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Verkehrswende am ArbeitsplatzEin paar Fahrradbügel reichen nicht

Wenn der Umstieg vom Auto aufs Rad gelingen soll, muss sich die Mode ändern – und das Büro. Denn wo soll man sich umziehen, wenn alles verglast ist?

Und wo ziehe ich mich jetzt um? Foto: imago

L etztens stand ich mal wieder schwitzend hinter meinem Schreibtisch im Großraumbüro, trug untenrum nur meine Unterhose und dachte: Hoffentlich kommt jetzt niemand rein.

Es geht hier nicht um Anzügliches, auch nicht um MeToo-Vorwürfe am Arbeitsplatz, sondern um das würdelose Leben als Radfahrer und Büromensch. Und wie immer in dieser Kolumne letztlich um handfeste materielle Fragen. Dieses Mal: um feine Stoffe, aber auch um Stahl und Glas.

Es ist nämlich nicht meine Schuld, dass ich hier so halbnackt herumstehe und gleich morgens meine Restwürde verliere. Denn Achtung, steile These: Wenn das mit der Verkehrswende gelingen soll, muss sich auch die Mode verändern – und die Büros.

Wie immer mehr Menschen fahre ich mit dem Fahrrad zur Arbeit. Und da ich bei einer topseriösen Firma des deutschen Mittelstands arbeite, also bei der taz, will ich bei der Arbeit auch topseriös aussehen und nicht komplett verschwitzt in den Tag starten. Deswegen ziehe ich mich häufig bei der Arbeit um, zu meinem Wohl und dem Wohl meiner KollegInnen.

Seriöses Timbre funktioniert nicht in kurzen Hosen

Das Umziehen hat aber nicht nur hygienische und olfaktorische Gründe, sondern auch modische. Denn die Modeindustrie hat meinen täglichen Recherchen zufolge die Verkehrswende bisher komplett verschlafen. Männerhosen, vor allem Anzughosen aus feinem Stoff, aber auch ganz normale Chinos, sind einfach nicht für den Fahrradsattel gewebt. Weswegen alle früher oder später im Schritt oder am Hintern aufreißen.

Wenn diese Kolumne also jemand aus der Modeindustrie liest: Bitte entwickelt modische Hosen für das Büro, die der Extrembelastung des Alltags (20 Kilometer täglich auf einem Fahrradsattel) standhalten. Es ist eine Marktlücke, die immer größer wird, je mehr Menschen mit dem Fahrrad zur Arbeit fahren. Früher sind Anzughosenträger vielleicht ausschließlich im Dienstwagen oder im äußersten Notfall mit der Bahn ins Büro gefahren. Aber wer sich umschaut auf deutschen Straßen, weiß, dass die sozialökologische Führungskraft von heute Rad fährt.

Bis sich die Modeindustrie auf die veränderte Mobilität eingestellt hat, wird allerdings noch mindestens eine Fashion Week vergehen. Deshalb trage ich auf dem Arbeitsweg mittlerweile Hosen, um die es nicht so schade ist, die aber für meinen topseriösen Job ungeeignet sind. In eine kurze Fußballhose gekleidet fällt es mir beispielsweise schwer, mit seriösem Timbre in der Stimme bei der Pressestelle eines Bundesministeriums anzurufen, ohne mich wie ein Hochstapler zu fühlen.

Meine zweite Forderung richtet sich deshalb an die Arbeitgeber dieses Landes und an ihre Architekten. Denn wo soll man sich umziehen, wenn man in einem verglasten Großraumbüro arbeitet? Schauen Sie sich um in den modernen Büros der Gegenwart! Selbst die Einzelkabinen und Besprechungszimmer sind verglast, nirgendwo soll der Büroarbeiter Privatsphäre haben und heimlich durch seine Urlaubsfotos wischen.

wochentaz

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Selbst die Toiletten, die einzigen nicht verglasten Räume, sind so schmal geschnitten, dass man sich dort nicht umdrehen, geschweige denn umziehen kann. Ablagen gibt es auch nicht, wenn man seine Klamotten nicht ins Waschbecken oder aufs Pissoir legen möchte.

Liebe Arbeitgeber, es reicht nicht, ein paar Fahrradbügel vorm Büro aufzustellen und sich modern zu fühlen! Wer die Verkehrswende in seinem eigenen Betrieb fördern will, wer sportlich ausgelastete und letztlich gesunde Arbeiter will, um aus ihnen noch ein bisschen mehr Mehrwert zu pressen, der sollte ihnen Umkleidekabinen und Duschen stellen.

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Kersten Augustin
Ressortleiter Inland
Kersten Augustin leitet das innenpolitische Ressort der taz. Geboren 1988 in Hamburg. Er studierte in Berlin, Jerusalem und Ramallah und wurde an der Deutschen Journalistenschule (DJS) in München ausgebildet. 2015 wurde er Redakteur der taz.am wochenende. 2022 wurde er stellvertretender Ressortleiter der neu gegründeten wochentaz und leitete das Politikteam der Wochenzeitung. In der wochentaz schreibt er die Kolumne „Materie“. Seine Recherchen wurden mit dem Otto-Brenner-Preis, dem Langem Atem und dem Wächterpreis der Tagespresse ausgezeichnet.
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14 Kommentare

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  • Klamotten aus Merinowolle können auch vorteilhaft gegen Stinkeschweiß sein.

