es nicht, aber wer will die Grenzen für andere, für alle, setzen?

  • Eine grandiose Reise. Toll. Reisen bildet - alle Sinne. Natürlich war das letzten Endes nur fürs private Vergnügen, auch wenn sie nun hinterher darüber berichtet, Lesungen hält und "uns allen" somit die Chance bietet daran teilhaben zu können. Die Frage nach der Ressourcenverschwendung ist müßig - es war ein Lebenstraum von ihr, das wird im Text mehr als deutlich. Das Leben kann nicht nur aus Rationalität bestehen.



    "Diese extreme Reise über Grönlands Inlandeis wollte Geertje unbedingt wagen, bevor sie 50 ist. „Weil ich keine Frauen zwischen 50 und 60 Jahren kenne, die so was machen können“, hatte sie im März gesagt. Jetzt schüttelt sie den Kopf. „Auf so eine Tour kann ich mich auch wieder vorbereiten.“"



    Frei nach Else Lasker-Schüler - der Mensch, das sonderbare Wesen, mit den Füßen im Schlamm, mit dem Kopf in den Sternen. Ich freue mich auf die nächste Reise von Geertje - per aspera ad astra.

  • So einen Ego-Trip muss man nicht machen. Aber erst recht sollte man darüber nicht berichten. Sowas zieht unweigerlich weitere zerstörerische (schnell kommerzialisierte) Aktivitäten nach sich. Der Himalaya ist inzwischen praktisch zugeschissen.

  • Vielleicht erahnen wir durch Geertje Marquardts Abenteuer was uns verloren geht?!

  • schön

    • @Fabian Lenné:

      Sehe ich auch so. Was wäre das Leben ohne Träume? Fad

  • Wieso wird hier sowas klimaschädliches abgefeiert? Ein individualistisches Ich-erfülle-meinen-Traum ohne gesellschaftlichen Nutzen. Egoismus pur…

    • @YeahYeah:

      OMG – kannst du dich eigentlich noch über die Leistungen anderer Menschen freuen?

    • @YeahYeah:

      Die Frage, warum hat sich mir auch gestellt. Mich haben Menschen aber auch schon gefragt, warum ich Marathons laufe.



      Die Reise von Geertje Marquardt jetzt aber als klimaschädlichen Egoismus zu bezeichnen, halte ich für arg übertrieben. Klar, die Expedition hat einen CO2-Abdruck, wie das ganze Leben jedes Menschen.



      Als Trump von Washington mit seiner Entourage in einer 747 nach Florida zum Golfspielen geflogen ist, dann würde ich das eher als klimaschädlichen Egoismus bezeichnen.

      • @Stefan L.:

        Dann ist ja alles gut.



        Kreuzfahrten, Flugreisen und SUVs sind wieder kein Problem.



        Es gibt ja jemanden der noch klimaschädlicher war.

        • @fly:

          "Kreuzfahrten, Flugreisen und SUVs sind wieder kein Problem."



          Wo habe ich das geschrieben? Die Expedition war höchstwarscheinlich eine einmalige Veranstaltung, die haben in der Eiswüste gezeltet und sich mit Skiern fortbewegt. Der einzig CO2-relevante Vorgang waren innereuropäische Flüge, die täglich zu Hunderten stattfinden. Daraus jetzt lautstark und empört klimaschädlichen Egoismus zu konstruieren, ist mehr als lächerlich.

      • @Stefan L.:

        Natürlich verursacht Trump viel mehr Schaden, aber in einem Medium, das das Luftrauslassen an SUVs feiert, sollte sowas dann auch keinen Platz haben. Neoliberale Bedürfnisbefriedigung par excellence, ohne Rücksicht auf Natur und Umwelt. Wenn das jede(r) machen würde.

        • @YeahYeah:

          Das sehe ich allerdings genau so !

  • Danke für den wundervollen Artikel.

  • Ein interessanter Artikel. Aber mich läßt er doch eher ratlos zurück. Ich frage mich: "Warum? Wozu?". Was rechtfertigt diesen Verbrauch an Ressourcen und die Gefahr für sich und Dritte? Vielleicht müßte/sollte ich Bewunderung fühlen.



    Es ist aber eher Verwunderung bzw. Unverständnis.

    • 6G
      6028 (Profil gelöscht)
      @So oder so oder anders:

      Seitdem Gott tot ist müssen wir den Sinn des Lebens selbst suchen.



      Ich strample mich ab, also bin ich.

      • @6028 (Profil gelöscht):

        Die Erkenntnis, dass ich bin , ist nicht zwingend die Erklärung für den Sinn des Lebens. Oder ? ;-)



        Um Todesangst zu erfahren, gibt es auch klimaschonendere und sinnvollere Tätigkeiten. Sogar hierzulande.



        Mir kommt der Verdacht, dass der Artikel über diese "Heldinnentat" mindestens genauso fragwürdig ist.

  • Ja, aber !



    2023 / Klima kippt / Tod überall



    Selbsterfahrung um jeden Preis ?



    Was beweist dies Tun ?



    Wozu diese selbstbezogene Quälerei ?



    Hätte man mit dieser Kraft nicht besser etwas Sinnvolles vollbracht ?



    Bestimmt.

    • @Zebulon:

      Was ist das Leben denn sonst außer Selbsterfahrung?

      Und was ist schon für wen wann sinnvoll?

    • @Zebulon:

      ... und was "sinnvoll" ist, bestimmen diejenigen, die es an ihrem Schreibtisch besser wissen? Wieviel Energie hat denn dein (und mein) Post verbraucht? Schau mal hier nach: www.futura-science...druck-e-mail_8484/