    Und darüber ist für sportlich ambitionierte Radfahrer natürlich nur hoch atmungsaktive Wetterschutzkleidung tragbar.

    Kostet natürlich und die Wasserschutzausrüstung ist nicht immer umweltfreundlich. Doch immer noch billiger und umweltfreundlicher als Auto fahr'n.

  • Sehr richtig! Auch wenn man sich mit Regenhose und Schuhüberziehern gegen nasses Laub schützen kann und mit dem E-Bike auch nicht zwingend verschwitzt ankommt, braucht man doch einen Raum, um sich entzwiebeln zu können.

  • Volle Zustimmung! Wer auch über Feldwege, bei Regen oder feuchtem Laub fährt, muss sich umziehen, weil das Beinkleid verstaubt oder gesprenkelt ist. Und wer längere Strecken hat, wird zügig fahren, um die Pendelzeit in Grenzen zu halten - folglich ins Schwitzen kommen. Wobei frischer Schweiß nicht riecht, wie Sportlerinnen wissen.

  • Wie wäre es mit einem anderen Sattel. Statt der supersportlichen Variante gibt es vollgepolsterte Gelvarianten. Wenn man dann mit einer entsprechend herunterreduzierten Geschwindigkeit radelt, dann löst sich auch das olfakorische Problem.

    Und ganz ungeachtet der Tatsache, dass ich weder mit dem Rad zur Arbeit fahre, noch im Glashaus arbeite haben mich alle Kollegen bereits in Unterwäsche gesehen. Wir leben in Berlin. Der Anblick eines Kollegen ohne Hose ist wohl kaum ein Thema.

  • "Denn wo soll man sich umziehen, wenn alles verglast ist?"



    Auf der Toilette. Noch ne Frage?

    • @Encantado:

      Artikel zu Ende lesen:



      "Selbst die Toiletten, die einzigen nicht verglasten Räume, sind so schmal geschnitten, dass man sich dort nicht umdrehen, geschweige denn umziehen kann. Ablagen gibt es auch nicht, wenn man seine Klamotten nicht ins Waschbecken oder aufs Pissoir legen möchte."

  • Es gibt sehr gute, nachhaltig produzierte und langlebige Radhosen von VauDe:

    www.vaude.com/de/d.../fahrradhosen.html

    Natürlich auch für Damen:

    www.vaude.com/de/d.../fahrradhosen.html

  • Es gibt sehr wohl modische/seriöse Hosen, die das Fahrradfahren überstehen.

    Zum Beispiel die Technical Trousers der Marke Rapha, die auf Mode für Fahrradfahrer spezialisiert ist. Schützt vor leichtem Regen, hat genug Stretch, geht aber aus ganz normale Hose für den (Büro-)Alltag durch.

  • Was für eine Jammerei. Ein zweiter Satz Klamotten am Arbeitsplatz und wo ist das Problem?

    • @Tom Lehner:

      Naja olfaktorische Gründe wurden ja angesprochen. Wer 20 Kilometer Fahrrad fährt, der riecht eben nach Schweiß. Möglichkeiten sich frisch zu machen sind aber sehr selten gegeben, auch bei den größten Arbeitgebern. Gleichzeitig habe ich es schon erlebt, dass Arbeitgeber dann riesige Parkhäuser haben, die halb leer stehen. Auf der einen Seite ein Überangebot, auf der anderen Seite ein Nachfrageüberhang wenn man so will.

    • @Tom Lehner:

      Der Kommentar tendiert schon in Richtung Arroganz, es sei denn Sie fahren langsamer als sie gehen. Fahrradfahren kann schon mal schweißtreibend sein.

      Man braucht neben den Klamotten nämlich auch noch eine Dusche und Möglichkeiten zum Umziehen. Und auch noch einen Föhn. Und diese Infrastruktur ist in den wenigsten Büros in Deutschland vorhanden.

      • @Jens Barth:

        Ich denke das TAZ Gebäude ist nicht so alt. Sozialräume gehören zum Standard. Eigentlich.

  • Gibt es in dem seriösen Mittelstandsunternehmen, der TAZ, keine interne Kommunikationsstruktur? Die TAZ mit flachen Hierachien, Diskussionen auf Augenhöhe, mit höchstem Umweltbewusstsein, hat für den Neubau keine Duschen oder Umkleideräume mit Spinden und Trockengebläse für die nassen Schuhe eingeplant?



    Welch Versäumnis! Emailt der Geschäftsführung!

    • @fly:

      Wenn's denn ein rein TAZ-spezifisches Problem wäre ...